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Glos­sar zur Ge­sund­heits­för­de­rung mit Geflüchteten

Abgrenzung und Emp­feh­lung­en zur Verwendung von Begriffen und Konzepten

1. Migrantinnen und Migranten

Mi­gra­ti­on gewinnt im Zuge der globalen Veränderungen im Be­reich Global Health zunehmend an Be­deu­tung [1] und geht ins­be­son­de­re im Be­reich der Ge­sund­heits­för­de­rung mit besonderen An­for­de­rung­en einher [2].

Definition Migrationshintergrund

In der Um­gangs­spra­che fin­den sich häufig die Begriffe Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der, Migrantinnen und Migranten oder Menschen mit Mi­gra­ti­onshintergrund bzw. Mi­gra­ti­ons-/Zuwanderungsgeschichte. Obwohl oft sy­no­nym verwendet, ist da­mit nicht im­mer das Glei­che ge­meint. Das Statistische Bun­des­amt hält fest, dass ei­ne Person mit Mi­gra­ti­onshintergrund als solche definiert wird, „[…] wenn sie selbst oder min­des­tens ein El­tern­teil nicht mit deutscher Staats­an­ge­hö­rig­keit ge­bo­ren ist." [3] Dazu zäh­len laut dem Bun­des­amt für Mi­gra­ti­on und Flüchtlinge (BAMF) folgende Personengruppen:

  1. Zugewanderte und nicht zugewanderte Aus­län­der;
  2. Zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte;
  3. (Spät-)Aus­sied­ler;
  4. mit deutscher Staats­an­ge­hö­rig­keit ge­bo­rene Nachkommen der drei zu­vor genannten Grup­pen [3].

Da geflüchtete Personen häufig im Fo­kus ste­hen, gilt es zu be­ach­ten, dass diese le­dig­lich ei­ne Teilgruppe der Grup­pe von Menschen mit Mi­gra­ti­onshintergrund bil­den.

2. Flüchtlinge oder Geflüchtete

Rund um das Themengebiet Flucht sind verschiedene Begrifflichkeiten verbreitet. Einige Begriffe, wie bei­spiels­wei­se Geflüchtete, Flüchtling oder Asyl­be­wer­berin und Asyl­be­wer­ber, wer­den sy­no­nym verwendet, um­schrei­ben je­doch unterschiedliche rechtliche Sta­tus.

2.1 Flüchtling

„Auf Ba­sis der Gen­fer Flüchtlingskonvention gel­ten Menschen als Flüchtlinge, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren auf­grund ihrer

  • Ras­se (der Be­griff "Ras­se" wird in An­leh­nung an den Vertragstext der Gen­fer Flüchtlingskonvention verwendet),
  • Nationalität,
  • politischen Über­zeu­gung,
  • religiösen Grundentscheidung oder
  • Zugehörigkeit zu ei­ner bestimmten sozialen Grup­pe (als bestimmte soziale Grup­pe kann auch ei­ne Grup­pe gel­ten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ori­en­tie­rung gründet)

au­ßer­halb ihres Herkunftslands be­fin­den und die den Schutz ihres Herkunftslands nicht in An­spruch neh­men kön­nen oder auf­grund der begründeten Furcht nicht in An­spruch neh­men wol­len.

Beispiele für Handlungen, die als Verfolgung gel­ten kön­nen, sind:

  • An­wen­dung physischer oder psychischer Ge­walt, ein­schließ­lich sexueller Ge­walt,
  • gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maß­nah­men, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Wei­se an­ge­wandt wer­den,
  • unverhältnismäßige oder diskriminierende Straf­ver­fol­gung oder Be­stra­fung,
  • Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Er­geb­nis ei­ner unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Be­stra­fung,
  • Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit an­knüp­fen oder ge­gen Kinder gerichtet sind.“ [4]

Das Suf­fix „-ling“ wird teils als kleinmachend oder abwertend empfunden. Dies beruht auch auf sei­ner häufigen Funk­ti­on der Verklei­nerung (Diminutiv). Die Wer­tung des Suf­fixes ist je­doch eher ab­hän­gig von der Sprachsensibilität des Einzelnen [5]. So gibt es so­wohl ne­ga­tiv konnotierte Wörter mit der En­dung „-ling“ (z.B. „Schrei­ber­ling“, „Wüst­ling“ etc.) als auch neutrale bis positiv besetzte Wörter („Lieb­ling“).

Ein weiterer Kritikpunkt an der Be­zeich­nung „Flüchtling“ ist, dass diese sich nicht gendern lässt. Bei der Verwendung von „Geflüchtete“ wird au­ßer­dem durch die Ab­lei­tung vom Par­ti­zip „geflüchtet“ ein potenzielles En­de der Flucht angedeutet. Der Sta­tus „Flüchtling“ hinge­gen scheint aus sprachlicher Sicht auf unbegrenzte Zeit angelegt bzw. nicht endlich [6].
Darüber hinaus gibt es weitere sprachliche Al­ter­na­ti­ven wie „Menschen mit Fluchthintergrund“, „Menschen mit Fluchtgeschichte oder Fluchterfahrung“. Vorteil an die­ser Wort­wahl ist, dass die Menschen an sich im Vordergrund ste­hen und nicht die oft stigmatisierende Ei­gen­schaft des Geflüchtetseins.

Ähnliche Diskussionen gab es bei­spiels­wei­se rund um die Themenfelder Be­hin­de­rung oder Mi­gra­ti­on. Hier wurden Al­ter­na­ti­ven wie „Menschen mit Be­hin­de­rung“/„Menschen mit Be­ein­träch­ti­gung­en“ (al­ter­na­tiv zu „behinderte Menschen“) und „Menschen mit Mi­gra­ti­onsgeschichte“ (al­ter­na­tiv zu „Migrantinnen und Migranten“) ge­wählt, wel­che sich größ­ten­teils etabliert haben.
Ein Nach­teil bei der Wahl solcher sprachlichen Al­ter­na­ti­ven bildet bei der An­wen­dung die Län­ge der Kon­struk­ti­on. Auch besteht nicht im­mer Kon­sens da­rü­ber, wel­che For­mu­lie­rung (Ad­jek­tiv oder Nominalisierung) am wenigsten stigmatisierend wirkt.

2.2 Geflüchtete

Der Be­griff „Geflüchtete“ wird als Alternativbegriff für „Flüchtlinge“ verwendet. Da es kein juristischer Be­griff ist, fallen un­ter „Geflüchtete“ auch Menschen, die keinen offiziellen Flüchtlingsstatus haben. Häufig wird der Be­griff „Geflüchtete“ als Al­ter­na­ti­ve für sprachliche Problematiken des Worts „Flüchtling“ verwendet (s.o.).

!! Grundsätzlich kann das Wort „Geflüchtete“ im alltäglichen Ge­brauch verwendet wer­den. Um je­doch bestimmte rechtliche Sta­tus zu be­to­nen, kön­nen die spezifischeren Be­griffe wie zum Bei­spiel „Asyl­be­wer­berinnen und Asyl­be­wer­ber“ oder „Menschen mit einer Dul­dung“ eingesetzt wer­den.

2.3 Asylbewerberinnen und Asylbewerber, Asylsuchende

Begrifflichkeiten wie „Asyl­be­wer­berinnen und Asyl­be­wer­ber“ oder „Asylsuchende“ wer­den häufig sy­no­nym zum Wort „Flüchtling“ verwendet. Hier handelt es sich je­doch um rechtliche Begriffe, die aus­drü­cken, dass Geflüchtete sich im Asylverfahren be­fin­den, al­so einen An­trag auf An­er­ken­nung als po­li­tisch Verfolgte gestellt haben. Dementsprechend sa­gen die Begriffe et­was über den rechtlichen Sta­tus der Person und ih­re da­mit einhergehenden möglichen Ansprüche z.B. hinsichtlich gesundheitlicher Leis­tung­en aus [7].

2.4 Asylberechtigung

„Asylberechtigt und dem­nach po­li­tisch verfolgt sind Menschen, die im Fal­le der Rück­kehr in ihr Herkunftsland ei­ner schwer­wie­genden Men­schen­rechts­ver­let­zung ausgesetzt sein wer­den, auf­grund ihrer

  • Ras­se (der Be­griff "Ras­se" wird in An­leh­nung an den Vertragstext der Gen­fer Flüchtlingskonvention verwendet),
  • Nationalität,
  • po­li­tischen Über­zeu­gung,
  • religiösen Grundentscheidung oder
  • Zugehörigkeit zu ei­ner bestimmten sozialen Grup­pe (als bestimmte soziale Grup­pe kann auch ei­ne Grup­pe gel­ten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ori­en­tie­rung gründet),

oh­ne ei­ne Fluchtalternative in­ner­halb des Herkunftslandes oder anderweitigen Schutz vor Verfolgung zu haben.
Nicht jede negative staatliche Maß­nah­me - selbst, wenn sie an ei­nes der genannten persönlichen Merkmale anknüpft - stellt ei­ne asylrelevante Verfolgung dar. Es muss sich vielmehr ei­ner­seits um ei­ne gezielte Rechtsgutverletzung handeln, an­de­rer­seits muss sie in ihrer In­ten­si­tät da­rauf gerichtet sein, die Be­trof­fe­nen aus der Ge­mein­schaft auszugrenzen. Schließlich muss es sich um ei­ne Maß­nah­me handeln, die so schwer­wie­gend ist, dass sie die Men­schen­wür­de verletzt und über das hinausgeht, was die Be­woh­ne­rin­nen und Be­woh­ner des jeweiligen Staates an­sons­ten all­ge­mein hinzunehmen haben.

Berücksichtigt wird grund­sätz­lich nur staatliche Verfolgung, al­so Verfolgung, die vom Staat ausgeht. Aus­nah­men gel­ten, wenn die nichtstaatliche Verfolgung dem Staat zuzurechnen ist oder die nichtstaatliche Verfolgung selbst an die Stel­le des Staates getreten ist (quasistaatliche Verfolgung).

Notsituationen wie Ar­mut, Bürgerkriege, Na­tur­ka­ta­stro­phen oder Per­spek­tiv­lo­sig­keit sind da­mit als Gründe für ei­ne Asylgewährung ge­mäß Ar­ti­kel 16a GG grund­sätz­lich aus­ge­schlos­sen.“ [8]

2.5 Subsidiärer Schutz

„Der subsidiäre Schutz greift ein, wenn we­der der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt wer­den kön­nen und im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht.
Subsidiär schutzberechtigt sind Menschen, die stichhaltige Gründe da­für vorbringen, dass ih­nen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht und sie den Schutz ihres Herkunftslands nicht in An­spruch neh­men kön­nen oder we­gen der Be­dro­hung nicht in An­spruch neh­men wol­len. Ein ernsthafter Schaden kann so­wohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteuren aus­ge­hen.
Als ernsthafter Schaden gilt:

  • die Verhängung oder Vollstreckung der To­des­stra­fe,
  • Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Be­hand­lung oder Be­stra­fung oder
  • eine ernsthafte individuelle Be­dro­hung des Lebens oder der Un­ver­sehrt­heit einer Zi­vil­per­son in­fol­ge willkürlicher Ge­walt im Rahmen ei­nes internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“ [9]

2.6 Menschen oh­ne Papiere, Menschen oh­ne Aufenthaltsstatus, ir­re­gu­läre oder il­le­galisierte Migrantinnen und Migranten

Diese Wort­grup­pe beschreibt Menschen, die sich aus aufenthaltsrechtlicher Sicht il­le­gal in ei­nem Land auf­hal­ten. Ir­re­gu­lä­re Migrantinnen und Migranten sind Personen, die oh­ne ei­ne Er­laub­nis, z.B. Visum, in ein Land eingereist sind oder länger in ei­nem Land blei­ben, als ih­re ursprüngliche Er­laub­nis es vorsieht. Dies betrifft im Rahmen der Europäischen Uni­on sogenannte Drittstatten. „In Deutsch­land und in der Begriffswahl der Europäischen Uni­on bezeichnet man sie auch oft­mals als ‚il­le­gale Einwanderer‘, im Fran­zö­si­schen spricht man von den ‚Sans Papiers‘ (‚oh­ne Papiere‘).“ [10] Die Zuschreibung „il­le­gal“ wird häufig problematisiert, da sie Assoziationen zu „kri­mi­nell“ weckt [11].
Der Sta­tus „ir­re­gu­lär“ enthält hingegen ei­nen zeitlichen Fak­tor. So kön­nen sich z.B. durch die Änderungen von Gesetzen oder durch Erlässe Änderungen er­ge­ben, die da­zu füh­ren, dass ei­ne Person ei­nen regulären Aufenthaltsstatus erhält oder ihn verliert.
Hiervon sind auch abgelehnte Asylbewerberinnen und -bewerber be­trof­fen. Aufgrund ih­res rechtlichen Sta­tus haben sie eingeschränkte Ansprüche auf die Ge­wäh­rung sozialer Leis­tung­en und gesundheitlicher Versorgung [11, 12, 13].

2.7 Besonders schutzbedürftige Gruppen

Im Dis­kurs zum The­ma Geflüchtete wird häufig von sogenannten „be­son­ders schutzbedürftigen Grup­pen“ gesprochen. Laut der EU-Aufnahmerichtlinie von 2013 besteht ins­be­son­de­re für diese Personengruppen ein erhöhter Schutzbedarf:

  • (unbegleitete) minderjährige Flüchtlinge
  • Menschen mit Behinderungen
  • Menschen mit schweren körperlichen oder psychischen Erkrankungen
  • Schwangere und Allei­nerziehende mit minderjährigen Kindern
  • Überlebende von Men­schen­han­del, Fol­ter, Vergewaltigung und allen anderen Formen physischer, psychischer und sexualisierter Ge­walt

Die EU-Mitgliedstaaten sind durch die o.g. Richt­li­nie verpflichtet, die speziellen Bedürfnisse die­ser vulnerablen Grup­pen im Asylverfahren, in der Un­ter­brin­gung etc. zu be­rück­sich­ti­gen. Dazu gehört zu­nächst auch die Feststellung, ob besondere Bedürfnisse vorliegen [14]. Die EU-Aufnahmerichtlinie trat im Ju­li 2013 in Kraft, den Mitgliedsstaaten wurde ei­ne Umsetzungsfrist von zwei Jahren gewährt. Diese ist im Ju­li 2015 abgelaufen und aus Sicht der Europäischen Kom­mis­si­on in Deutsch­land je­doch nicht an­ge­mes­sen erfüllt worden. Die Kom­mis­si­on leitete ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Die EU-Richt­li­nie ist wei­ter­hin nicht ex­pli­zit ins Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) aufgenommen worden.
Allerdings wer­den laut AsylbLG § 6, Abs. 2: „Personen, die ei­ne Aufenthaltserlaubnis ge­mäß § 24 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes be­sit­zen und die besondere Bedürfnisse haben, wie bei­spiels­wei­se unbegleitete Min­der­jäh­ri­ge oder Personen, die Fol­ter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Ge­walt erlitten haben, (…) die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt.“
Eine systematische bundesweite Er­fas­sung von be­son­ders Schutzbedürftigen findet in Deutsch­land der­zeit nicht statt und wird durch die Bun­des­re­gie­rung nicht als not­wen­dig betrachtet. Sie verweist hier auf die Zu­stän­dig­keit der Bundesländer. Bezogen auf die gestellten Asylanträge lag bspw. der An­teil von minderjährigen Flüchtlingen 2016 bei 36,2 Pro­zent [15, 16].

!! Die Bedürfnisse von be­son­ders schutzbedürftigen Geflüchteten sollten ge­ra­de in Be­zug auf An­ge­bo­te der Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on verstärkt berücksichtigt wer­den.

3. Kultursensibilität, Interkulturalität und Transkulturalität

3.1 Kul­tur und Kul­tursensibilität

„Kul­tursen­si­bel“ ist ei­ne Be­grifflichkeit, die bis­her be­son­ders in Ar­beitsfeldern wie der Patientenversorgung (vor allem der Pfle­ge und Al­ten­hil­fe), der Psychologie oder der sozialen Ar­beit verwendet wird.
Genauere, auch wissenschaftliche Be­griffsdefinitionen sind da­bei schwer zu fin­den. So müsste zu­nächst definiert wer­den, was ge­nau un­ter dem Be­griff „Kul­tur“ verstanden wird, auf die bezogen man sich sen­si­bel verhalten sollte. Grundsätzlich gibt es ei­ne Vielzahl an un­terschiedlichen Definitionen und Verständnissen von Kul­tur.
Diese rei­chen von normativen bis zu bedeutungs- und wissensorientierten Ansätzen. Häufig wird „Kul­tur“ als Ober­be­griff genutzt, der Aspekte wie Herkunft, Mut­ter­spra­che und Re­li­gi­on umfasst [17]. Beiträge zur Kul­tursensibilität in Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung fin­den sich bei der Bun­des­zen­tra­le für ge­sund­heit­liche Auf­klä­rung (BZgA) [18], ei­ne ausführlichere Herleitung in Betsch et al. [19].
Im Zusammenhang einer im Jahr 2017 durchgeführten Literatur- und Datenbankrecherche zu Ge­sund­heits­för­de­rungs- und Prä­ven­ti­onsansätzen bei Menschen mit Migrationshintergrund und Aus­wer­tung der vorliegenden Evidenz fand auch ei­ne Be­fra­gung von neun Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten mit und oh­ne Migrationshintergrund aus Wis­sen­schaft und Pra­xis statt [20]. Dabei wurden u.a. die Be­griffe „Kul­tursensibilität“, „Migrationssensibilität“ und „so­zi­o­kul­tu­relle Sen­si­bi­li­tät“ exploriert. „Kul­tursensibilität“ wurde kri­tisch betrachtet, weil die­ser Be­griff ein starres und vereinheitlichendes Verständnis der Kul­tur ei­ner Bevölkerungsgruppe nahelege. Die Be­griffe migrations- und so­zi­o­kul­tu­rell sen­si­bel wer­den hier bevorzugt. „Migrationssensibilität“ berücksichtigt Migrationsfaktoren wie Sprachkompetenzen, Herkunftsregion, Migrationsmotive und -umstände oder Auf­ent­halts­dau­er und -status.

3.2 Soziokulturelle Sen­si­bi­li­tät

„Soziokulturelle Sen­si­bi­li­tät“ wird als noch wei­ter gehend verstanden. Die­ser Be­griff umfasst auch die Unterschiede zwi­schen so­zi­alen Schich­ten, das Geschlechterverhältnis und die so­zi­alen Netzwerke [20]. Hierbei kann es be­deut­sam sein, ne­ben der aktuellen Si­tu­a­ti­on auch die Aus­gangs­la­ge im Herkunftsland in den Blick zu neh­men.
„Die Be­rück­sich­ti­gung der Heterogenität in­ner­halb der Be­völ­ke­rung mit Migrationshintergrund ist ei­nes der zentralen Themen in den Interviews. Den Ex­per­tin­nen und Ex­per­ten war es wich­tig, da­rauf hinzuweisen, dass ei­ne genaue De­fi­ni­ti­on und Dif­fe­ren­zie­rung der Ziel­grup­pe so­wohl nach Migrationsaspekten als auch so­zi­alen Aspekten für die Pla­nung not­wen­dig sei. Je nach genauer Ziel­grup­pendefinition kann ein gezieltes An­ge­bot, bei­spiels­wei­se für kürz­lich angekommene Flüchtlinge, sinn­voll sein. In anderen Fällen ist ei­ne interkulturelle Öff­nung von etablierten An­ge­boten zu be­vor­zu­gen. Soziale Aspekte wie die Ein­bin­dung in so­zi­ale Netzwerke sind eben­falls zu be­rück­sich­ti­gen. Während der Zu­gang zu so­zi­al eingebundenen Personen zu Gruppenveranstaltungen, wie bei­spiels­wei­se Kochkurse, ge­lin­gen kann, so ist der Zu­gang zu weit­ge­hend isolierten Personen eher in­di­rekt über Vertrauenspersonen zu er­rei­chen.
In praktischer Hinsicht wird die soziokulturelle Sen­si­bi­li­tät häufig durch mehrsprachige Informationsmaterialen, den Ein­satz von Dolmetschern, den Ein­satz von Ge­sund­heitsmediatoren, den Einbezug von Übungsleiterinnen und Übungsleitern mit ähnlichem Migrationshintergrund und der Par­ti­zi­pa­ti­on der Ziel­grup­pe in der Ent­wick­lung der Maß­nah­men erreicht.“ [20]
Eine rei­ne Fokussierung auf ethnische und kulturelle Zuschreibungen ist zu vermeiden. Sie würde ei­ne unzulässige Re­duk­ti­on komplexer so­zi­aler Si­tu­a­ti­onen und Probleme dar­stel­len („Ethnisierung“, „Kulturalisierung“). Vielmehr sollten stets auch die so­zi­alen De­ter­mi­nan­ten der Ge­sund­heit wie z.B. die Armutsquoten und ungleichen Bil­dungs­chan­cen [21, 22] und die so­zi­alen Rah­men­be­din­gung­en der Ziel­grup­pe in der Kon­zep­ti­on, Projektplanung und täglichen Ar­beit berücksichtigt wer­den.

!! In An­leh­nung an die oben aufgeführten De­fi­ni­ti­onen kann „kultursensibel“ verstanden wer­den als Haltung, die auf Verständnis von Kulturen und Religionen beruht. Die Sen­si­bi­li­tät liegt in der Auf­merk­sam­keit für die kulturellen und migrationsspezifischen Prä­gung­en und Er­fah­rung­en.
Die soziokulturelle Sen­si­bi­li­tät liegt in der Auf­merk­sam­keit für die kulturellen und migrationsspezifischen Prä­gung­en und Er­fah­rung­en so­wie für die so­zi­ale La­ge und mögliche geschlechtsspezifische Bedürfnisse.

3.3 Interkulturalität und Transkulturalität

„Interkulturell“ bezieht sich im allgemei­nen Sprach­ge­brauch auf die In­ter­ak­ti­on zwi­schen Menschen verschiedener Kul­turen. Eine kurze De­fi­ni­ti­on von „Interkultureller Öff­nung“ be­sagt: „Interkulturelle Öff­nung ist ein Steuerungsinstrument der Organisationsentwicklung mit dem Ziel, der kulturellen Vielfalt der Ge­sell­schaft ge­recht zu wer­den.“ [23]
Der Pro­zess der interkulturellen Öff­nung schließt auch ei­ne bewusste Aus­ei­nan­der­set­zung mit der eigenen Kul­tur ein. Dabei geht es da­rum, die „Ori­en­tie­rung an der Mehrheitskultur als alleiniger Maß­stab für das eigene Wahrnehmen und Handeln in Fra­ge zu stel­len und sich zu öff­nen für die Be­geg­nung mit Menschen unterschiedlicher kultureller Prä­gung. Öff­nung beschreibt da­bei ei­nen dauerhaften Pro­zess, der auch of­fen ist für ei­ne Veränderung und Wei­ter­ent­wick­lung der eigenen Kul­tur.“ [24]
Das Kon­zept der Transkulturalität ist als ein Gegenentwurf zu Interkulturalität zu be­trach­ten, da ihm ein weiteres, zeitgemäßes Kul­turverständnis zu­grun­de liegt. Kul­turen wer­den hier verstanden als heterogen, wan­del­bar und nicht klar voneinander zu tren­nen.
Dem Philosophen Wolf­gang Welsch zu­fol­ge „[…] sind heutige Kul­turen vor dem Hintergrund der Globalisierungsprozesse durch interne Dif­fe­ren­ziert­heit und durch externe Austauschprozesse so­wie Überlagerungen geformt. Die Vorsilbe „trans“ schließt da­bei zwei Be­deu­tung­en ein: „[ei­ner­seits], dass die heutige Verfassung der Kul­turen jen­seits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und [an­de­rer­seits] dass dies eben in­so­fern der Fall ist, als die kulturellen De­ter­mi­nan­ten heute quer durch die Kul­turen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Ab­gren­zung, son­dern durch Verflechtungen und Ge­mein­sam­keit­en gekennzeichnet sind.“ Dieser An­satz basiert auf ei­nem of­fenen, dynamischen und deterritorialisierten Kul­turbegriff, wie er auch in den Kul­turwissenschaften verstanden wird. Das Kon­zept der Transkulturalität trägt in der theoretischen Per­spek­ti­ve zu ei­ner Auf­lö­sung bzw. „Ent­schär­fung“ von kulturellen Differenzen bei, in­dem diese als temporäre, durchlässige und heterogene Phänomene betrachtet wer­den [25].
„Der transkulturelle An­satz geht da­von aus, dass sich kulturelle Systeme ständig wan­deln und kei­ne in sich geschlossenen Kul­turkreise exis­tie­ren. Stattdessen wird der kulturelle Referenzrahmen ei­ner Ge­sell­schaft von allen ihren Mitgliedern gestaltet.
Transkulturalität fokussiert nicht auf die Unterschiede, son­dern auf die Ge­mein­sam­keit­en von Personen aus verschiedenen Hintergründen. […] Die transkulturelle Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on […] will nicht ein spezifisches Mo­dell der Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung für Personen mit Migrationshintergrund kon­stru­ie­ren. Vielmehr soll die professionelle Ar­beit auf diesem Ge­biet so weiterentwickelt wer­den, dass sie je­der­zeit auch auf die Bedürfnisse von Personen mit Migrationshintergrund an­ge­passt und situationsge­recht ist.“ [26]

3.4 Interkulturelle und transkulturelle Kom­pe­tenz

„Transkulturelle Kom­pe­tenz ist dem­ent­spre­chend die Fä­hig­keit, individuelle Lebenswelten in der besonderen Si­tu­a­ti­on und in unterschiedlichen Kontexten zu er­fas­sen, zu verstehen und angepasste Handlungsweisen da­raus abzuleiten.“ [26] Die aus den Be­griffen Inter- und Transkulturalität „abgeleiteten Ziele und Hauptaspekte der inter- und transkulturellen Kom­pe­tenz wi­der­spre­chen sich al­ler­dings nicht, son­dern haben große Schnitt­men­gen und kön­nen sich ge­gen­sei­tig er­gän­zen“ [27]. Daher wurde die Verwendung des Be­griffs „Kulturelle Kom­pe­tenz“ empfohlen.
In den USA wird in den „Standards“ der Be­griff „Culturally and Linguistically Appropriate Services“ [28] geprägt und die WHO verwendet den Be­griff der „cultural competency of services and policies“ [29]. Im Rahmen der Ent­wick­lung der Health Promoting Hospitals wurde der Be­griff “Task Force on Migrant Friendly & Culturally Competent Health Care“ (das Nachfolgeprojekt zu den vielzitierten “Migrant friendly Hospitals”) zu “Task Force Mi­gra­ti­on, Equity & Diversity (TF MED)” weiterentwickelt [30]. Diese Wei­ter­ent­wick­lung zu "Mi­gra­ti­on, Chan­cen­gleich­heit und Di­ver­si­tät" verknüpft vertikale und horizontale Aspekte der sozialen Un­gleich­heit mit Di­ver­si­tät und verdeutlicht die Not­wen­dig­keit der Kom­bi­na­ti­on der Ziele Chan­cen­gleich­heit und Di­ver­si­tätssensibilität im Be­reich der Mi­gra­ti­on.

!! Interkulturalität kann als ei­ne bewusste Aus­ei­nan­der­set­zung mit der eigenen und ei­ne Of­fen­heit und Ak­zep­tanz ge­gen­über anderen Kulturen verstanden wer­den.
Transkulturalität hingegen wird als übergreifend, of­fen und dy­na­misch verstanden und beschreibt ei­ne Verflochtenheit der Kulturen, die auch durch Ge­mein­sam­keit­en geprägt und nicht mehr klar voneinander abzugrenzen sind.
Die Herausforderung der kulturellen Kom­pe­tenz liegt da­rin, die besonderen Lebenswelten, Situationen und Kontexte zu er­fas­sen und in den eigenen Handlungen zu be­rück­sich­ti­gen.

Dieses Glos­sar wurde von den folgenden derzeitigen und ehemaligen Mitgliedern der Arbeitsgruppe „Ge­sund­heits­för­de­rung mit Geflüchteten“ des Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bun­des Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit zusammengestellt:
Sven­ja Budde, Prof. Lot­te Kaba-Schönstein, Do­ro­thee Michalscheck, Ca­ro­la Pöhlmann, PD Dr. Eri­ka Sievers, Dr. An­ke Spura, Dr. Ga­bri­e­le Trost-Brinkhues, Marcus Wächter-Raquet, Ste­fan Bräunling, Jennifer Hartl, Lea Winnig

Literaturverzeichnis

[1] Borde, Theda/Blümel, Stephan (2020): Gesundheitsförderung und Migrationshintergrund. In: BZgA (Hrsg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Hier online abrufbar.
[2] Gräser, Silke (2018): Globale Gesundheit / Global Health. In: BZgA (Hrsg.): Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Hier online abrufbar.
[3] Statistisches Bundesamt (2017): Fachserie 1, Reihe 2.2 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus: Wiesbaden.
[4] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2019): Flüchtlingsschutz. Hier online abrufbar.
[5] Stefanowitsch, Anatol (2012): Flüchtlinge und Geflüchtete. Hier online abrufbar.
[6] Kothen, Andrea (2016): Sagt man jetzt Flüchtlinge oder Geflüchtete? In: Pro Asyl (Hrsg.): Tag des Flüchtlings 2016: S. 24. Hier online abrufbar.
[7] Koordinierungsstelle Gesundheitliche Chancengleichheit Brandenburg (2016): Zugang zum medizinischen Versorgungssystem und zu Angeboten der Gesundheitsförderung/Prävention für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Brandenburg. Hier online downloadbar.
[8] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2019): Asylberechtigung. Hier online abrufbar.
[9] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2019): Subsidiärer Schutz. Hier online abrufbar.
[10] Bundeszentrale für politische Bildung (2007): Irreguläre Migration. Hier online abrufbar.
[11] Angenendt, Steffen (2008): Online-Handbuch Demografie: Irreguläre Migration: Begriffe, Konzepte und Entwicklungstrends. Diese Quelle ist online leider nicht mehr abrufbar (8.1.2021).
[12] Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. (2018): Leitfaden für Flüchtlinge in Niedersachen. Kapitel 12.5: Medizinische Versorgung. Hier online abrufbar.
[13]  Bundesarbeitsgruppe Gesundheit/Illegalität (2017): Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papier. Aktuelle Herausforderungen und Lösungsansätze. Hier online abrufbar.
[14] European Asylum Support Office (2013): Richtlinie 2013/32/EU des europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Hier online abrufbar.
[15] Deutscher Bundestag (2017): Zur Lage von geflüchteten Menschen mit Behinderungen. Drucksache18/11603. Hier online abrufbar.
[16] Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V. (BumF).
[17] Geiger, Ingrid Katharina/Razum, Oliver (2016): Migration und Gesundheit. In: Hurrelmann, Klaus/Razum, Oliver (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. Weinheim und Basel: Beltz Juventa: 609-637.
[18] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (2017): Kultursensibilität in der gesundheitlichen Aufklärung. Kulturelle Unterschiede in der Kommunikation: Barrieren, Chancen, Lösungswege. In: BZgA (Hrsg.): Gesundheitsförderung Konkret Band 21. Hier online downloadbar.
[19] Betsch, Cornelia/Böhm, Robert/Airhihenbuwa, Collins O./Butler, Robb/Chapman, Gretchen B./Haase, Niels/Herrmann, Benedikt/Igarashi, Tasuku/Kitayama, Shinobu/Korn, Lars/Nurm, Ülla-Karin/Rohrmann, Bernd/Rothman, Alexander J./Shayitt, Sharon/Updegraff, John A./Uskul, Ayse K. (2016): Improving Medical Decision Making and Health Promotion through Culture-Sensitive Health Communication. Hier online abrufbar.
[20] GKV-Spitzenverband (2017): Literatur- und Datenbankrecherche zu Gesundheitsförderungs- und Präventionsansätzen bei Menschen mit Migrationshintergrund und Auswertung der vorliegenden Evidenz. Berlin. Hier online abrufbar.
[21] Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) (2015): WSI Verteilungsmonitor. Special Feature: Kinderarmut in Deutschland 2015. Hier online abrufbar.
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[24] Niedersächsisches Ministerium für Inneres, Sport und Integration (2009): Interkulturelle Öffnung im Gesundheitswesen.
[25] Sinner, Kathrin (2011): Transkulturalität versus Multi- und Interkulturalität. Hier online abrufbar.
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[27] Mews, Claudia/Schuster, Sylvie/Vajda, Christian/Lindtner-Rudolph, Heide/Schmidt, Luise E./Bösner, Stefan/Güzelsoy, Leyla/Kressing, Frank/Hallal, Houda/Peters, Tim/Gestmann, Margarita/Hempel, Linn/Grützmann, Tatjana/Sievers, Erika/Knipper, Michael (2018): Kulturelle Kompetenz und Global Health: Perspektiven für die medizinische Ausbildung - Positionspapier des GMA-Ausschusses Kulturelle Kompetenz und Global Health. In: GMS Journal for Medical Education: Vol. 35 (3): 9-17. Hier online abrufbar.
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[29] WHO (2017): Cultural Contexts of Health and Well-being. Culture matters: using a cultural contexts of health approach to enhance policy-making. Hier online abrufbar.
[30] Clinical Health Promotion Centre: Task Forces. Hier online abrufbar.
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