31.07.2017
Anmerkungen zu aktuellen Präventionsdiskursen und -politiken
Stellungnahme des Bundesjugendkuratoriums zu Prävention, Kinderschutz und Gesundheitsförderung
Anna Schweda-Möller, Deutsches Jugendinstitut Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik
Schlagwörter:Bildung, Jugendliche, Kinder, Präventionsgesetz
Sowohl das Bundeskinderschutzgesetz als auch das Präventionsgesetz haben die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen im Blick und zielen darauf ab, Gefahren und Beeinträchtigungen zu vermeiden. In seiner Stellungnahme diskutiert das Bundesjugendkuratorium (BJK) beide Gesetze im Zusammenhang, hinterfragt überzogene Erwartungen an Prävention und regt zu einer breit angelegten und grenzüberschreitenden Verantwortungsübernahme an.
Zu den präventionspolitischen Entwicklungen und gesetzliche Maßnahmen
Das Bundeskinderschutzgesetz
2009 hatte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) einen ersten Entwurf für ein Bundeskinderschutzgesetz vorgelegt, der jedoch wegen seines zu einseitig auf Intervention ausgerichteten Ansatzes kritisiert wurde. 2010 unternahm das BMFSFJ einen zweiten Anlauf für ein Bundeskinderschutzgesetz, das sowohl eingreifende als auch vorbeugende Maßnahmen umfassen sollte. Der Bundesrat verweigerte seine Zustimmung, vor allem wegen der unzureichenden finanziellen Absicherung Früher Hilfen.
Die Verankerung der Frühen Hilfen
Nachdem die Bundesregierung die Beteiligung des Bundes an der Finanzierung erhöht und auf den Aufbau von Netzwerken Früher Hilfen ausgedehnt hatte, stimmten sowohl der Bundesrat als auch der Bundestag zu, so dass das Gesetz am 1. 1.2012 in Kraft treten konnte. Ein wichtiger Bestandteil des Gesetzes ist die Verankerung der Bundesinitiative Frühe Hilfen. Aufbauend auf den in den Ländern und Kommunen bereits vorhandenen Strukturen soll damit ein bundesweit vergleichbares Angebot für Familien im Bereich Frühe Hilfen geschaffen werden. Seit 2012 ist das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) die Koordinierungsstelle des Bundes für die Bundesinitiative Frühe Hilfen. Mit den Frühen Hilfen wurde eine Versorgungslücke in der Kinder- und Jugendhilfe geschlossen, welche die unzureichende Unterstützung von Familien mit unter dreijährigen Kindern betraf. In diesem Kontext werden Maßnahmen und neue Angebotsformen etabliert, die an der Schnittstelle von Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheitssystem liegen, deren Stärkung das NZFH seit seinen Anfängen als Grundidee verfolgt.
Frühe Hilfen als primäre und sekundäre Prävention
Kinderschutz ist im Bundeskinderschutzgesetz in zweifacher Weise gefasst: Das Gesetz enthält überwiegend Vorschriften zum Kinderschutz im engeren Sinne, also zum Umgang mit vermuteter oder bereits festgestellter Kindeswohlgefährdung. Im weiteren Sinne sind Regelungen dazu enthalten, wie die Bedingungen des Aufwachsens für Kinder und Jugendliche so verbessert werden können, dass insgesamt eine gesunde Entwicklung befördert und das Risiko einer späteren Kindeswohlgefährdung reduziert wird. Diese doppelte Konzeption Früher Hilfen als primäre und sekundäre Prävention ist sowohl auf konzeptioneller Ebene als auch auf der Ebene der Fachpraxis eine hoch komplexe Herausforderung.
Einschätzung/Handlungsbedarfe
Es muss weiter geklärt werden, wo und wie primärpräventive Maßnahmen der Information, Beratung und Unterstützung in sekundärpräventive Maßnahmen der längerfristigen Begleitung von Familien, z.B. durch Familienhebammen, übergehen oder die Hilfe über die Frühen Hilfen hinausgehen muss und Hilfen zur Erziehung oder auch die Abklärung von Kindeswohlgefährdung anstehen. Diese Punkte sind in der Fachpraxis wesentlich für die Einschätzung von Problemlagen und Passungen der verschiedenen Hilfeangebote und Interventionen in konkreten Fällen.
In diesem Zusammenhang bedarf es einer hohen Sensibilisierung aller Professionellen für die Gefahr der Stigmatisierung von Familien. Eine zu starke Fokussierung auf Eltern in als prekär markierten Lebenslagen kann dazu führen, dass eine Gruppe von Eltern anhand von zuvor definierten Risikofaktoren als Problemgruppe konstruiert wird.
Das Präventionsgesetz
In der Ressortzuständigkeit des Bundesgesundheitsministeriums entwickelten sich die Bemühungen um das Präventionsgesetz, das eine ähnlich lange Vorgeschichte wie das Bundeskinderschutzgesetz hat. Seit mehr als zehn Jahren wurde ein „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ zwischen Politik, Fachwelt und Praxis kontrovers debattiert, bevor es am 18.06.2015 im vierten Anlauf verabschiedet wurde. Frühere Entwürfe hatten Kritik auf sich gezogen, die auch hier einer zu geringen Finanzausstattung galt. Von Seiten der Kinder- und Jugendhilfe und den Wohlfahrtsverbänden wurde dabei außerdem kritisiert, dass Kinder und Jugendliche und ihre Lebenswelten in den ersten Gesetzesentwürfen zu wenig berücksichtigt wurden. Als Ressortgesetz des Bundesministeriums für Gesundheit adressiert es ausschließlich die Sozialversicherungen (Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung) und verpflichtet diese zur Gesundheitsförderung. Damit betrifft es weder die Kinder- und Jugendhilfe noch andere Ressorts unmittelbar.
Gesundes Aufwachsen wird im Präventionsgesetz als ein Gesundheitsziel definiert und Lebenswelten als für die Gesundheit bedeutsame soziale Systeme des Wohnens, des Lernens, des Studierens, der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie der Freizeitgestaltung. Die Familie als ein zentraler Ort des Aufwachsens für die meisten Kinder und Jugendlichen passt an dieser Stelle nicht in die Logik des Gesetzes und wird darin nicht explizit erwähnt. Irritierend ist es nach Ansicht des BJK, dass das Gesetz kaum an die bestehenden Strukturen der Unterstützung junger Familien im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe und insbesondere der Frühen Hilfen anknüpft. Hier besteht noch Weiterentwicklungsbedarf.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wurde durch das Präventionsgesetz ab 2016 damit beauftragt, kassenübergreifende Leistungen zur Prävention in Lebenswelten zu entwickeln und deren Implementierung wissenschaftlich zu begleiten. Es bleibt abzuwarten, wie diese Leistungen konkret aussehen werden. Hier steht die Umsetzung noch am Anfang.
Zur Erarbeitung einer „Nationalen Präventionsstrategie“ wurde durch das Gesetz die Einrichtung von Präventionskonferenzen festgeschrieben. Neben den vier Sozialversicherungen wirken darin mit beratender Stimme auch Vertretende von Bundes- und Landesministerien, kommunalen Spitzenverbänden, der Bundesagentur für Arbeit, Sozialpartnerinnen und -partner, Patientnnen und Patienten sowie der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung (BVPG) mit. Bislang wurde noch nicht geklärt, ob und inwiefern die Kinder- und Jugendhilfe an den Präventionskonferenzen systematisch zu beteiligen ist. Nach Ansicht des BJK wird sie ihre Beteiligung daran eigeninitiiert einfordern müssen, um auch in diesem Kontext der Schnittstelle von Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe stärkeres Gewicht zu verleihen.
Empfehlungen des Bundesjugendkuratoriums
Mit seiner Stellungnahme schlägt das BJK vor, den Begriff der Förderung von Gesundheit und Wohlergehen bei Kindern und Jugendlichen stärker in den Fokus zu rücken. Während Prävention mit Blick auf die Vermeidung von etwas Unerwünschtem tendenziell einen defizitorientierten Blick auf Menschen und ihre Lebensumstände wirft, ist die Förderung des Wohlergehens stärker an den Ressourcen und der Beteiligung der Adressatinnen und Adressaten orientiert.
Das BJK warnt vor dem Trugschluss, dass mit Investitionen in frühe (primär)präventive Maßnahmen spätere Probleme in jedem Fall vermieden werden können. Die Konzepte Förderung, Unterstützung, Hilfe und Schutz sind eng mit dem Konzept der Prävention verwoben. Wenn dabei aber der Präventionsbegriff überproportional betont wird, dann hat das auch Auswirkungen auf die anderen Konzepte. Das BJK möchte zu einer Diskussion beitragen, in der die verschiedenen Handlungskonzepte der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer jeweiligen Berechtigung nebeneinander Bestand haben und nicht Prävention als das ‚bessere‘ - weil frühe und kostensparende - Handeln gilt.
Für die gesellschaftliche Querschnittsaufgabe der Ermöglichung des gesunden und sicheren Aufwachsens und Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen bedarf es einer breit angelegten Verantwortungsübernahme, die nicht nur auf den Bereich der Gesundheitspolitik oder der Kinder- und Jugendhilfe begrenzt bleiben sollte. Dies stellt nach Auffassung des BJK eine komplexe, ressortübergreifende, transorganisationale und multiprofessionelle Aufgabe dar. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, bedarf es einer fortgesetzten Auseinandersetzung und Verständigung zwischen unterschiedlichen beteiligten Ressorts, Disziplinen, Professionen, Trägern und Fachverbänden. Dieser Prozess steht erst am Anfang.
Prävention, Kinderschutz und Gesundheitsförderung
bei Kindern und Jugendlichen.
Anmerkungen zu aktuellen Präventionspolitiken und -diskursen (2017)
Inhaltsverzeichnis
- Anlass und Anliegen der Stellungnahme
- Präventionspolitische Entwicklungen und gesetzliche Maßnahmen
- Prävention - Ein Paradigma gesellschaftichen Handelns mit vielen Facetten und Ambivalenzen
- Kinder- und Jugendgesundheit im Blick? Herausforderungen in der Umsetzung des Präventionsgesetzes
- Die Logik des Bundeskinderschutzgesetztes und seine Evaluation
- Chancen und Grenzen von Prävention: Abschließende Anmerkungen und Empfehlungen
Die gesamte Stellungnahme steht unter www.bundesjugendkuratorium.de zum Download bereit und kann dort auch als Broschüre bestellt werden.