10.07.2012
Aktives gesundheitsförderliches Handeln - Überall und nirgends? Ständig oder nie?
25 Jahre Ottawa-Charta - eine kritische Bestandsaufnahme
Lisa Schauermann, Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.
Schlagwörter:Fachtagung, Gesundheitsbewusstsein
So lautete der Titel der Jahrestagung der Landesvereinigung für Gesundheit & Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. (LVG &AFS), die am 26. Juni 2012 in der Akademie des Sports in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover stattfand.
Die Erkenntnis, dass Gesundheit nicht primär durch den Gesundheitssektor, sondern ebenso durch andere gesellschaftliche Bereiche beeinflusst wird, war das Resultat der internationalen Konferenz im Jahr 1986 zur Gesundheitsförderung in Ottawa. Die fünf Handlungsebenen der Gesundheitsförderung, die in der Ottawa-Charta benannt wurden, gaben das Programm der Fachtagung vor.
Aus der damals weltweit ausgelösten Aufbruchstimmung im Gesundheitsbereich resultierten der neue Ansatz der gesundheitsfördernden Settings, veränderte salutogenetische Forschungsprojekte und eine Vielzahl von neuen Gesundheitsberufen. Die fünf Handlungsebenen der Ottawa-Charta, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen, strukturierten das Programm der Fachtagung. Ihr Bestand wurde kritisch hinterfragt.
Nach der Begrüßung durch Frau Prof. Dr. Christiane Deneke, Vorsitzende der LVG & AFS sowie ihrem Bekenntnis zur „Generation Ottawa“, folgte ein Rückblick von Frau Dr. Brigitte Ruckstuhl aus der Schweiz. Sie stellte Thesen und Forderungen auf:
- These: Die Konzeption Gesundheitsförderung ist vage.
- These: Der Gegenstand der Gesundheitsförderung ist nicht definiert.
- Gesundheitsförderung braucht Gesundheitsbegriffe, die soziale Perspektiven widerspiegeln.
In ihrem Vortrag betonte sie außerdem, dass Gesundheit in Ottawa als Ergebnis komplexer Interaktionen zwischen Lebensbedingungen, Lebenskontexten und dem Handeln der Menschen verstanden wurde, was mit dem Begriff Lebensweise zum Ausdruck gebracht wurde. Dieses Verständnis hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Vielmehr ist an die Stelle der Lebensweise der verhaltensorientierte Lebensstil getreten, mit dem eine individualisierende und eigenverantwortliche Sichtweise fokussiert wird. Die weiteren Thesen lauteten daher:
- These: Das neue Verständnis von Gesundheit und Krankheit hat sich nicht durchgesetzt.
- Gesundheitsförderung muss Kontextualisierung stärker betonen.
- These: Das berufliche Selbstverständnis ist beliebig.
- Bedeutung der Begrifflichkeiten für die Gesundheitsförderung müssen konkretisiert werden.
Im Anschluss an diese Rückschau auf Ottawa und die Entwicklung bis in die Gegenwart hinein, richtete sich der Fokus auf „Gesundheitsfördernde Gesamtpolitik“. Zu diesem Thema ergriff Herr Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld das Wort und machte in einem spannenden Vortrag deutlich, dass die Politik sich nicht an erster Stelle an Problemlösungen orientiert, sondern an der Erlangung, Ausweitung und Erhaltung von Macht. Zielkonflikte zwischen gesundheitsbezogenen und anderen Interessen treten in der Folge häufig auf. Im Vordergrund stehen ökonomische Ziele - die Verbesserung der Gesundheitsförderung spielt hierbei eher eine untergeordnete Rolle. Kennzeichnend ist auch eine Ignoranz beispielsweise gegenüber gesundheitsbezogenen Wirkungen beispielsweise von Armut und Ausgrenzung oder auch von ökonomisch bedingten Veränderungen der Arbeitsbedingungen wie Verdichtung von Arbeitsanforderungen, Flexibilisierung, von Arbeitszeiten und Prekarisierung von Arbeitsbeziehungen. Seiner Meinung nach ist eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik schwer durchsetzbar, aber auch nicht unrealistisch. Durch die fortschreitende Ökonomisierung in Teilbereichen der Gesellschaft ist die Ottawa-Charta von ihrer Realisierung noch weit entfernt. Wichtig wäre in der heutigen Zeit, die Gesundheit wieder als „Wert an sich“ zu betrachten.
Einen erfrischend mutigen Beitrag lieferte Frau Prof. Dr. Bettina Schmidt von der evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe im zweiten Teil der Veranstaltung. Sie legte ihren Vortrag als Streifzug durch die gesellschaftliche Mikroebene und durch die Ansätze der Gesundheitsförderung in der persönlichen Kompetenzentwicklung an und präsentierte dabei sowohl Erfolge als auch Misserfolge bzw. ausstehende Erfolge im Hinblick auf die Ausweitung der individuellen Gesundheitspotenziale. Deutlich verwies sie auf erkennbare Hemmnisse in Form von Überversorgung, Unterversorgung und Fehlversorgung. Sie forderte dazu auf, die Perspektive zu wechseln, sich aus der Expertensicht zurück zu ziehen und über den Tellerrand hinaus zu schauen: „Wir müssen über etwas anderes nachdenken, nicht, wie ich frisches Obst in ein sozial benachteiligtes Kind bekomme“ - Querdenken ist die Devise! Ihre provokativen Thesen lauteten:
- „Guter Rat ist teuer“. Doch viele Angebote zur Gesundheitsförderung sind zu ‚billig‘, um rentable Wirksamkeit für alle Menschen gleichermaßen zu entfalten.
- „Verantwortung ist der Preis von Größe“. Doch Kompetenzförderung konzentriert sich auf die ‚Kleinen‘ und vernachlässigt die Eliten und ihre Kompetenzentwicklungspotenziale bei der Verantwortung für Gesundheit.
- „Die Gebildeten bilden die Welt nach ihrem Bild“. Sie verfügen über die Definitionsmacht, Kampagnen gegen ungesundes Essen für nützlich zu halten, Kampagnen gegen ungesundes Autofahren jedoch für nutzlos.
Ihr Beitrag zielte darauf, Wissen und Überzeugungen der Veranstaltungsteilnehmenden „gegen den Strich zu bürsten“ und sie erlangte rege Aufmerksamkeit durch Stichworte wie „women are sick, men die quick“, „Leibvergessenheit“, „Gesundheitsignoranz“ sowie „Vielfalt statt Einfalt“. Schmidt regte dazu an, kompetenzbezogene Hemmnisse abzubauen durch mehr Vielfalt sowohl bei der Auswahl der Personen, die für förderungsbedürftig gehalten werden, als auch bei der Auswahl der Kompetenzen, die für förderungswürdig gehalten werden. Dies könnte künftig dazu beitragen, die Gesundheit aller Menschen gleichermaßen zu fördern.
Frau Prof. Dr. Marie-Luise Dierks von der Medizinischen Hochschule Hannover und der Patientenuniversität gab im Anschluss einen Einblick in die Neuorientierung der Gesundheitsdienste mit den Schwerpunkten Patienten- und Gesundheitsorientierung in der Versorgung. Sie vertrat die Meinung, dass Menschen dank der Forderungen der Ottawa-Charta weitgehende Kontrolle über gesundheitsbezogene Entscheidungen und Handlungen zugestanden wird. Die Stimme der Patienten hat im Qualitätsmanagement der Versorgungseinrichtungen einen neuen Stellenwert erlangt.
Mit dem Thema „Gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen in Nachbarschaften“ gestaltete Frau Dr. Antje Richter-Kornweitz von der LVG &AFS den Abschluss der Veranstaltung. Sie beschrieb das gesundheitsfördernde Potenzial nachbarschaftlicher Netzwerke, das in gemeinsam verfolgten Zielen, vertrauensvollen Beziehungen und sozialem Zusammenhalt liegt und widmete sich der Frage, wie unterstützende nachbarschaftliche Beziehungen auch in strukturell benachteiligten Settings entstehen können. Hier standen unter anderem Fragen nach Erreichbarkeit und Einbeziehung der Bewohnerschaft selbst sowie die Unterstützung von Selbstorganisation im Setting im Mittelpunkt. Zu den Erfolgsfaktoren gehört nach Richter-Kornweitz neben äußeren Rahmenbedingungen eine spezifische innere Haltung als Grundlage professionellen Handelns.
Herr Prof. Dr. Wolfgang Stark von der Universität Duisburg-Essen war bedauerlicherweise erkrankt und konnte mit seinem Vortrag zum Thema „Partizipation und Empowerment konkret: quo vadis?“ daher leider nicht wie geplant direkt daran anschließen. In einer einstündigen Sequenz wurden Praxisbeispiele anhand von Filmausschnitten gezeigt und diskutiert. Während der gesamtem Veranstaltung ermöglichten die Diskussionen an Gruppentischen den direkten Austausch unter den Teilnehmenden und ermöglichten so ein direktes Feed-Back an die Vortragenden.
Die Gesamtmoderation wurde von Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. übernommen.