07.12.2012
10 Jahre (k)ein Präventionsgesetz
Zur Perspektive eines Gesundheitsförderungsgesetzes
Raimund Geene, Berlin School of Public Health
Schlagwörter:Empowerment, Gesundheitspolitik, Prävention, Setting
Gesundheitsförderung und Prävention stellen sich in Deutschland als Entwicklungsaufgabe. Neben dem Handlungsfeld der nicht-medizinischen Primärprävention insbesondere über den Setting-Ansatz sollte dabei auch die Querschnittsaufgabe der Gesundheitsförderung bedacht werden, nach der sich die gesamte gesundheitliche und soziale Versorgung am Konzept der Ottawa-Charta ausrichten sollte. Die aktuelle Vertiefung der Segmentierungen im Gesundheits- und Sozialwesen durch weitere „Insellösungen“ im Bereich der Pflege, der Selbsthilfe, der Patientenberatung, -unterstützung und -vertretung, der Frühförderung, durch eine weitere Ausdifferenzierung sozialpädagogischer Dienstleistungen, auch im Sinne neuer Handlungsfelder wie den Frühen Hilfen, sind für alle Beteiligten unbefriedigend und demoralisierend.
Ein großer Schritt für einen Neuanfang könnte ein Gesundheitsförderungsgesetz sein, das dem im bundesdeutschen Korporatismus ausgeprägten Problem der Segmentierung einen starken Akteur für Gesundheitsförderung gegenüber stellt. In Rechtsform einer Stiftung und/oder als neue Kernaufgabe der BZgA bietet es die Chance, die einzelnen Segmente im Sinne der Ottawa-Charta miteinander zu verbinden. Wenn Sozialpädagogik und Psychologie, Jugend- und Familienhilfe, primäre, sekundäre und tertiäre Prävention, Selbsthilfe und Patientenunterstützung, Pflege und Kuration sektorenübergreifend verknüpft werden, kann die Idee der Gesundheitsförderung in allen Felder der zerklüfteten deutschen Gesundheits- und Sozialversorgung wirken. Nachfolgend wird in diesem Beitrag die Option einer Zusammenführung der vorliegenden politischen Konzepte zu einem Gesamtkonzept für ein umfassendes Gesundheitsförderungsgesetz diskutiert.
Gesundheitsförderungsgesetz - pro und contra
Anknüpfend an die Diskussion auf dem Kongress Armut und Gesundheit 2012 werden hier relevante Aspekte diskutiert für oder gegen ein Gesundheitsförderungsgesetz (GeFöG). Es soll an dieser Stelle zunächst offen gelassen werden, ob dies - ebenso wie das beschlossene, aber nie in Kraft getretene Präventionsgesetz 2005 - als Artikelgesetz formuliert sein solle oder bedeutungsstärker als ergänzendes 13. Sozialgesetzbuch (SGB XIII).
Ein GeFöG als Heimat für einen ‚Ottawa-Ansatz’
Ein zentrales Argument für eine solche Akzentuierung der Gesundheitsförderung liegt darin, dass sich die Aspekte der Ressourcen- und Patientenorientierung, von Partizipation, Empowerment und Verhältnisprävention/ Setting-Ansatz (im Folgenden: der ‚Ottawa-Ansatz’) in einem GeFöG als eigenes SGB besonders deutlich ausdrücken können. Sind diese nämlich in einem ergänzenden Sozialgesetzbuch als universelle Prinzipien herausgearbeitet, kann ihnen im Sinne des Primary Health Care - immer die niedrig schwelligere Interventionsform zuerst, also Prävention vor Kuration etc. - Vorrang eingeräumt werden. Als SGB kann ein GeFöG den Regelungsbedarf insbesondere eines nicht-medizinischen, primären Präventionsgesetzes bedienen, und zwar nicht in einzelnen, isolierten Projekten, sondern in einer übergreifenden Orientierung.
Ein GeFöG als Dach neuer soziale Antworten
Mit einem GeFöG wird der Forderung nach gesundheitsförderlicher Gesamtpolitik Rechnung getragen, denn ein solcher zentraler Gegenstandsbereich, gipfelnd in einem zentralen Akteur, kann perspektivisch nicht nur in etablierten Bereichen der gesundheitlichen und sozialen Versorgung wirken, sondern auch künftige gesellschaftliche Aufgaben und Handlungsfelder antizipieren. Aktuelle Beispiele zeigen sich beim Aufbau von Mehrgenerationenhäusern, Patienten- und Pflegeberatungsstellen oder der geplanten Gründung einer bundesweiten Stiftung für Frühe Hilfen gemäß dem Bundeskinderschutzgesetz. Insbesondere das wachsende Handlungsfeld der Engagementförderung/Anregung bürgerschaftlicher Aktivitäten könnte von einer Träger-Institution mit hoher gesetzgeberischer Legitimation profitieren.
Ein GeFöG als Advokat sozial Benachteiligter
Dem Ottawa-Ansatz folgend wächst der Bedarf an anwaltschaftlicher Unterstützung in sich ausdifferenzierenden Lebenslagen. In Mittel- und Oberschichten hat sich Gesundheitskompetenz i. S. einer ‚Health Literacy’ herausgebildet, die sich durch einen gesundheitsfördernden Wechsel zwischen An- und Entspannung auszeichnet, ausdrückend in Fitness, Wellness, Work-Life-Balance u. ä. Die Kompression der Morbidität, d. h. der gegenüber der steigenden Lebenserwartung noch stärkere Anstieg beschwerdefreier Lebenszeit, mithin im Lebenslauf auch Verkürzung der Phasen chronisch-degenerativer Erkrankungen, ist ein Ausdruck dieser gewachsenen Fähigkeit zum gesunden Selbstmanagement von Individuen, jedoch bislang nur schichtspezifisch. Eine Ausweitung der Kompressionserfolge auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen ist nicht nur ethisch geboten, sondern im Zuge der demografischen Entwicklung auch eine hochrelevante Kostenfrage für die gesundheitliche und soziale Versorgung.
Ein durch ein GeFöG oder gar SGB XIII legitimierter Akteur kann die Aufgabe haben, soziale Determinanten als Advocacy-Auftrag gesundheitlich zu beeinflussen.
Ein starker, gebündelter Akteur durch ein GeFöG
Trotz der hohen Akzeptanz des Ottawa-Ansatzes, der breiten Praxis in den dargestellten Problemlagen und neuen Handlungsfeldern bleiben die Aktivitäten vielfach isoliert. Dabei könnten aus einer Zusammenführung von Pflege- und Patientenberatungsstellen, Nachbarschaftsheimen, Selbsthilfekontaktstellen, Gesundheitsläden, Freiwilligenagenturen, Familienzentren, Mehrgenerationenhäusern und Quartiersmanagementbüros - um nur einige wenige Praxisangebote mit hohem Schnittstellenpotenzial zu nennen - nicht nur Synergieeffekte im Sinne von Kostenreduktion erzielt werden, vor allem könnten diese auch gemeinsam zu höherer Wirkung gebracht werden.
Sie wären sodann nicht mehr isoliert für einzelne Fragestellungen zuständig (und häufig aufgrund ihrer Personalknappheit in der Vielfalt ihrer Aufgaben auch schlichtweg überfordert), sondern könnten vor Ort deutlich mehr Aufmerksamkeit erreichen.
Noch deutlicher zeigt sich dieser Bedeutungszuwachs auf Länder- und Bundesebene. Die Akteure der genannten Handlungsfelder erscheinen hier bislang als vergleichsweise schlecht ausgestattete Randakteure aus unteren Tarifgruppen, die den ‚Big Playern’ von Kostenträgern und Leistungserbringern kaum „das Wasser reichen“ können.
Institutionen wie der Fond Gesundes Österreich zeigen, dass eine gebündelte Perspektive eher in der Lage ist, das Handlungsfeld angemessen zu repräsentieren und wesentliche Inhalte breit zu verankern, als dies in der zersplitterten Interessenlage in Deutschland denkbar ist.
Ein GeFöG als motivierender Neustart für die Gesundheitsbewegung
Die hier angerissene Skizze eines Ge-FöG/SGB XIII kann sich beziehen auf eine immens große Personengruppe, denn die hier angesprochenen Handlungsfelder sind - ihrer marginalen gesellschaftlichen Bedeutung zum Trotz - die täglichen Arbeitsplätze von Zehntausenden von Sozialarbeiter/innen, Pfleger/innen, Hebammen, Frühförder/ innen, Inklusions-, Familien-, Patienten- und Pflegeberater/innen, Gesundheits- und Selbsthilfeaktivist/innen, Psycholog/innen, Organisationsentwickler/ innen, Gesundheitsförder/innen, Sozialmanager/ innen, aber auch Lehrer/innen, Erzieher/innen, Mitarbeiter/innen von Wohlfahrts-, Jugend- und Sozialverbänden, kirchlichen Organisationen etc.pp.
Ihre Mühen und Aktivitäten als Aufgaben in einem Gesundheitsförderungsgesetz zusammen zu führen, könnte einen Bogen schlagen zu den sozialen Bewegungen seit den 70ern und den Aufbrüchen der Gesundheitsbewegung in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eine solche Förderung von beruflichem Selbstverständnis und professionell begleiteter sozialer Bewegung führt auch zu einer Aufwertung der Berufsstände und ist in Anbetracht von demografische Entwicklung und Fachkräftemangel schon arbeitsmarktpolitisch doppelt geboten, wie im Übrigen auch analoge Entwicklungen in Skandinavien, Kanada oder Australien bereits zeigen.
Einwände gegen ein GeFöG/SGB XIII
Gleichwohl gibt es gewichtige Einwände gegen die Einführung eines Gesundheitsförderungsgesetzes, insbesondere im Falle eines ‚Ritterschlags’ als SGB XIII. Es ist zunächst wichtig zu reflektieren, ob ein Gesetz überhaupt notwendig ist. Die o. a. Zersplitterung und Marginalisierung der Gesundheitsförderung gibt hier deutliche Anhaltspunkte für diesen Bedarf, bei dem es sich weiterhin zeigt, dass trotz vielfältig unterschiedlichem Strukturaufbau und erheblichen investierten Mitteln die Randständigkeit von Themen(teil) gebieten und Akteuren bestehen bleibt, sich mitunter sogar noch weiter verfestigt. Ebenfalls ist zu hinterfragen, ob durch ein GeFöG zusätzlicher Regelungsbedarf entstehen wird, der weitere Dokumentations- und Koordinationserfordernisse und mithin in der Folge zunehmende Bürokratie mit sich bringt. Dieser berechtigte Vorhalt zielt jedoch weniger auf das Ob als vielmehr auf das Wie des Gesetzes, das sich auf die Bündelung bestehender und bislang unverknüpfter Handlungsfelder beziehen sollte.
Ein weiterer Vorbehalt gegen ein solches Gesetz besteht darin, dass befürchtet wird, die Gesundheitsförderung könne sich durch die Vielfältigkeit der Aufgaben verzetteln, erforderlich sei vielmehr eine Fokussierung auf (primäre) Prävention. Auch dieser Einwand muss gut bedacht werden, denn tatsächlich argumentiert er stark in „bestehender Logik“: Weil die gesundheitliche und soziale Versorgung segmentiert verläuft, könne auch nur mit einem ergänzenden Segment Einfluss genommen werden. Umgekehrt bleibt jedoch die Schwierigkeit, dass damit auch das bestehende Problem verschärft wird, statt in einer neuen Orientierung - und nichts Geringeres verlangt ja die Ottawa-Charta - aufgelöst zu werden. In diesem Zusammenhang wird angeführt, dass eine breite Aufstellung der Gesundheitsförderung das Kernziel einer nicht-medizinischen, primären Prävention aushöhle, weil dann wiederum insbesondere die Interessen der bisher starken Akteure und Handlungsfelder (also insbesondere kurative Versorgung) im Mittelpunkt stehen.
Dies scheint der vielleicht wichtigste Kritikpunkt, der im Zuge einer entsprechenden Gesetzesformulierung umfassend geprüft werden muss, damit über normative Setzung verhindert wird, sich in dieser ‚Falle’ zu verfangen. Ein Vorbehalt äußert sich auch in der Polemisierung eines GeFöG/SGB XIII als „Catch-all-term“. Wichtig ist der kritische Verweis darauf, dass ein einzelnes Gesetz niemals die Vielfalt der Problematik gesundheitlicher und sozialer Ungleichheit werde verändern können.
Wichtig ist auch der kritische Blick darauf, die Bedeutung eines gesetzlichen Rahmens nicht mit ihrer praktischen Umsetzung zu verwechseln. Per Gesetz kann nur das verstärkt werden, was in der Praxis zumindest in Ansätzen schon vorhanden ist. Umgekehrt müssen jedoch auch die zarten Pflanzen beachtet, gepflegt und gestützt werden, bis sie ausreichend Robustheit entwickelt haben.
Ein langer Weg zum GeFöG
Viele Akteure der Gesundheitsförderung haben sich in den 00er Jahren für ein Präventionsgesetz stark gemacht, groß war die Hoffnung der Einrichtung entsprechender Gremien nach dem Beschluss des Bundestages Anfang 2005 - um so größer die Enttäuschung nach dem Nicht-Inkraftsetzung durch die Bundestagsauflösung wenige Woche später. „Nur keine neuerliche Niederlage organisieren!“ heißt es hier mitunter. Gerade weil sich die Aufgaben so umfassend stellen, ist es gut und wichtig, sich die Komplexität jetzt bewusst zu machen mit dem Ziel, im Ergebnis ein konsistentes Konzept für eine gesetzliche Regelung zur Gesundheitsförderung zu entwickeln, das dem richtigen Anspruch der Prävention als 4. Säule der gesundheitlichen (und sozialen) Versorgung gerecht wird und doch so schlank ist, dass es nur auf unmittelbar notwendige Veränderungen orientiert.
Der durch ein GeFöG/SGB XIII zu schaffende Raum muss eng genug sein, um unmittelbar gefüllt werden zu können, aber auch Platz lassen für den dringend notwendigen Entwicklungsprozess zur Gesundheitsförderung. In diesem Sinne sind alle Bemühungen der Parteien zu begrüßen, ihre Positionen zu explizieren und gemeinsam mit der Praxis Wege zu finden, auch hinsichtlich einer Weiterentwicklung bestehender Strukturen wie ÖGDs, BZgA, Bundes- oder Landesvereinigungen. Hier kann die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl zu kurz sein, um fachlich fundierte Lösungen zu entwickeln. Ein entsprechender Prüfauftrag oder eine einzurichtende Enquete-Kommission könnte die Zwischenschritte definieren und einleiten, sofern der entsprechende Beschluss explizit auf eine umfassende Stärkung des Handlungsfeldes der Prävention und Gesundheitsförderung ausgerichtet ist.