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10.01.2013

Wochenbett heute - im Spannungsfeld von Ökonomisierung, Effizienz und Gesundheitsförderung

Fachtagung vom 28.11.2012

Petra Hofrichter, Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit Hamburg
Simone Wurtzel, Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V.

Schlagwörter:Eltern, Empowerment, Fachtagung, Familie, Gesundheitswesen, Schwangerschaft, Ökonomisierung

Über 80 Ak­teu­rin­nen und Akteure nahmen an der Kooperationsveranstaltung der Zielpatenschaft Still­för­derung der Hamburgischen Ar­beits­ge­mein­schaft für Ge­sund­heits­för­de­rung e.V. (HAG) in Zu­sam­men­ar­beit mit dem Regionalen Kno­ten der HAG und mit Un­ter­stüt­zung der Behörde für Ge­sund­heit und Verbraucherschutz (BGV) teil. Die Fachtagung hatte zum Ziel, allen Professionen aus Kli­nik und Pra­xis, die rund um die Ge­burt ei­nes Kindes tä­tig sind, einen berufsgruppenübergreifenden Aus­tausch zum The­ma „Wo­chen­bett heute - im Span­nungs­feld von Ökonomisierung, Ef­fi­zi­enz und Ge­sund­heits­för­de­rung“ zu er­mög­li­chen.

Der An­fang des Lebens ist ein besonderer Mo­ment und hat es verdient, mit ge­nü­gend Muße er­lebt zu wer­den. Die Aus­wir­kung­en des gesellschaftlichen Wandels mit dem Ökonomisierungsprozess in der gesundheitlichen Versorgung, al­so auch in den Geburtskliniken, ge­ben An­lass zur Dis­kus­si­on:

Werden Mütter und Neu­ge­bo­re­ne heute weniger gut betreut?

Der Ti­tel des Vortrages von Dr. Bern­hard Braun (Zen­trum für So­zi­al­po­li­tik der Uni­ver­si­tät Bre­men) war auch Pro­gramm: „Der Pa­ti­ent/die Pa­ti­en­tin steht im Mit­tel­punkt! Aber allen und Allem im Wege. Ge­sund­heit­liche Versorgung zwi­schen Ökonomisierung und Qualitätssi­cherung.“ Dr. Braun stellte dar, dass die Öko­no­mi­sie­rung nicht der sparsame Um­gang mit knappen Mit­teln oder das Vermeiden von Verschwendung, son­dern vielmehr ei­ne Um­kehr von Zweck und Mit­tel im Gesund­heits­wesen sei: Geld werde nicht mehr da­zu benötigt, um Pa­ti­enten zu versorgen, son­dern es wer­den (mehr) Pa­ti­enten ge­braucht, mit deren tatsächlichen oder vermeintlichen Er­kran­kung­en Geld verdient wer­den kann. Die­je­nigen Pa­ti­enten, Krank­heit­en oder Leis­tung­en, mit de­nen dies nicht oder nicht si­cher der Fall ist, wer­den nachrangig oder gar nicht versorgt bzw. erbracht.

Dr. Braun führte wei­ter aus, dass zur Ökonomisierung al­so durch­aus das Nebeneinander von Ver­schwen­dung von Gel­dern für nutzlose Leis­tung­en als auch die Ra­ti­o­nie­rung von notwendigen Leis­tung­en we­gen der Nichtfinanzierbarkeit oder zu geringer Rentabilität gehören. Was sind die Fol­gen?

Ge­sun­de wer­den zu „noch nicht kran­ken“ Risikopatientinnen und -patienten und Leis­tung­en, die we­nig Geld in die Kas­sen brin­gen, wie ei­ne lange „natürliche“ Ge­burt, wer­den we­nig ren­ta­bel. Dieses Miss­ver­hält­nis zeigt sich in der gesundheitlichen Versorgung von wer­denden Müttern: ca. 70% aller Schwangerschaften in Deutsch­land wer­den als Risikoschwangerschaften eingestuft, „et­wa weil diese ökonomisch-lukrative Be­hand­lung­en mit sich brin­gen?“

„Ge­sund­heitswirtschaft wird zum Wirt­schafts­zweig, wo Ge­sund­heit keine Rol­le mehr spielt. Aber: es gibt Spielraum für Veränderungen!“, fasste Dr. Braun zu­sam­men und ermunterte die Teilnehmenden, ihren Spielraum zu su­chen und zu nut­zen.

„Das Wo­chen­bett als In­ves­ti­ti­on?“ lautete die Fra­ge, an der sich der Bei­trag von PD Dr. Arne Man­zesch­ke, Lei­ter der Fachstelle für Ethik und An­th­ro­po­lo­gie im Ge­sund­heits­we­sen vom In­sti­tut Technik-Theologie-Naturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­chen, orientierte.

Dr. Manzeschke beschrieb die Do­mi­nanz der Ökonomisierung in der Ge­burts­hil­fe aus der ethischen Per­spek­ti­ve: „Die kurze Verweildauer in Krankenhäusern nach der Ge­burt führt zu dem klassischen Di­lem­ma der sozialen Herausforderung. Eltern, die tat­säch­lich Hilfe benötigen, wer­den weniger erreicht, zu spät erkannt.“ Alle Eltern müs­sen mehr über mögliche Hilfsangebote auf­ge­klärt und befähigt wer­den, selbstständig über die In­an­spruch­nah­me von Leis­tung­en ent­schei­den zu kön­nen.

„Kann man in die­ser Si­tu­a­ti­on intelligente Lö­sung­en im Klei­nen er­ar­bei­ten?“, fragte Dr. Manzeschke zum Ab­schluss sei­nes Beitrages und lieferte auch gleich ei­ne Antwortmöglichkeit: ein ers­ter Schritt sei, die Dis­kus­si­on pu­blik zu ma­chen und ei­ne gemeinsame Lernkultur zu ent­wi­ckeln.

Fishbowlrunde

Diese An­re­gung griffen die Akteure aus dem ambulanten und sta­tionären Be­reich in der darauffolgenden Fishbowldiskussion auf. Gemeinsam mit den Teilnehmenden gab es einen regen Aus­tausch über die alltägliche Arbeitspraxis und die Zu­sam­men­ar­beit der verschiedenen Professionen aus Kli­nik und Pra­xis.

Zu den Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten der Fishbowlrunde gehörten die leitende Ober­ärz­tin Ti­na Ca­den­bach-Blome (Ama­lie Sieveking Kran­ken­haus), Sil­ke Koppermann (niedergelassene Gy­nä­ko­lo­gin), Car­men Canales und Hannah Sawallich (Pro­jekt Babylotse im Ka­tho­li­schen Marienkrankenhaus), Su­san­ne Lohmann (He­bam­men­verband Hamburg) und Dr. med. Ste­fan Renz (Berufsverband der Kinder- und Ju­gend­ärzte).

Nachdem In­put über die Aus­wir­kung­en des Öko­no­mi­sie­rungs­pro­zes­ses auf das Wo­chen­bett, stand die Fra­ge im Raum, wie die Akteure der medizinischen Versorgung rund um die Ge­burt hierauf an­ge­mes­sen re­a­gie­ren kön­nen? Welche Mög­lich­keit­en gibt es?

Folgende Anregungen wurden im Fishbowl benannt:

  • Wo­chen­bett wie­der als Wo­chen­bett zu verstehen (nach der Ge­burt sich selbst als Eltern und dem Kind mehr Zeit zum „Kennenlernen“ ge­ben, um zur Ru­he zu kom­men, um sich auf das neue „Aben­teu­er“ einzulassen).
  • Wieder mehr „Normales“ in den Fa­mi­lien se­hen und för­dern (nicht jede Problemsituation bedarf einer The­ra­pie).
  • Nicht nur die medizinische professionelle Versorgung sei wich­tig, son­dern auch Hilfestellungen zur Be­wäl­ti­gung des Alltags durch Laien: Freunde, Fa­mi­lie, Nachbarn.
  • Mehr Ab­spra­che zwi­schen Ge­burts­hel­fe­rin­nen, Kinderärztinnen und Kinderärzten und Hebammen.
  • Vernetzung von ambulanten und stationären Hilfsangeboten, da­mit jede Schwan­ge­re bzw. Mut­ter, die Hilfe erhält, die sie braucht.
  • Empowerment und Selbstwirksamkeit der schwangeren Frauen und Mütter und ihrem sozialen Um­feld stär­ken (Be­stär­kung in der Mut­terrolle zum sicheren Um­gang mit dem Neu­ge­bo­re­nen).

Die Vertreterinnen von „See You - Babylotse“ betrachteten ihre Ar­beit als ei­ne gute Über­gangs­gestaltung zwi­schen stationären und ambulanten Hilfsstrukturen: „Wir su­chen für Fa­mi­lien mit psy­cho­so­zia­len Be­las­tung­en passgenaue An­ge­bo­te aus dem Stadt­teil heraus. Wir sind die von Dr. Man­zesch­ke angesprochene klei­ne, intelligente Lö­sung für die be­son­ders vulnerablen Ziel­grup­pen rund um die Ge­burt und im ersten Le­bens­jahr ei­nes Kindes.“

Bei den Zu­kunftsvorstellungen zum Wo­chen­bett 2030 waren sich al­le Be­tei­lig­ten ei­nig:
Das Ziel des Wo­chen­betts der Zu­kunft sind zufriedene, selbstbewusste und gut informierte Mütter und Väter so­wie gut versorgte Neu­ge­bo­re­ne.

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