07.04.2014
Handlungsorientierter Sozialstrukturatlas Berlin 2013
Grundlage für passgenaue Sozialraumplanung sowie eine gesundheitsförderliche und soziale Stadtentwicklung
Gerhard Meinlschmidt, Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, Abteilung Gesundheit, I A
Schlagwörter:Handlungsempfehlungen, Stadtentwicklung, Studie
In der Berichtsreihe Gesundheitsberichterstattung Berlin der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ist der „Handlungsorientierte Sozialstrukturatlas 2013“ erschienen.
Die Analyse wurde auf räumlicher Ebene der Berliner Bezirke anhand von 66 Indikatoren aus den Bereichen Bevölkerungs- und Haushaltsstruktur, Bildung, Erwerbsleben, Einkommen und materielle Lage sowie Gesundheit vorgenommen. Darunter standen 36 Indikatoren auch für die Analyse auf Planungsraumebene zur Verfügung. Die Ergebnisse finden für wichtige planerische Fragestellungen der Politikfelder Gesundheit und Soziales des Berliner Senats Verwendung.
Sozialindex I: Belastungsindex
Der Sozialindex I (Belastungsindex) zeigt, dass in Gebieten mit vergleichsweise hoher Arbeitslosigkeit nach SGB II, relativ hohe Anteile der Bevölkerung staatliche Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (SGB II, SGB XII) benötigen, geringe Einkommen erzielt werden, gleichzeitig gesundheitliche Faktoren wie vorzeitige und vermeidbare Sterblichkeit, reduzierte mittlere Lebenserwartung und tabakassoziierte schwere Erkrankungen eine stärkere Rolle spielen.
Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow sind die Bezirke mit der günstigsten Sozialstruktur in Berlin (Rangplätze 1 bis 3). Dies äußert sich in niedrigen Arbeitslosenquoten, niedrigen Transferleistungsquoten (Rechtskreis SGB II, Rechtskreis SGB XII), niedrigen Arbeitslosengeld I - Empfängerquoten und hohen mittleren Haushaltsnetto- und Pro-Kopf-Einkommen. Die mittlere Lebenserwartung ist im Berliner Vergleich hoch, die Rate vorzeitiger Sterblichkeit gering. Die Sozialstruktur der Familien mit Schulanfängern und Schulanfängerinnen ist günstig. Unter den Berliner Planungsräumen erreichen Thielalle (SZ), Messelpark (CW) und Dahlem (SZ) die günstigsten Werte.
Die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Marzahn-Hellersdorf, Spandau, Mitte und Neukölln (Rangplätze 8 bis 12) sind durch vergleichsweise ungünstige Befunde gekennzeichnet. Bei hohen Zuzugsüberschüssen überwiegen einfache Wohnlagen, Arbeitslosigkeit, Transferleistungsbezug, überdurchschnittliche Armutsrisikoquoten und niedrige Einkommen. Spandau, Mitte und Neukölln verzeichnen die höchsten Wanderungssaldi in Berlin. Der Sozialstatus von Familien mit Einschülern und Einschülerinnen wird als vergleichsweise niedrig eingeschätzt, am schlechtesten in Neukölln. Die mittlere Lebenserwartung liegt unter dem Berliner Durchschnitt. Die vorzeitige Sterblichkeit und Neuerkrankungsrate insbesondere an bösartigen Neubildungen sowie die vermeidbare Sterblichkeit an ischämischen Herzkrankheiten, an bösartigen Neubildungen der Bronchien und der Lunge wie auch die Neuerkrankungsrate an tabakassoziierten bösartigen Neubildungen und an offener Lungentuberkulose sind vergleichsweise hoch ausgeprägt. Größere Teile der Bevölkerung als im Berliner Durchschnitt rauchen. Auf Marzahn-Hellersdorf treffen diese Befunde zur gesundheitlichen Lage weniger stark zu. Die letzten drei Rangplätze unter den Planungsräumen nehmen Wassertorplatz (FK), Hellersdorfer Promenade (MH) und Moritzplatz (FK) ein.
Zeitliche Entwicklung der sozialstrukturellen Lage
Im Vergleich zur Untersuchung zum Sozialstrukturatlas 2008 (Datenstand: 2006) haben die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow, Lichtenberg und Mitte ihren Rangplatz verbessert. Dabei gelangte Pankow im Vergleich zum Sozialstrukturatlas 2003 sogar um insgesamt 6 Plätze und Friedrichshain-Kreuzberg um 4 Plätze nach vorn. Rangplatzverschlechterungen zeigen sich für Spandau, Reinickendorf, Treptow-Köpenick und Neukölln.
Durch Verschränkung der Ergebnisse zur aktuellen sozialstrukturellen Lage mit deren zeitlicher Entwicklung seit 2006 wurden die Gebiete in vier planungsrelevante Kategorien eingeordnet:
- Die Bezirke Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Pankow und Tempelhof-Schöneberg zeichnen sich sowohl durch eine überdurchschnittliche sozialstrukturelle Lage als auch eine insgesamt positive zeitliche Entwicklung aus (Kategorie I). Räumliche Ballungen von Planungsräumen der Kategorie I finden sich darüber hinaus im innerstädtischen Bereich in den Bezirksregionen Alexanderplatz und Brunnenstraße Süd, angrenzend in Teilen von Moabit (alle Bezirk Mitte) und im durch Siedlungscharakter geprägten südlichen Bereich von Marzahn-Hellersdorf.
- Treptow-Köpenick nimmt eine überdurchschnittliche Position im sozialstrukturellen Querschnitt bei leichter Rangplatzverschlechterung (Kategorie II) ein. Diese Situation betrifft aber auch Planungsräume, in denen fast die Hälfte (48 %) der Steglitz-Zehlendorfer und ein Fünftel (21 %) der Charlottenburg-Wilmersdorfer Bevölkerung lebt.
- Unterdurchschnittliche sozialstrukturelle Belastungswerte bei relativer Verbesserung der Rangposition weisen die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg und Mitte auf (Kategorie III). Zusammenhängende Gebiete mit „von unten aufsteigenden“ Planungsräumen lassen sich in den Prognoseräumen Moabit, Gesundbrunnen, Wedding (alle Bezirk Mitte), Kreuzberg Süd und Ost, Friedrichshain Ost, Neukölln, Charlottenburg-Wilmersdorf 3 sowie Schöneberg Nord und Schöneberg Süd ausmachen.
- Verfestigte ungünstige sozialstrukturelle Lagen bei relativ ungünstiger Entwicklung bzw. Stabilität sind für die Bezirke Neukölln, Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf zu konstatieren (Kategorie IV). In Lichtenberg (66 %) und Marzahn-Hellersdorf (59 %) ist der Großteil, in Spandau (53 %) und Reinickendorf (47 %) ungefähr die Hälfte der Bezirksbevölkerung in sozialstrukturell ungünstigen Planungsräumen mit absteigender Entwicklung ansässig, wobei wesentlich Gebiete mit Großsiedlungscharakter betroffen sind. Ballungen ebenso einzuordnender Planungsräume müssen auch in den Prognoseräumen Friedrichshain West, Tempelhof und Mariendorf, in Treptow-Köpenick 1 und 2 (nordwestliche Bereiche des Bezirkes) und in der Bezirksregion Lankwitz (Steglitz-Zehlendorf) festgestellt werden.
Sozialindex II: Gradmesser sozialer Gefährdung
Der zweite ermittelte Sozialindex II spiegelt insbesondere das Arbeitsmarktpotential und Arbeitslosigkeit nach SGB III (“Gradmesser sozialer Gefährdung“). Hier ist nach wie vor eine gewisse „Ost-West-Verteilung“ zu sehen, die wesentlich auf die höhere Bedeutung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung im ehemaligen Ost-Teil der Stadt zurückzuführen ist.
Mit dem Statusindex-/Segregationsindex werden insbesondere der Bildungsstatus und Ergebnisse demographischer Entmischungs-/Prozesse abgebildet.
In hohen Werten des Status-/Segregationsindexes bzw. Verbesserungen in der entsprechenden Rangfolge der Bezirke drückt sich ein „Nebeneinander“ von (lebens-)alter alteingesessener Bevölkerung und junger, gebildeter, aufstrebender Bevölkerung aus. Zuzug scheint hohes Bildungsniveau zu stärken bei Verbleib von anteilmäßig kleiner älterer Bevölkerungsgruppen mit eher prekärer sozialer Lage. Die höchsten Werte erzielen in absteigender Rangplatzfolge die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow, Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf. Hier leben vergleichsweise viele Einwohner und Einwohnerinnen im Alter unter 6 Jahren und von 18 bis 34 Jahren, bei geringen Anteilen der Bevölkerung im Alter von 6 bis 17 Jahren sowie ab 65 Jahren. Insbesondere Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, aber auch Pankow sind durch die berlinweit höchsten Anteile an 1-Personen-Haushalten bei hoher Bevölkerungsdichte geprägt. Hohe Anteile von Personen mit Hochschulreife bzw. -abschluss stehen geringen Anteilen von Personen mit Volks-/Hauptschulabschluss gegenüber. Die berufliche Tätigkeit ist durch hohe Anteile Selbständiger gekennzeichnet. Zwar leben auffallend wenige ältere Personen in den ranghöchsten Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg, diese benötigen jedoch vergleichsweise häufig Grundsicherung im Alter oder Hilfe zur Pflege der Sozialhilfe (SGB XII) bei Pflegebedürftigkeit.
Die Bezirke Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick, Steglitz-Zehlendorf, Spandau, Reinickendorf mit niedrigen Werten auf den Rangplätzen 8 bis 12 sind die in Berlin am wenigsten dicht besiedelten. Relativ geringe Anteile 18- bis 34-Jähriger gehen mit überdurchschnittlichen Anteilen Älterer ab 65 Jahren einher. Die ältere Bevölkerung benötigt vergleichsweise selten Sozialleistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes oder aufgrund von Pflegebedürftigkeit. Die Privathaushalte sind vergleichsweise groß. Bis auf Treptow-Köpenick sind in allen Bezirken deutliche Wanderungsgewinne von Familien mit Kindern unter 6 Jahren zu verzeichnen. Allerdings ist in allen Bezirken der Anteil der Personen mit (Fach-) Hochschulabschluss zurückgegangen, am stärksten in Treptow-Köpenick.
Sozialstrukturatlas 2013 als Grundlage evidenzbasierter Gesundheits- und Sozialpolitik
Gesundheits- und Sozialberichterstattung sind kein Selbstzweck, sondern Grundlage für eine Evidence based health and social policy. Hier setzt die sozialraumorientierte Politik der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales als Beitrag für eine soziale Stadtentwicklung in Berlin an. Die Darstellung aktueller fachpolitischer Anwendungsbeispiele bzw. Umsetzungsvorhaben in wichtigen Politikfeldern soll für die breite fachpolitische Arbeit mit den Ergebnissen der Sozialstrukturanalyse weitere Impulse geben. Zugleich soll die Öffentlichkeit über die diesbezügliche Tätigkeit des Berliner Senats in den Politikfeldern Gesundheit und Soziales informiert werden. Die Nutzung der Planungsgrundlagen wird für folgende Vorhaben und Tätigkeitsfelder dargestellt:
- regionale vertragsärztliche Planung,
- Infrastrukturförderprogramm Stadtteilzentren,
- sozialraumorientierte Gesundheitsförderung,
- Pflege,
- sozialindikative Planung im Bereich Psychiatrie sowie
- Bekämpfung von Armut und die Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabechancen.
Die Druckfassung des Berichtes sowie alle berechneten Daten sind im Internet unter http://www.berlin.de/sen/statistik/gessoz/index.html bzw. im Gesundheits- und Sozialinformationssystem unter http://www.gsi-berlin.info/. abrufbar.