ZUR WIRKSAMKEIT (FRÜHER) UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE FÜR KINDER, JUGENDLICHE UND IHRE FAMILIEN
Im Mittelpunkt des kommunalen Partnerprozesses „Gesund aufwachsen für alle!“ steht die Entwicklung kommunaler Gesundheitsstrategien, die über Professionsund Akteursgrenzen hinweg Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendliche und deren Eltern in einer Lebenslaufperspektive koordiniert. Da dieser Ansatz noch relativ jung ist, liegen erst wenige Erkenntnisse zu Effekten und Wirksamkeit des Ansatzes vor. Dieses Papier stellt Informationen und Erkenntnisse aus deutschen und internationalen Quellen zusammen und berücksichtigt dabei auch Erkenntnisse aus dem Feld der Frühen Hilfen. Es wird kontinuierlich fortgeschrieben.
„Präventionsketten rechnen sich“
Einleitung
„Prävention rechnet sich gesellschaftlich, sozial und finanziell“, schreiben Holz et al. (2011: 11) über die Präventionskette der Stadt Monheim. Damit benennen sie verschiedene Wirkungs-Dimensionen.
Koordinierte Unterstützungsangebote in der frühen Kindheit und im weiteren Lebensverlauf sollen in erster Linie die Chancen auf ein gesundes Aufwachsen verbessern, unabhängig von der jeweiligen sozialen Lage der Kinder und Jugendlichen. Wenn dies gelingt, sind sie wirksam und erfolgreich.
Investitionsbedarf
Der Aufbau und die Koordinierung der unterstützenden Angebote und Kooperationsbeziehungen erfordert Investitionen in Personal und Infrastruktur. Viele Kommunen stellen sich angesichts ihrer angespannten Haushaltslage zu Recht die Frage, wie und in welchem Umfang diese Investitionen sich zumindest in der mittleren Frist „auszahlen“ werden.
Probleme der Wirkungsmessung
Derzeit liegen noch keine umfassenden und belastbaren Daten zu (finanziellen) Auswirkungen kommunaler Unterstützungsangebote vor. Hinzu kommt, dass einfache Wirkungsbestimmungen für Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung nicht leicht zu führen sind: Gesundheitliche Effekte lassen sich oft erst über längere Zeiträume nachweisen und komplexe Wirkungszusammenhänge machen es schwierig, den Erfolgsbeitrag einzelner Aktivitäten und gemeinschaftlicher Anstrengungen zu bewerten.
Intermediäre Wirkungen
Auch wenn sich direkte gesundheitliche Effekte nur schwer bestimmen lassen, sind doch positive Auswirkungen auf anderen Ebenen (sogenannte „intermediäre Wirkungen“) belegbar, wie beispielsweise aus der Kommune Monheim berichtet wird (vgl. Holz et al. 11f):
Strukturelle Wirkungen
- Strukturelle Auswirkungen: Wenn frühe Unterstützungsangebote erfolgreich sind, stimmen Institutionen, Ämter und Einrichtungen ihre Angebote besser aufeinander ab und entwickeln ein gemeinsames Verständnis für ihre Beiträge zur Förderung der Kinder- und Jugendgesundheit. Auch rücken die Bedarfslagen von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern stärker in den Blick der kommunalen Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit.
Individuelle Wirkungen
- Individuelle und familiäre Auswirkungen: Die Familien erleben, dass sie bei Fragen und Problemen schneller und mit erleichterten Zugängen Unterstützungsangebote erhalten.
Finanzielle Wirkung
- Der Nachweis dieser strukturellen und individuellen Wirkungen ist wichtig, denn auf sie sind die Aktivitäten im Rahmen kommunaler Gesundheitsstrategien („Präventionsketten“) ausgerichtet. Wenn koordinierte Unterstützungsangebote Wirksamkeit auf diesen Ebenen entfalten, dann spricht einiges dafür, dass sie auch positive finanzielle Effekte für die öffentlichen Haushalte haben: Sie helfen, öffentliche Mittel einzusparen (z.B. für Sozialleistungen, Kriminalitätsbekämpfung oder einen geringeren Krankenstand) und erhöhen die Chance auf öffentliche Einnahmen durch mehr und besser verdienende Steuerzahler/innen.
Sowohl erste kommunale Erfahrungen als auch empirische Studien unterstützen die plausible Annahme, dass frühzeitige Investitionen in ein sicheres und gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen sich langfristig auch finanziell auszahlen. Einige dieser Befunde sollen hier kurz vorgestellt werden.
(Wie) rechnen sich Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche?
Investitionen in Bildung (Heckman)
Der Nobelpreisträger und Wirtschaftswissenschaftler James Heckman hat untersucht, welchen wirtschaftlichen Nutzen Bildungsinvestitionen in unterschiedlichen Lebensphasen haben. Er kommt zum Ergebnis, dass sich solche Investitionen immer stärker „rechnen“, je früher im Lebensverlauf sie getätigt werden. Er hat diesen Zusammenhang in einem oft zitierten Schaubild verdeutlicht:
Für Heckman sind Unterstützungsangebote im Vorschulalter aufgrund von Multiplikationseffekten wirtschaftlich besonders rentabel, da z.B. verbesserte frühkindliche Bildung die Grundlage für bessere schulische Leistungen, eine gute Ausbildung und nachfolgend den erfolgreichen Einstieg in ein erfülltes Berufsleben ist. Diese sich gegenseitig verstärkenden Effekte können dann besonders wirksam werden, wenn ein möglichst langer Zeitraum zur Verfügung steht, sie zu entfalten. |
Beispiel 1: High/Scope Perry Preschool Study
Der Befund von Heckman wird durch die Ergebnisse der High/Scope Perry Preschool-Langzeitstudie bestätigt (» vgl. Schweinhart et al. 2005). Die Studie startete 1962 in Michigan (USA) und untersuchte die Auswirkungen vorschulischer Förderung auf die Entwicklung des weiteren Lebenslaufes. 58 drei- und vierjährige Kinder aus einkommensschwachen afro-amerikanischen Familien wurden in einem Vorschulprogramm zwei Jahre lang intensiv gefördert. 65 gleichaltrige Kinder mit demselben Hintergrund bildeten die Kontrollgruppe und erhielten keine Förderung.
Die biografische Entwicklung der Kinder wurde bis zum Alter von 40 Jahren verfolgt und untersucht, wie sich Ausbildung, Einkommen, Straffälligkeit, Familienbeziehungen und Gesundheit in beiden Gruppen entwickelten. Die Mitglieder der Programm-Gruppe zeigten durchweg signifikant bessere Entwicklungen als die der nicht geförderten Kontrollgruppe:
In einer Kosten-Nutzen-Analyse kommt die High/Scope Perry Preschool-Studie zum Ergebnis, dass jeder im Rahmen des Vorschulprogramms eingesetzte Dollar einen gesellschaftlichen Nutzen von 16 Dollar erzeugte. Den größten Anteil davon erbrachten die Einsparungen aufgrund niedrigerer Kriminalitätsraten in der Programm-Gruppe, aber auch höhere Steuereinnahmen aufgrund höherer Einkommen und die geringere Inanspruchnahme von Sozialleistungen. In ihrer konkreten Ausprägung sind diese Ergebnisse nicht umstandslos auf die Bedingungen in Deutschland übertragbar, weisen jedoch in dieselbe Richtung wie die unten zitierte Kosten-Nutzen-Bewertung von Frühen Hilfen des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH).
Beispiel 2:
Abecedarian Project
Eine ähnliche Langzeitstudie für „Perry Preschool“ ist das in den 1970er Jahren im US-Bundesstaat Carolina durchgeführte Abecedarian Project. Im Rahmen des Projektes erhielten Kinder aus einkommensschwachen Familien besondere Unterstützung in den ersten fünf Lebensjahren mit einem Schwerpunkt auf Bildung und insbesondere Sprachförderung. Die regelmäßigen Untersuchungen der beteiligten Kinder bis zum Alter von 21 Jahren (also 16 Jahre nach Ende der Förderung) zeigten, dass die kognitiven Fähigkeiten der Studienteilnehmer/innen deutlich besser waren als die der Kontrollgruppe. Damit stiegen die Chancen, ein College zu besuchen und einen besser qualifizierten Arbeitsplatz zu bekommen. Ebenfalls konnten positive Effekte auf den Bildungs- und Beschäftigungsstatus der Mütter festgestellt werden, deren Kinder an der Studie teilnahmen.
Beispiel 3: IHDP
Ebenfalls eine Langzeitbeobachtung, die die Effekte von Fördermaßnahmen zwischen dem 12. und 36. Lebensmonat untersuchte, ist das Infant Health and Development Program (IHDP), das insbesondere Kinder mit einem niedrigen Geburtsgewicht einbezog. Es wurde zwischen 1985 und 1988 an acht medizinischen Zentren in den USA durchgeführt. Hier zeigten die frühen Interventionen (u.a. Hausbesuche, niedrigschwelliger Zugang zu medizinischen und weiteren Unterstützungsangeboten, Elterngruppen) deutlich positive Wirkungen auf die einbezogenen Kinder und ihre Familien. In der langen Sicht - bis zu 18 Jahre nach Beendigung der Intervention - waren aber nur noch sehr geringe Unterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe feststellbar, d.h. die Nachhaltigkeit der Intervention wird als nur gering eingeschätzt. Aus diesem Befund lässt sich aber nicht automatisch ableiten, dass Interventionen wie diese nicht langfristige positive Wirkungen entfalten können. Ebenso gut kann in ihnen auch ein wichtiges Argument für den Aufbau von Präventionsketten gesehen werden, die diese positiven Effekte der frühen Interventionen aufgreifen und sie in den späteren Lebensphasen verstetigen.
Studienlage in Deutschland
Für Deutschland liegen bislang noch keine Langzeitstudien zur Wirksamkeit früher Unterstützungsangebote oder von lebenslauforientierten Interventionen (Präventionsketten) vor. Gestützt auf die Erfahrungen aus den oben zitierten und weiteren internationalen Studien gibt es allerdings erste Ansätze, die Wirksamkeit und deren positive wirtschaftliche Auswirkungen auch für Deutschland zu belegen.
Kosten-Nutzen Analyse Früher Hilfen (NZFH)
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) ließ 2011 eine Analyse zu Kosten und Nutzen der Investitionen in Frühe Hilfen erstellen. Diese zeigte am Beispiel des Projektes „Guter Start ins Kinderleben“, dass jeder in eine frühzeitige Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern investierte Euro im Lebensverlauf ein Vielfaches an Folgekosten einspart, die ohne diese Maßnahmen später mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wären (z.B. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe- oder medizinische Leistungen). Die Analyse kommt unter Berechnung unterschiedlicher Szenarios zum Ergebnis, dass jeder in Frühe Hilfen investierte Euro zwischen 13 und 34 Euro an Folgekosten einspart.
Auswirkungen frühzeitiger Unterstützungsangebote (prognos)
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt das prognos-Institut (2011) in einer Studie im Auftrag der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen. Untersucht werden die Auswirkungen frühzeitiger Unterstützungsangebote für Kinder und Jugendliche auf die Entwicklung der sozialen Folgekosten. Diese umfasst zum Beispiel die Aufwendungenfür Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, die Kosten von Arbeitslosigkeit als Folge schlechter oder fehlender Ausbildung und von Jugendkriminalität bis hin zu Kosten, die für Grundsicherung im Alter aufgebracht werden müssen.
Die Kommunen tragen nach Angaben von prognos 57%, und damit die Hauptlast, der sozialen Folgekosten (ebd.: 11). Die Berechnungen ergeben, dass das Land NRW alleine im Bereich der Kinder und Jugendlichen jährlich 2,3 Milliarden Euro einsparen könnte, wenn diese sozialen Folgekosten durch verstärkte präventive Aktivitäten vermieden würden.
Beispiel: Kommune Dormagen
Die Kommune Dormagen begann bereits Ende der 1990er Jahre mit dem Aufbau einer Präventionskette für ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Die Kommune kann inzwischen eine positive Bilanz ziehen (vgl. Hilgers et al. o.J.: 30ff): Beim Aufbau der Präventionskette fallen zwar zusätzliche Aufwendungen an, insbesondere für die Einrichtung der Koordinierungsstelle, für die Begleitung und Durchführung der notwendigen Vernetzungsaktivitäten sowie für fachliche Fortbildungen etwa von Lehrer/innen oder den Mitarbeiter/innen von Arztpraxen. Die Zwischenbilanz der Kommune ist jedoch positiv, da im Vergleich zu anderen Kommunen der Anstieg der kostenintensiven Leistungen wesentlich geringer ist und bei der Fremdunterbringung von Kindern und Jugend-lichen in Dormagen ein Rückgang festgestellt werden kann (vgl. Hilgers 2012). Die zunehmende Inanspruchnahme ambulanter Unterstützungsangebote durch die Familien bei gleichzeitigem Rückgang der kostenintensiven Fremdunterbrin-gungen, die einen gravierenden Eingriff in die jeweiligen Familien darstellen, ist ein wichtiges positives Ergebnis.
Beispiel: Kommune Monheim
Ähnlich positive Effekte wie in Dormagen werden auch aus der bereits eingangs zitierten Kommune Monheim berichtet, die sich im Jahr 2002 auf den Weg gemacht hat, ein kommunales Gesamtkonzept zur Förderung, Bildung und Unterstützung von Kindern und Familien aufzubauen (vgl. Holz et al. 2011; die Good Practice-Beschreibung findet sich hier).
Die dargestellten Erkenntnisse zur Wirksamkeit Früher Hilfen wie auch kommunaler Gesundheitsstrategien („Präventionsketten“) sind eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung dieser Unterstützungskonzepte. Gleichzeitig sollte die Frage nach ihrer Wirksamkeit dauerhaft im Blick behalten und durch wissenschaftliche Begleitung sowie die kontinuierliche Reflexion der beteiligten Akteure unterfüttert werden, um die Strategien wirkungsorientiert weiter entwickeln zu können. Beispiel: Kommune Monheim.
Literatur
- Heckman, James J. 2006: Skill Formation and the Economics of Investing in Disadvantaged Children, in: Science Vol. 312, 1900-1902. (PDF)
- Hilgers, Heinz 2012: Kinderarmut und ungleich verteilte Chancen auf Gesundheit - welche Bedeutung haben kommunale Strategien? Vortrag auf der Satellitenveranstaltung „Gesund aufwachsen für alle!“ zum 17. Kongress Armut und Gesundheit am 8. März 2012 (LINK)
- Hilgers, Heinz; Sandvoss, Uwe; Jasper, Christin M. o.J.: Das Dormagener Modell: Was es beinhaltet und was man von ihm lernen kann, in: Wolfram, Markus und Osner, Andreas: Handbuch Kommunalpolitik. Berlin: Raabe.
- Holz, Gerda; Schöttle, Michael; Berg, Annette 2011: Fachliche Maßstäbe zum Auf- und Ausbau von Präventionsketten in Kommunen: Strukturansatz zur Förderung des „Aufwachsens im Wohlergehen“ für alle Kinder und Jugendliche. Essen, Frankfurt a.M., Monheim am Rhein.
- Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) 2011: Kosten und Nutzen Früher Hilfen. Eine Kosten-Nutzen-Analyse im Projekt „Guter Start ins Kinderleben“. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. (PDF)
- prognos 2011: Gutachten „Soziale Prävention“ - Bilanzierung der sozialen Folgekosten in Nordrhein-Westfalen. Basel: prognos. (LINK)
- Schweinhart, Lawrence J.; Montie, Jeanne; Xiang, Zongping; Barnett, W. Steven; Belfield, Clive R.; Nores, Milagros 2005: The High/Scope Perry Preschool Study Through Age 40, Summary, Conclusions, and Frequently Asked Questions: High/Scope Press.
- WHO (Weltgesundheitsorganisation) 1994: Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, Erklärung der 1. Internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Ottawa/Kanada 1986, deutsche Übersetzung. Gamburg: Verlag für Gesundheitsförderung.
Weiterführende Materialien
- National Forum for Early Childhood Programs Evaluation: Early childhood program evaluations: A decision-maker’s guide (LINK)