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14.05.2012

Benachteiligung im Gesundheitssystem

Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen belasten zunehmend auch den Mittelstand

Gerhard Trabert, Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.

Schlagwörter:Armut und Gesundheit, Gesundheitswesen, Prävention, Wohnungslose

Be­las­tung­en durch Zu­zah­lung­en und Eigenbeteiligungen, wel­che vermehrt auch den Mit­tel­stand be­tref­fen, die „Entsolidarisierung“ des Ge­sund­heitssystems und Absätze der Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung bei Menschen in Wohnungslosigkeit waren Themen auf dem 17. Kon­gress Ar­mut und Ge­sund­heit. Im Folgenden wer­den zentrale Inhalte und For­de­rung­en der Diskussionen vorgestellt.

Work­shop „Systematische Be­nach­tei­li­gung von Ar­mut
bet­rof­fener im Ge­sund­heits­sys­tem“

Dr. Uwe Den­ker stellte das Pro­jekt „Pra­xis oh­ne Gren­zen“ - Re­gi­on Bad Segeberg e.V. vor. Seit An­fang 2010 wer­den in die­ser me­di­zi­ni­schen Pra­xis all diejenigen untersucht, be­ra­ten und be­han­delt die „mit­tel­los“ sind und sich Krank­heit nicht leis­ten kön­nen, be­rich­te­te Den­ker. Mitt­ler­wei­le be­tei­li­gen sich ver­schie­de­ne Be­rufs­grup­pen ehrenamtlich an diesem Pro­jekt. So­ge­nan­nte „Ba­sis­är­zte“, Fachärzte, Phy­sio­the­ra­peu­ten, Apo­the­ker und „Be­hör­den­lot­sen“ (Belos). Zu­zah­lung­en, Ausweispapiere oder ei­ne Kran­ken­ver­si­cher­ten­kar­te wer­den nicht eingefordert bzw. erhoben. Den­ker be­rich­te­te auch über das sich ändernde Pa­tien­ten­spek­t­rum: So su­chen zahlreiche ehe­mals selbstständige und da­mit pri­vat ver­si­cher­te Menschen, die nach der Be­en­di­gung ihrer beruflichen Tä­tig­keit kei­nen Kran­ken­ver­si­che­rungs­schutz mehr be­sit­zen, gehäuft die „Pra­xis oh­ne Gren­zen“ auf.

Verena Lührs und Paul Wenzlaff vom Zen­trum für Qua­li­tät und Ma­nage­ment im Ge­sund­heits­we­sen, einer Ein­rich­tung der Ärz­te­kam­mer Nie­der­sach­sen (Hannover), stellten die 10 Jahre Eva­lu­a­ti­on der „Aufsuchenden medizinischen Versorgung für Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen in Hannover“ und deren Re­le­vanz für die „Armutsbevölkerung“ dar. In dem Pro­jekt „Auf­su­chen­de Gesundheitsfürsorge für Wohnungslose in Hannover“ wer­den Menschen versorgt, die durch individuelle oder gesellschaftliche Zugangsbarrieren die medizinischen Leis­tung­en des Re­gel­ver­sor­gungs­sys­tems nicht in An­spruch neh­men. Die Eva­lu­a­ti­on des Pro­jektes zeigt, dass der Ver­sor­gungs­be­darf steigt und ne­ben den Wohnungslosen auch vermehrt Pa­ti­ent/in­nen aus anderen Be­völ­ke­rungs­grup­pen, zum Bei­spiel aus fi­nan­zi­ell und so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Grup­pen, die An­ge­bo­te des Pro­jekts in An­spruch neh­men. Diese sogenannte „Armutsbevölkerung“ kann den Zu­zah­lung­en im Rahmen der me­di­zi­nischen Regelversorgung of­fen­sicht­lich nicht nach­kom­men und sucht als Al­ter­na­ti­ve die Woh­nungs­lo­sen­ver­sorgung auf.

Werena Rosenke von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (Bie­le­feld) referierte über die „Aus­wir­kung­en zunehmender Kostenbeteiligung und Eigenverantwortung auf die Ge­sund­heits­ver­sor­gung wohnungsloser und armer Pa­ti­ent/in­nen“. Um die medizinische Versorgung wohnungsloser Männer und Frauen auf­recht zu er­hal­ten, be­mü­hen sich die medizinischen Projekte der Woh­nungs­lo­sen­hil­fe seit An­fang 2004, die finanziellen Be­las­tung­en der Pa­ti­ent/in­nen (Praxisgebühr, Zu­zah­lung­en, Kauf von OTC-Präparaten etc.) mög­lichst ge­ring zu halten. Die steigende Zahl armer Mit­bür­ger/in­nen führt auch vermehrt Menschen oh­ne Er­fah­rung der Wohnungslosigkeit in diese Projekte - aus­schließ­lich auf­grund ihrer wirtschaftlichen Be­dürf­tig­keit. ALG II-Emp­fän­ger/in­nen und Emp­fän­ger/in­nen von Grund­si­cherung sind eben­so be­trof­fen wie auch ältere Menschen mit klei­neren Ren­ten und auf­zah­len­der Grund­si­cherung. Rosenke betonte, dass mit dem GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) die Ent­so­li­da­ri­sierung im Ge­sund­heits­we­sen vorangetrieben werde. Aufgrund ei­ner Vielzahl pri­vat zu fi­nan­zie­ren­der Zusatzleistungen, Eigenbeteiligungen und Zusatzbeiträge werde ei­ne Par­ti­zi­pa­ti­on am be­steh­en­den Ge­sund­heits­versorgungssystem mas­siv erschwert, teil­wei­se un­mög­lich gemacht.

In­ge Döring vom Ge­sund­heits­amt Kreis Heinsberg und Dr. Udo Puteanus vom Landesinstitut für Ge­sund­heit und Ar­beit Nordrhein-Westfalen (LIGA.NRW), Düs­sel­dorf, stellten ei­ne Stu­die zum The­ma „Medikamententafeln - ei­ne sinnvolle und notwendige ergänzende Versorgungsinitiative!?“ dar. Im Fo­kus des Referats standen die nicht rezeptpflichtigen Arz­nei­mit­tel, die bis auf wenige Aus­nah­men von den ge­setz­lich Versicherten selbst be­zahlt wer­den müs­sen. Döring machte deut­lich, dass so­zi­al be­nach­teiligte Menschen sich Arz­nei­mit­tel im Rahmen der Selbstmedikation häufig nicht leis­ten könnten, auf Un­ter­stüt­zung an­ge­wie­sen sind oder auf die Selbstmedikation verzichten.

Inzwischen haben sich in Deutsch­land ei­ni­ge Medikamenten-Tafeln etabliert, die den bedürftigen Men­schen Arz­nei­mit­tel zu ei­nem ermäßigten Preis an­bie­ten. Als Sponsoren tre­ten unterschiedliche Per­so­nen oder Institutionen auf. Döring und Puteanus stellten verschiedene Arz­nei­mit­telgruppen, Mög­lich­keit­en des vergünstigten Erwerbs und ei­ne entsprechende Bedarfsanalyse für so­zi­al benachteiligte Men­schen vor. Ob Medikamenten-Tafeln tat­säch­lich ei­ne sinnvolle Mög­lich­keit dar­stel­len, diesen Ver­sor­gungs­mangel zu schlie­ßen, wurde von den Workshop-Teilnehmer/in­nen kri­tisch diskutiert.

Ausblick: Menschen in Armut entlasten

Unser der­zeitiges Gesundheitsversorgungssystem ist so­zi­al un­ge­recht. Zahlreiche Bevölkerungsgruppen kön­nen die bestehenden medizinischen An­ge­bo­te nicht in An­spruch neh­men, da ih­nen die finanziellen Res­sour­cen feh­len. Alle Re­fe­rent/in­nen forderten dem­ent­spre­chend auch ei­ne Ent­las­tung von Ar­mut betroffener Men­schen durch ei­ne Strei­chung der Praxisgebühr, Be­frei­ung von Zu­zah­lung­en bei Medikamenten, Heil- und Hilfsmittel und kei­ner­lei neue Zuzahlungsmodelle und Er­he­bung von Sonderbeiträgen. Zu­dem muss das medizinische Versorgungskonzept in Deutsch­land so gestaltet sein, dass ei­ne Par­ti­zi­pa­ti­on durch jede/n Bür­ger/in mög­lich ist. Subversorgungseinrichtungen müs­sen sich im­mer wie­der kri­tisch reflektierend im Sinne ei­ner zusätzlichen Ausgrenzungsproblematik in Fra­ge stel­len. Auch wenn dies zum Überleben vieler Menschen in Deutsch­land der­zeit sinn­voll und not­wen­dig ist, muss ei­ne systemimmanente Regelversorgung angestrebt wer­den und letzt­end­lich mög­lich sein.

Work­shop „Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung im
Be­reich der me­di­zi­ni­schen Ver­sor­gung wohnungsloser Menschen“

Dr. Cars­ten Kö­nig und Dr. Viola Lenz von der Medizinische Hilfe für Wohnungslose Düs­sel­dorf e.V. stell­ten ih­re „In­iti­a­ti­ve Präventionsarbeit in der Obdachlosenmedizin - Imp­fung­en - DMP - Di­a­be­tes - COPD - KHK - Asth­ma - Vorsorgemaßnahmen“ vor. So wird ge­zielt ei­ne Primärprävention (Imp­fung­en), Sekundärprävention (Gesundheitschecks: Blut­druck, Di­a­be­tes usw.) und Tertiärprävention (u. a. Durch­füh­rung von Disease-Management-Programmen für die Krankheitsbilder KHK, COPD, Di­a­be­tes mellitus usw.) angeboten und durchgeführt.

Dr. Ma­ria Goetzens von der Elisabeth-Straßenambulanz, Zen­trum für Wohnungslose des Ca­ri­tas­ver­ban­des in Frankfurt, stellte Versorgungsstrategien zur Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung bei Men­schen in Woh­nungs­not so­wie Stra­te­gien ge­gen ei­ne Fehl- und Un­ter­ver­sor­gung von Migrant/in­nen vor.

Schließlich präsentierte Li­via Mutsch, In­iti­a­ti­ve neunerHaus - Hilfe für obdachlose Menschen in Wien (Ös­ter­reich), das Pilotprojekt „Gesundheitsstraße“: Niederschwellige Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on im Setting der Wohnungslosenhilfe. Die Be­woh­ner/in­nen be­kom­men da­bei an einem Tag die Mög­lich­keit, bei verschiedenen Stationen des Gesundheitsversorgungsangebotes des neuerHauses ihren Ge­sund­heits­zu­stand von Fachpersonal tes­ten zu las­sen und individuelle Be­ra­tung zu er­hal­ten. Die Er­fah­rung­en zei­gen, dass niedrigschwellige Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on positiv wir­ken, wenn Maß­nah­men im Setting der Wohnungslosenhilfe aufsuchend durchgeführt wer­den und aus­rei­chend Zeit für Gespräche so­wie Mo­ti­va­ti­on der Ziel­grup­pe zur Verfügung steht.

Prä­ven­ti­on und Ge­sund­heits­för­de­rung müs­sen ei­nen höheren Stel­len­wert in­ner­halb der Ge­sund­heits­ver­sor­gung von wohnungslosen Menschen ein­neh­men. Hier sind kreative und phan­ta­sie­vol­le An­ge­bots­kon­zep­te be­deut­sam, die ei­nen betroffenenzentrierten Motivationsanreiz be­in­hal­ten. Wenn dies erreicht wird, sind die Ak­zep­tanz, die konkrete Teil­nah­me und ei­ne nachhaltige Wir­kung mög­lich.

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