12.01.2015
"Alle an einen Tisch!" - Verbesserung der Qualität Früher Hilfen anhand einer exemplarischen Familienfallkonferenz
Fachnachmittag am 03.12.2014 in Weimar
Carolin Voigt, Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen AGETHUR
Schlagwörter:Fachtagung, Frühe Hilfen, Gesundheitswesen
Ärzte der Kinder- und Jugendmedizin, Frühe Hilfen-Anbieter, Hebammen und andere Professionen rund um das Thema Geburt, Elternschaft und frühe Kindheit haben das gemeinsame Ziel, das leibliche Wohl von Kindern zu schützen. Unterschiedliche Ausgangsbedingungen, gesetzliche Vorgaben und individuelle Motivationen erschweren jedoch eine qualitätsgesicherte Zusammenarbeit. Trotz bisheriger Bemühungen um ein fehlerfreies Kinderschutzsystem bleiben Sensibilisierung und Achtsamkeit auf allen Seiten von großer Bedeutung.
Entwicklung einer „Kultur der Zusammenarbeit“
Im vergangenen Jahr wurde im Rahmen der Umsetzung des kommunalen Partnerprozesses „Gesund aufwachsen für alle!“ den Akteurinnen und Akteuren der Frühen Hilfen sowie dem Gesundheitswesen in Thüringen die Möglichkeit gegeben, sich über die Erfahrungen in der bereichs- und professionsübergreifenden Zusammenarbeit und die Qualität der Kooperation auszutauschen. Entscheidende Erkenntnis zum damaligen Zeitpunkt war, dass konkrete Instrumente notwendig sind, um die Frühen Hilfen von der Ebene des persönlichen Engagements auf eine verbindliche Ebene zu heben. In diesem Jahr wurde daran angeknüpft und ein Instrument zur interdisziplinären Zusammenarbeit vorgestellt.
Der Fachnachmittag wurde mit einem Beitrag von Birgit Höhlein, Landeskoordinatorin der Bundesinitiative Frühe Hilfen und Familienhebammen, eröffnet. Seit dem Thüringer Gesetz zur Weiterentwicklung im Kinderschutz hat sich viel getan, sodass die Frühen Hilfen nicht nur in allen Landkreisen und kreisfreien Städten in Thüringen etabliert sind, sondern auch das Ergebnis eines strukturellen Wandels von Unterstützungssystemen in Thüringen darstellen. Zukünftig gilt es, die entstandenen Strukturen weiter zu festigen und auszubauen, um den multiprofessionellen Austausch zu einer „Kultur der Zusammenarbeit“ weiterzuentwickeln.
Professionen im Kontext der Frühen Hilfen
Mit seinem Vortrag zu Aufbau und Aufgaben eines Jugendamtes, zeigte Abteilungsleiter René Deutschendorf vom Jugendamt Erfurt die Wirkungsbereiche der Frühen Hilfen auf. Die Frühen Hilfen sind in Erfurt neben z.B. dem Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung und der Mitwirkung in gerichtlichen Verfahren im Aufgabenspektrum des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) verortet. Der ASD in Erfurt fungiert als Ansprechpartner für i.d.R. alle sozialen Problemlagen und bietet Beratungsleistungen, ambulante Betreuung sowie ein Fallmanagement bei Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen und Hilfen für junge Volljährige an. Im Rahmen der Frühen Hilfen werden sogen. „Willkommenshausbesuche“ nach der Geburt eines Kindes durchgeführt, um den Familien die Angebote des Jugendamtes vorzustellen. Darüber hinaus werden Programme und Projekte zur Unterstützung der Eltern initiiert, Fortbildungen für Fachkräfte in allen relevanten Bereichen (u.a. Jugendhilfe, Schule und Gesundheitswesen) konzipiert und mit Hilfe von Netzwerkarbeit alle relevanten Partner in den Prozess der Frühen Hilfen eingebunden.
Im zweiten Referat stellte Prof. Dr. habil. Jörg Seidel aus Jena neben den alltäglichen Anforderungen eines Kinder- und Jugendmediziners die Problematik der ärztlichen Schweigepflicht in Bezug auf die Frühen Hilfen vor. Als „Partner des Vertrauens“ haben Ärztinnen und Ärzte einen guten Zugang zu den Kindern und ihren Familien und bieten damit große Chancen für die Frühen Hilfen. Die Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern, Beratungsgespräche und das Verhalten der Eltern geben in vielen Fällen Auskunft über die Familiensituation. Eine zunehmende „Uniformierung“ des Gesundheitswesens, z.B. durch leitlinienorientierte Medizin und Budgetierung, schränkt die individuelle Behandlung und damit die Möglichkeiten zur Früherkennung von Defiziten in der Gesundheit und Entwicklung der Kinder ein. Oft wird die Möglichkeit zu einem interkollegialen Austausch aufgrund von Reglementierungen durch den Staat, Zeitmangel und rechtliche Vorgaben zur ärztlichen Schweigepflicht verwehrt.
Voneinander lernen will gelernt sein
Im Rahmen einer exemplarischen Familienfallkonferenz wurde mit Hilfe eines konkreten Falls ein offener, interkollegialer Austausch angeregt. Beteiligte Professionen der Frühen Hilfen hatten die Möglichkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und voneinander zu lernen. Darüber hinaus wurden Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen diskutiert und Ideen zu Beratungs- und Hilfsangeboten zur Fallbewältigung zusammengetragen.
Während der Durchführung der Familienfallkonferenz zeigte sich, dass eine strukturierende Methode für eine zielgerichtete und konstruktive Diskussion zwischen verschiedenartigen Professionen sehr wichtig ist. Eine konsequente Moderation entlang einer definierten Falldramaturgie trägt dazu bei, alle Seiten eines Familienfalls zu beleuchten und den Fokus der Fallbewältigung nicht zu verlieren. Des Weiteren stellte sich heraus, dass die Durchführung einer Familienfallkonferenz „geübt“ werden muss, damit eine stringente und gewinnbringende Diskussion entsteht. Die Entwicklung einer konkreten Lösung für die betroffene Familie ist nicht das primäre Ziel der Familienfallkonferenz, da eine vollständige Abbildung des Falls in der Praxis nur selten möglich ist und somit wichtige Fakten zur Fallbewertung fehlen können. Vielmehr geht es darum, das gemeinsame Lernen und den Austausch zu konkreten Problematiken aus der Praxis anzuregen, um neue Perspektiven und Ansätze kennenzulernen.
Um weiter an der Methode der Familienfallkonferenz „zu üben“, wird es 2015 eine erneute exemplarische Familienfallkonferenz in Thüringen geben. Anhand des Fachnachmittags am 03.12.2014 hat sich gezeigt, dass im nächsten Jahr neben der Perspektive einer Expertin bzw. eines Experten zum Thema „ärztliche Schweigepflicht“ auch der Blickwinkel einer Familienrichterin bzw. eines Familienrichters nicht fehlen darf. Bei der Diskussion um Zuständigkeiten sollte darüber hinaus nicht die Anwaltschaft gegenüber den betroffenen Kindern verloren gehen, sondern gezielt die Möglichkeiten der Frühen Hilfen genutzt werden.
Die Dokumenation der Veranstaltung können Sie auf der Seite der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung Thüringen e.V. - AGETHUR - einsehen.