26.06.2015
Ausgezeichnet: "Lenzgesund"
Ellen Steinbach, Akademie für öffentliches Gesundheitswesen
Schlagwörter:Kommunen, Prävention, psychische Gesundheit, Soziale Stadt
Gratulation nach Hamburg-Eimsbüttel! Am 9. Februar erhielt das Präventionsprogramm „Lenzgesund“ den Qualitätspreis der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen 2014. Zweiter Preisträger war der Dortmunder Sozialpsychiatrische Dienst mit seiner Untersuchung zur Wohnungsverwahrlosung. Im folgenden Artikel steht das Good Practice Projekt „Lenzgesund“ im Mittelpunkt und damit die quartiersbezogene Gesundheitsförderung. Selten hat sich ein Gesundheitsamt über einen so langen Zeitraum, nämlich über mehr als 10 Jahre, und mit so vielen Kooperationspartnern so erfolgreich dafür engagiert, gesundheitsförderliche Lebensbedingungen in einem sozial benachteiligten Quartier zu schaffen - und das unter aktiver Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner. Der Name des Programms verweist auf das Quartier, um das es geht: die Lenzsiedlung.
Besuch der Lenzsiedlung im Hamburger Stadtteil Lokstedt an einem grauen, verregneten Januartag. Von der U-Bahn-Station Lutterothstraße sind es nur wenige Schritte zu den hoch aufragenden Häusern, die Ende der 1970er Jahre errichtet wurden. Eine typische Großsiedlung des Sozialen Wohnungsbaus. 3.000 Menschen leben hier auf engstem Raum in circa 1.200 Wohnungen, allerdings nicht abgelegen draußen am Stadtrand, sondern mitten in einem gewachsenen Bezirk.
Die Lenzsiedlung galt und gilt als ein multi-kulturelles Quartier mit besonderem Unterstützungsbedarf. Als im Jahr 2000 hier die Quartiersentwicklung (Teil des Senatsprogramms „Soziale Stadtentwicklung“, 1998 - 2004) und parallel dazu erste Angebote der Gesundheitsförderung starteten, lebte fast jeder dritte Bewohner von Sozialhilfe. Der Anteil der Arbeitslosen war doppelt so hoch wie in Hamburg. Knapp 40 Prozent der Bewohnerschaft hatten einen ausländischen Pass (Hamburg: 15 Prozent), weitere geschätzte 20 Prozent einen Migrationshintergrund. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen lag um circa 50 Prozent höher als in Hamburg. Und ein überdurchschnittlicher Anteil dieser Kinder und Jugendlichen lebte nur mit einem Elternteil zusammen. Ein Bericht aus dieser Zeit beschreibt heruntergekommene Gebäude und ungepflegte Außenanlagen.
Heute, 15 Jahre später, ist das nicht mehr der erste Eindruck. Heruntergekommen und ungepflegt wirkt die Anlage nicht, auch wenn die Masse an Beton den Besucher fast erschlägt. Gleich am Eingang jedoch eine besucherfreundliche Überraschung: Eine farbenfroh gestaltete Info-Tafel fungiert als Wegweiser. Der Weg zum Bürgerhaus mit dem „Lenz Treff“ ist leicht zu finden. Inmitten der Hochhäuser, in einer kleinen grünen Oase, gruppieren sich mehrere Häuser zu einem Bürgerzentrum mit diversen Angeboten für die Bewohner.
Im „Lenz Treff“ tagt an diesem späten Vormittag der offene Gesprächskreis für Mütter. Etwa 10 Mütter sind gekommen, um zu klönen und Informationen auszutauschen. Der Kaffee ist gekocht, belegte Brötchen stehen auf dem Tisch. Viel Holz und andere Naturmaterialien schaffen eine warme Atmosphäre. Der „Lenz Treff“ ist ein relativ neues „Format“ mit dem Schwerpunkt Familienförderung. Er beherbergt auch den Kinderclub, der täglich von 16:00 bis 18:30 Uhr geöffnet ist. Noch sind die Räume des Kinderclubs leer, die Kinder sind in der Schule. Trotzdem sind die Kinder ein Thema. Welche Schule ist für mein Kind geeignet? Über Fragen wie diese haben die Frauen heute Vormittag gesprochen. Die Stimmung ist gelöst, entspannt. Es wird viel gelacht. Adriana A. aus Armenien genießt es ganz offensichtlich, in dieser Runde zu sein. Seit 14 Jahren ist sie in Deutschland, seit 13 Jahren wohnt sie in der Lenzsiedlung. Ob sie regelmäßig kommt? Aber ja, meint sie, genau wie die anderen. Meist seien es sogar deutlich mehr Frauen, so um die 20. Die 37-jährige Mutter von zwei eigenen Kindern (8, 13 Jahre) und eines 22-jährigen Ziehsohns wurde am Anfang von einer Frau aus der Nachbarschaft mitgenommen, seitdem ist sie kontinuierlich dabei. „Ich bin hier reingekommen und nicht mehr rausgegangen“, beschreibt sie es. Regina C., ebenfalls Mutter von drei Kindern (30, 8 und 7 Jahre alt), nickt. Auch sie gehört zu den Stamm-Besucherinnen. Viele der hier vermittelten Angebote hat sie bereits wahrgenommen - zum Beispiel den „Babyführerschein“: An zwölf Kursterminen lernen die Eltern dabei alles, was wichtig ist zu den Themen Elternschaft und Bedürfnisse des Babys. Das Angebot der Zahnsanierung ohne Zuzahlung hat die 49-Jährige ebenfalls genutzt. Auf dieses Angebot, das durch eine besondere vertragliche Vereinbarung mit einem Dentallabor und kooperierenden Zahnärzten ermöglicht wird, machte sie Helena Behrens aufmerksam. Die junge Sozialpädagogin sitzt mit in der Runde. Sie ist „Gesundheitsscout“ und als solcher berät sie die Frauen und gibt Tipps, welche Versorgungsangebote für sie und ihre Kinder sinnvoll sind. Darüber hinaus unterstützt sie auch ganz praktisch. Regina C. zum Beispiel hat sie zum Vertragszahnarzt nach Kiel begleitet. Diese hat die Zahnsanierung einiges an Überwindung gekostet. Mehr als zehn Behandlungstermine waren erforderlich, aber sie hat durchgehalten und ist heute stolz auf sich selbst und dankbar. Sie strahlt. Ganz sicher werden auch ihre Kinder von der positiven Erfahrung profitieren, denn die 49-jährige Mutter hat erlebt: Man muss keine Angst vor dem Zahnarzt haben und es ist wichtig, auf die Zahngesundheit zu achten.
Schnell wechseln die Themen. Auffallend ist, wie selbstbewusst die Mütter in dieser Runde auftreten. Die Frauen kennen sich untereinander, sie reden frei und offen. Als Gast ist an diesem Tag auch die Leiterin des Gesundheitsamtes Hamburg-Eimsbüttel, Gudrun Rieger-Ndakorerwa, dabei. Sie nutzt die Gelegenheit zu erfragen, welche Gesundheitsförderungsangebote die Frauen im gerade begonnenen Jahr interessieren würden. Auf Antworten muss sie nicht lange warten. Spontan werden Ideen entwickelt, Wünsche geäußert. Der Zumba-Kurs im letzten Jahr sei toll gewesen. Ein Entspannungstraining wird gewünscht. Das habe man schon bei der Mutter-Kind-Kur kennen gelernt, „hat Spaß gemacht“. Die Rückenschule sei auch nicht schlecht. Aber ganz oben auf der Wunschliste steht der Familienurlaub. Die Mütter wissen, dass das Gesundheitsamt im letzten Jahr den Urlaub auf einem Bauernhof an der Ostsee - mit vielen Anregungen für eine naturbelassene gesunde Ernährung - finanziell unterstützt hat. Das Amt war einer von vielen Sponsoren, aber man habe schon, wie Gudrun Rieger einräumt, eine Weile diskutiert, ob man dieses Angebot wirklich fördern soll. Schließlich seien die Mittel für die Gesundheitsförderung begrenzt. Monika Blaß, Sozialpädagogin beim Bewohnerverein Lenzsiedlung, hat sie überzeugen können. Im Nachhinein fühlen sich alle Beteiligten bestätigt. Der Urlaub war immens wichtig. Noch heute schwärmen die Mütter davon: „der absolute Urlaub“.
Monika Blaß kennen (fast) alle. Sie ist gewissermaßen eine Frau der „ersten Stunde“. Die Gesundheitsförderungsangebote, die über das Programm Lenzgesund in die Siedlung hineingebracht wurden, hat sie begleitet und mit umgesetzt. Und das waren und sind einige. Anfangs richteten sich die Angebote speziell an die Zielgruppe Junge Familie (Familienhebamme, Babyführerschein etc.), später, im Laufe des Programms, wurden Angebote auch für weitere Zielgruppen entwickelt. Gerne zeigt Monika Blaß die anderen Einrichtungen des Bürgerzentrums: das Jugendhaus, das Bürgerhaus - im „Salon“ probt gerade der Seniorenchor „Those were the days my friend“ - und das Café Veronika. Jetzt, um 13:00 Uhr, sind hier fast alle Tische besetzt. Senioren sind da, aber auch Gäste aus der Umgebung. Der Koch Eric-Juma Stichel aus Nigeria hat gut zu tun. Frühstück, Mittagstisch, Kaffee und Kuchen gehören zum täglichen Standardprogramm. Und dann gibt es auch noch Koch-Workshops. Das Café Veronika ist etwas Besonderes: ein sozialer Betrieb, in dem Jugendliche ohne Schulabschluss im Gastronomiebereich lernen können. Sie erhalten hier eine Chance für ihre berufliche Zukunft.
Was für ein Gesamteindruck bleibt nach einem halben Tag in der Lenzsiedlung? Fraglos der eines sehr lebendigen Quartiers - ein Quartier, das die Menschen, die hier leben, mitgestalten. Es ist ihr Quartier.
Dieser Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Blickpunkt 1-2015. Diese können Sie unter www.akademie-oegw.de/blickpunkt-oeffentliche-gesundheit.html einsehen.
Dort findet sich auf Seite 5 außerdem ein Interview mit Christian Lorentz, Monika Blaß, Dr. Gudrun Rieger-Ndakorerwa und Prof. Dr. Alf Trojan zum Thema.
Die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen ist seit 2014 Mitglied des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit.