17.01.2012
Alle Jahre wieder: der Kongress Armut und Gesundheit
Ein Kommentar
Joseph Kuhn, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Schlagwörter:Kommentar, Kongresse, Video
Zum 17. Mal findet jetzt der Kongress Armut und Gesundheit statt. Reicht das nicht langsam? Weiß man nicht inzwischen zur Genüge, dass sozial Benachteiligte kränker sind, seltener zum Arzt gehen und früher sterben? Ja, man weiß es zur Genüge - und will es doch nicht wissen, wenn es um die großen und kleinen Weichenstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung geht. Da werden dann die Hürden beim Bezug von Sozialleistungen wieder etwas höher gezogen, weil die Finanzen so knapp sind oder eine neue Variante von prekärer Arbeit etabliert, weil der Wettbewerb mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt erfordert. Die Armen als Mobilisierungsreserve der Gesellschaft - dieses neoliberale Denken ist nach wie vor weit verbreitet und es hat gesundheitliche Folgen.
Dass arm und krank zusammenhängen, weiß man in der Tat seit langem, man könnte bis zu Johann Peter Franks berühmter „Akademischen Rede vom Volkselend als der Mutter aller Krankheiten“ in Pavia 1790 zurückgehen, oder zu dem fast vergessenen, aber wegweisenden Buch „Krankheit und soziale Lage“ von Max Mosse und Gustav Tugendreich, das - 1913 erschienen - mit seiner breiten Betrachtung gesundheitlicher Ungleichheit in den verschiedenen Lebensbereichen schon vor 100 Jahren den Lebenslagenansatz vorweggenommen hat. Soziale Ungleichheit und ihre gesundheitlichen Folgen haben in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedeutung, aber sie sind für Public Health nie bedeutungslos und gegenwärtig ist ihre Bedeutung trotz einer vergleichsweise guten sozialstaatlichen Absicherung groß. Soziale Ungleichheit nimmt in Deutschland zu. Die Realeinkommen der Geringverdiener sind in den letzen 10 Jahren nicht gestiegen. 10 Jahre Unterschied in der Lebenserwartung trennen das untere und das obere Einkommensfünftel. Das ist angesichts des gesellschaftlichen Reichtums und der Möglichkeiten, die diese Gesellschaft hätte, um mehr Chancengleichheit zu schaffen, eigentlich ein sozialpolitischer Skandal.
„Eigentlich“ - weil ein Skandal nur dann ein Skandal ist, wenn es darüber auch öffentliche Empörung gibt. Dass die 10 Jahre kürzere Lebenszeit für Geringverdiener je zu öffentlicher Empörung geführt hätte, ist nicht bekannt. Man empört sich - zu Recht oder zu Unrecht - über den Bau des Stuttgarter Tiefbahnhofs, über Dioxin in Eiern, über Guttenbergs Plagiat oder über Wulffs verbale Umrundungen der ganzen Wahrheit bei einem Hauskredit. Die gesundheitlichen Folgen der sozialen Ungleichheit sind dagegen kein Medienthema. Da stellen Journalisten keine 500 Fragen an das Bundespräsidialamt, da campen keine Demonstranten vor dem Gesundheitsministerium. Weil das so ist, braucht es Foren, in denen über Armut und Gesundheit gesprochen wird, in denen große Visionen einer gerechteren Gesellschaft und kleine Projekte der Suchthilfe für Arbeitslose oder der HIV-Aufklärung für Migrantinnen und Migranten vorgestellt, diskutiert und gewürdigt werden. Der Austausch dient der Selbstverständigung und Selbstvergewisserung einer Sozialkritik, die weiß, dass sie die Welt nicht von heute auf morgen verändern wird, die aber auch die 10 Jahre Unterschied der Lebenserwartung zwischen arm und reich nicht kommentar- und tatenlos hinnehmen will.
Der Kongress Armut und Gesundheit ist ein solches Forum. Er bringt Jahr für Jahr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Gesundheitsverwaltung, aus Krankenkassen, Gewerkschaften, Projektbeteiligte, Studierende und Neugierige zusammen, einen gesellschaftlichen Querschnitt Interessierter und Engagierter, und leistet so einen Beitrag dazu, die gesundheitlichen Folgen sozialer Unterschiede immer wieder bewusst zu machen und bewusst zu halten.
Wirksamkeit und Qualitätsentwicklung als Schwerpunkte des diesjährigen Kongresses: Es gibt keine nachhaltige Wirksamkeit, wenn Gesundheitsförderung und Prävention auf dem gesellschaftlichen Treibsand sozialer Ungleichheit aufgebaut sind. Die berühmte „working upstream“-Metapher, die so oft bemüht wurde, um den Vorteil der Prävention vor der reparierenden Kuration zu veranschaulichen, gilt auch für die Prävention selbst. Es genügt nicht, den sozial produzierten Gesundheitsrisiken auf der individuellen Ebene mit Gesundheitskursen hinterherzulaufen. Prävention, die langfristig etwas bewirken will, muss versuchen, den Prozess der sozialen Risikoproduktion selbst zu beeinflussen. Gemeinsam, mit allen, die dazu etwas beitragen können und wollen. Der Rückblick auf das Mosse-Tugendreich-Buch zeigt, dass das ein Sisyphos-Projekt ist, oder positiver formuliert: eine Daueraufgabe nachhaltiger gesellschaftlicher Reproduktion. So gesehen, spricht vieles für die Notwendigkeit, im Jahr 2095 den 100. Kongress Armut und Gesundheit durchzuführen.
Sie können sich zum 17. Kongress Armut und Gesundheit am 9. und 10. März 2012 in Berlin online anmelden! Das Kongressprogramm finden Sie hier.