13.09.2012
Bessere Chancen für Menschen mit Demenz und ihre Familien
Demenz als gesellschaftliche Herausforderung
Heike von Lützau-Hohlbein, Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.
Schlagwörter:Betreuungsangebote, Demenz, Diskriminierung, Familie, Gesundheitswesen, Pflege, Selbsthilfe, Teilhabe
In Deutschland sind 1,4 Millionen Menschen von einer Demenzerkrankung betroffen, davon etwa zwei Drittel von der Alzheimer-Krankheit. Da die Anzahl der alten Menschen angesichts des demographischen Wandels weiterhin wachsen wird, steigt die Zahl der Demenzkranken bis zum Jahr 2050 auf etwa drei Millionen an, sofern kein Durchbruch in der Therapie gelingt. Demenzerkrankungen führen zum Abbau von geistigen Fähigkeiten (Gedächtnis, Denkvermögen), vielfach auch zu schwierigen sozialen Verhaltensweisen.
Zwei Drittel der Erkrankten werden in privaten Haushalten von Angehörigen versorgt. Eine angemessene soziale, medizinische und pflegerische Versorgung für Menschen mit Demenz und Unterstützung ihrer Familien sicherzustellen, ist eine große Herausforderung, die bisher nicht angemessen beantwortet wurde. Vielmehr ist festzustellen, dass Demenzkranke und ihre Familien in vielen wichtigen Bereichen benachteiligt sind:
- Medizin: Diagnose und Behandlung,
- Pflege und Betreuung,
- Teilhabe am Leben der Gemeinschaft,
- Unterstützung der Familien.
Bevor ich auf die Punkte im Einzelnen eingehen werde, möchte ich kurz verdeutlichen, dass Menschen mit Demenz keine einheitliche, sondern eine sehr differenzierte Gruppe sind.
Das Erscheinungsbild der Menschen mit Demenz ist vielfältig
Lange Zeit bestimmte die Vorstellung von bettlägerigen, schwer pflegebedürftigen, Menschen das öffentliche Bild der Demenz. Dies hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Auf den Kongressen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAlzG), in Talkshows oder anderen Veranstaltungen sind relativ junge Betroffene (um 60) mit beginnender Demenz an die Öffentlichkeit gegangen. Und es sind zahlreiche Bücher erschienen, wie zum Beispiel von Helga Rohra und Christian Zimmermann. „Es gibt ein Leben nach der Diagnose“ sagte Christian Zimmermann, der vor seinem 60. Lebensjahr von seiner Erkrankung erfuhr.
Betroffene reklamieren, dass Menschen mit Demenz das Recht haben, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren, dass sie ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben haben. Und jüngere Erkrankte, die noch erwerbstätig sind, protestieren dagegen „aussortiert“ zu werden. Sie wollen weiterhin arbeiten, auch wenn es in der bisherigen Berufsposition nicht mehr realisierbar ist. Aus diesem Grund sehen viele Betroffene das ehrenamtliche Engagement als weitere Teilhabemöglichkeit. So zum Beispiel möchten sich Erkrankte im frühen Stadium in der Betreuung engagieren, weil sie wissen, wie es Menschen mit Demenz geht.
Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass Menschen mit Demenz keine einheitliche Gruppe sind, sondern sich hinsichtlich Alter, Verlauf, Ausprägung der Symptome, Persönlichkeit und sozialer Situation stark unterscheiden. Bei beginnender Demenz können die Betroffenen mit Unterstützung noch weitgehend selbstständig leben. Im weiteren Verlauf werden sie zunehmend von Hilfe, Betreuung und Pflege abhängig.
Ein kleiner Teil ist schon um das 60. Lebensjahr herum betroffen. Doch der größte Teil der Erkrankten ist im hohen Alter und vielfach auch körperlich geschwächt. Von den derzeit 1,4 Millionen Demenzkranken sind 970.000 über 80 Jahre alt.
Festzuhalten ist, dass Menschen mit Demenz sehr unterschiedlichen Unterstützungsbedarf haben und damit maßgeschneiderte Lösungen in einem flexiblen, abgestuften Unterstützungssystem benötigen.
Pflege und Betreuung
Die Einführung der Pflegeversicherung war sicherlich ein Fortschritt, denn Pflege wurde zu einem gesellschaftlichen Thema. Doch von Anbeginn war deutlich, dass die Pflegeversicherung an körperlichem Pflegebedarf orientiert ist und Demenzkranke und psychisch Kranke unzureichend berücksichtigt wurden. Die Kritik daran wurde lange Zeit überhört, dann wurden kleinere Nachbesserungen eingeführt. Zuletzt durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, dessen Regelungen Anfang 2013 in Kraft treten werden: Sie bringen Verbesserungen für Demenzkranke, doch die erforderliche Neudefinition von Pflege wurde wiederum auf unbestimmte Zeit verschoben. Das ist besonders ärgerlich, da die von einer Expertenkommission ausgearbeiteten Vorschläge längst vorliegen.
Neben einem veränderten Begutachtungsverfahren und angemessenen Leistungen auch für Demenzkranke gilt es, Versorgungsstrukturen so auszubauen, dass die Erkrankten und ihre Familien die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Und es gilt natürlich die eklatanten Mängel in der Pflege abzustellen, wie sie in den Berichten des MDS hinsichtlich Dekubitus und Fixierungen in den Pflegeheimen festgestellt wurden. Auch die gerade für Demenzkranke wichtige soziale Betreuung und Aktivierung muss deutlich verbessert werden.
Teilhabe am Leben der Gemeinschaft
Menschen mit Demenz sind Teil der Gesellschaft. Neben medizinischer Behandlung, praktischer Unterstützung und Pflege brauchen sie vor allem das menschliche Miteinander. Dafür setzt sich die DAlzG ein und kann dabei auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verweisen, die die Inklusion behinderter Menschen fordert und seit 2009 geltendes Recht in Deutschland ist.
Die UN-Konvention bedeutet einen Perspektivwechsel: Menschen mit einer Demenz sind nicht in erster Linie hilfsbedürftige „Patienten“, sondern an der Gesellschaft teilnehmende Bürger. Anzustreben ist eine demenzfreundliche Gesellschaft, in der jeder Einzelne mit seinen Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit wahrgenommen wird und bei Bedarf Unterstützung erhält. Es gibt viele gute Ansätze, die noch ausgebaut werden müssen. Vereine, z.B. Sport- oder Gesangsvereine sorgen dafür, dass Menschen mit Demenz weiter teilhaben können. Vielerorts gibt es Alzheimer-Tanzcafés, gemeinsame Urlaube von Erkrankten mit Angehörigen und Ehrenamtlichen werden organisiert. In vielen Mehrgenerationenhäusern sind Menschen mit Demenz dabei, in Kontakt mit Kindern der Kindertagesstätte zu treten oder in Projekten mit Schulklassen mitzuwirken. In dem Projekt „Allein leben mit Demenz“ der DAlzG wurden Schulungsmaterialien für die Polizei, Bankmitarbeiter, den Einzelhandel und Nachbarn entwickelt, um dabei zu helfen, dass Menschen mit Demenz selbstständig und sicher in der Gemeinschaft leben können.
Unterstützung der Familien
Zwei Drittel der Demenzkranken werden in privaten Haushalten von ihren Angehörigen betreut und gepflegt. Dies ist oft mit großen körperlichen, seelischen und finanziellen Belastungen verbunden, die nicht selten zu Erschöpfung und Erkrankungen der Pflegenden führen. Die Angehörigen, die auch als „größter Pflegedienst der Nation“ bezeichnet wurden, leisten Enormes und ersparen der Gesellschaft hohe Kosten (etwa für Sozialhilfe im Pflegeheim). Hier muss sehr viel mehr getan werden für Beratung und Entlastung, etwa durch qualifizierte Tages- und Kurzzeitpflege, flexible niedrigschwellige Angebote, verbesserte Möglichkeiten, um Berufstätigkeit und Pflege zu verbinden, bessere Angebote zur Rehabilitation.
Es ist also noch sehr viel zu tun, um Ungerechtigkeiten abzubauen und Demenzkranken und ihren Familien bessere Lebenschancen zu eröffnen. Hier ist neben dem Staat, Sozialversicherungen und Gesundheitssystem besonders auch das bürgerschaftliche Engagement und die Selbsthilfe gefordert.
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz (DAlzG) ist eine gemeinnützige Selbsthilfeorganisation, die die Interessen Demenzkranker und ihrer Angehörigen vertritt. Sie ist der Bundesverband von Alzheimer Landesverbänden sowie von regionalen und örtlichen Gruppen. Die gegenwärtig 133 regionalen Mitgliedsgesellschaften in ganz Deutschland bieten unter anderem Beratung, Information und Gruppen für Angehörige an.
Beim bundesweiten Alzheimer-Telefon der Deutschen Alzheimer Gesellschaft erhalten Anrufer Informationen, individuelle Beratung und können Broschüren bestellen.
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