29.07.2014
Alter und soziale Ungleichheit – eine Herausforderung für Kommunen
Rudolf Herweck, Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) e.V.
Angela Fehr, Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG)
Schlagwörter:Bewegungsförderung, Gesundheitsziele, Kommunen, Ältere
Soziale Ungleichheiten beeinflussen auch die Gesundheit älterer Menschen. Mit zielgruppen- und settingspezifischem Vorgehen können Kommunen zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten und zur erfolgreichen Umsetzung des nationalen Gesundheitsziels „Gesund älter werden“ beitragen.
„Gesund älter werden“: Ein nationales Gesundheitsziel
„Gesund älter werden“ wurde im Jahr 2012 als siebtes und jüngstes nationales Gesundheitsziel verabschiedet. Gesundheitsziele sind im Konsens entwickelte Vereinbarungen der Akteure im Gesundheitssystem und darüber hinaus, die im Kooperationsverbund gesundheitsziele.de zusammengeschlossen sind. Seit fast 14 Jahren engagieren sich mehr als 120 Organisationen bei gesundheitsziele.de. Die Beteiligten am Gesundheitsziele-Prozess gehen Selbstverpflichtungen zur Umsetzung der Gesundheitsziele in ihren Verantwortungsbereichen ein.
Das nationale Gesundheitsziel „Gesund älter werden“ gliedert sich in drei Handlungsfelder und in 13 Einzelziele. Handlungsfeld I befasst sich mit Gesundheitsförderung, Prävention und dem Erhalt der Autonomie für ältere Menschen. Handlungsfeld II betrachtet die gesundheitliche, psychosoziale und pflegerische Versorgung, Handlungsfeld III widmet sich besonderen Herausforderungen. Hierbei geht es um ältere Menschen mit Behinderungen, die psychische Gesundheit älterer Menschen, Demenzerkrankungen, Multimorbidität sowie Pflegebedürftigkeit.
Alter und soziale Ungleichheit
Signifikante Zusammenhänge zwischen ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen und schlechterer Gesundheit sind bis ins hohe Alter belegt.1 In zahlreichen Ländern (USA, Großbritannien, Skandinavien, Deutschland) konnten Zusammenhänge zwischen Morbidität (Häufigkeit von Hüftfrakturen, subjektive Gesundheit, Anzahl chronischer Krankheiten, Funktionsverlust), Mortalität und sozioökonomischen Indikatoren (durchschnittliches Einkommen im Wohnbezirk, Einkommen, Bildungsstatus, Vermögen, Hausbesitz) gezeigt werden.2 Für Deutschland stellten Lampert et al.3 fest, dass Männer mit 0-60% des durchschnittlichen Einkommens gegenüber der höchsten Einkommensgruppe (über 150% des durchschnittlichen Einkommens) eine um 10,8 Jahre reduzierte Lebenserwartung haben. Die gesunde Lebenserwartung von Frauen in der niedrigsten Einkommensgruppe ist im Vergleich zu Frauen in der höchsten Einkommensgruppe um 9,2 Jahre reduziert. Zwar sind ältere Menschen heutzutage gesünder als frühere Generationen und die Zeit, die wir in Krankheit oder Behinderung verbringen, hat sich - bei gleichbleibender oder verlängerter allgemeiner Lebenserwartung - verkürzt. Von dieser als „compression of morbidity“ bezeichneten Entwicklung profitieren untere Schichten allerdings deutlich weniger.4
Was können Kommunen tun?
Krankheitsgeschehen und Alterungsprozesse sind beeinflussbar. Dies betrifft auch, aber nicht nur, die medizinische und pflegerische Versorgung älterer Menschen. Ebenso wie ungünstige Umwelt- oder Lebensverhältnisse die Gesundheit älterer Menschen verschlechtern, wirken günstige Bedingungen gesundheitsförderlich. Erforderlich für eine Gesundheitsförderung sind Konzepte, die an den Lebenswelten älterer Menschen ansetzen und insbesondere Risikogruppen in den Blick nehmen. AGNES, Aktivierende Gesundheitsförderung durch nachbarschaftliches Engagement im Stadtteil, ist eines von zahlreichen Beispielen für die Umsetzung der Teilziele von „Gesund älter werden“. Das Projekt wurde von 2009 bis 2012 vom BMBF als Modellprojekt im Stadtteil Leipziger Osten durchgeführt. Ein Gesundheitsladen mit kostenloser Sozial-, Pflege- und Wohnungsberatung diente als Anlaufpunkt mit Fokus auf sozial benachteiligte Ältere und Ältere mit Migrationshintergrund. Veranstaltungen informierten zu Themen wie Ernährung und Sturzprävention, Treffen und Kurse stärkten das Engagement der Bürgerinnen und Bürger und ihre Verankerung in der Nachbarschaft. Das Netzwerk „Seniorenarbeit im Leipziger Osten“ mit Vertreterinnen und Vertretern aus Vereinen und sozialen Einrichtungen, der Stadtverwaltung und der Wohnungswirtschaft, setzten den begonnenen Austausch nach Ende des Projektes fort.5
Gesellschaftliche Teilhabe trägt zur Gesunderhaltung und zur Lebensqualität bei.6 Durch entsprechende kommunale Unterstützungs- und Bildungsangebote können ältere Menschen zu ehrenamtlichen, politischen oder sportlichen Aktivitäten ermutigt werden. Dabei bedingen Teilhabe und Mobilität sich wechselseitig. Barrierefreie Wohnungen, öffentlicher Personennahverkehr, die bewegungsförderliche Gestaltung des öffentlichen Raums, ausgestattet mit Parks, mit Ruhemöglichkeiten und mit öffentlichen Toiletten, fördern die Mobilität und die Teilhabe älterer Menschen. Ein Beispiel dafür ist das Modellprojekt WohnQuartier4 - „Die Zukunft altersgerechter Quartiere gestalten“, das aus Mitteln der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW gefördert wird. An zwei Standorten, in Essen und Remscheid, setzen die Kooperationspartner HOCHTIEF Construction AG, Evangelisches Erwachsenenbildungswerk Nordrhein und Diakonisches Werk Rheinland ein Konzept um, welches die vier Faktoren Wohnen/Wohnumfeld, Gesundheit/Service/Pflege, Partizipation/Kommunikation und Bildung/Kunst/Kultur integriert. Das Projekt zielt auf die Durchführung kleinräumig angelegter Sozialplanung und Praktizierung quartiersbezogener partizipativer Arbeitsansätze, bei denen ältere Menschen besonders angesprochen und einbezogen werden.
Ausblick
Kommunen können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, älteren Menschen mehr Mobilität, mehr Teilhabe, mehr Selbstständigkeit und somit mehr Gesundheit zu ermöglichen. „Gesund älter werden“ als nationales Gesundheitsziel bietet eine Fülle von Anregungen, Maßnahmen und Umsetzungsvorschlägen für kommunale Aktivitäten. Wünschenswert wäre die Festlegung eines Leitbilds oder die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts einer gesundheitsförderlichen Politik für und mit älteren Menschen. Die Einbeziehung älterer Menschen in kommunale Planungen (Befragungen, Monitoring, partizipative Sozialplanung) ist von großer Bedeutung für das Gelingen eines solchen Gesamtkonzeptes.
Literaturangaben
1 Ben-Shlomo Y. Rising to the challenges and opportunities of life course epidemiology. International Journal of Epidemiology. 2007; 36:482-483.; Breeze E. Health inequalities in old age in Britain. In: Dangour A, Grundy E, Fletcher A, editors. Ageing well. Nutrition, health, and social interventions. London: CRC Press; 2007. S. 85-126; Nicholson A, Bobak MM, Michael Rose R, Marmot M. Socioeconomic influences on self-rated health in Russian men and women - a life course approach. Social Science & Medicine. 2005; 61:2345-2354.
2 Avlund K, Damsgaard MT, Osler M. Social position and functional decline among non-disabled old men and women. European Journal of Public Health. 2004; 14(2):212-216; Bacon WE, Wilbur CH. Occurrence of hip fractures and socioeconomic position. Journal of Aging and Health. 2000; 12(2):193-203; Berkman CS, Gurland BJ. The relationship among income, other socioeconomic indicators, and functional level in older persons. Journal of Aging and Health. 1998; 10(1):81-98.
3 Lampert T, Kroll LE, Dunkelberg A. Soziale Ungleichheit der Lebenserwartung in Deutschland. Aus Politik und Zeitgeschichte. 2007; (42):11-18.
4 Kroll LE, Lampert T, Lange C, Ziese T. Entwicklung und Einflussgrößen der gesunden Lebenserwartung. Berlin: WZB-Discussion-Paper; 2008.
5 Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (BAGSO). Gesund älter werden. Initiativen und Projekte zur verbesserung der Lebensqualität und der Gesundheit älterer Menschen. Publikation Nr. 36, 2013
6 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag der älteren Menschen zum Zusammenhalt der Generationen. Berlin: Deutscher Bundestag; 2006.; Wilson J. Volunteering. Annu. Rev. Sociol. 2000. 26:215-40.
Sie finden Faktenblätter zum Thema "Gesund älter werden" auf der Webseite www.gesundheitsziele.de in der linken Navigation unter Nationale Gesundheitsziele > Gesund älter werden.
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