30.11.2020
Bewusst – Gesund – Aktiv: Gesundheitsförderung für Migrantinnen und Migranten im Quartier
Nina Ricarda Krause, Der Paritätische Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V.
Kadriye Eker, BARIS - Leben und Lernen e.V.
Ingrid Scholz, BARIS - Leben und Lernen e.V.
Schlagwörter:Gesundheitsförderung, Migration, Quartier
Der Forderung nach einer interkulturellen Öffnung des Gesundheitswesens trägt das in Federführung des Paritätischen Gesamtverbandes und mit wissenschaftlicher Begleitung durch die Universität Hamburg-Eppendorf bundesweit durchgeführte Projekt „Bewusst - Gesund - Aktiv: Gesundheitsförderung für Migrant/-innen im Quartier“ Rechnung.
Das zentrale Ziel des Projektes ist es, modellhaft an zehn Standorten in Deutschland Konzepte und Methoden zu entwickeln, die dazu geeignet sind, den Zugang von Menschen mit Migrationshintergrund zum Gesundheitswesen zu erleichtern und Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention zu entwickeln, zu erproben und vor Ort zu etablieren.
Das Projekt ist auf eine Laufzeit von 4 Jahren angesetzt und wird unter inhaltlicher sowie finanzieller Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen - vertreten durch den Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek), den BKK Dachverband, die IKK, der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau sowie der Knappschaft - durchgeführt.
Neben der Identifikation von Zugangsbarrieren, auf welche die Adressaten und Adressatinnen stoßen, stehen folgende Maßnahmen im Fokus:
- die partizipative Entwicklung von Konzepten und Methoden
- die praktische Erprobung der entwickelten Methoden
- die Sensibilisierung und Vernetzung bestehender Angebote der Gesundheitsförderung
- die Impulsgebung für die Verbesserung der Erreichbarkeit von Angeboten und Maßnahmen
Modellstandort Völklingen
Einer der Standorte des Kooperationsprojektes befindet sich im saarländischen Völklingen, einer durch Industrie geprägten Stadt, die zum Regionalverband Saarbrücken gehört. Dort unterhält der gemeinnützige Verein BARIS - Leben und Lernen e.V. mit seinen ca. 150 Mitgliedern gemeinsam mit der Arbeitskammer des Saarlandes seit mehr als drei Jahrzehnten das Interkulturelle Kompetenzzentrum. Diese auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene tätige Einrichtung hat langjährige Erfahrung bei der Durchführung von Gesundheitsprojekten, was unter anderem mit dem Landessieg beim Ideenwettbewerb des saarländischen Sozialministeriums „Gesund leben - gesund bleiben“ gewürdigt wurde.
Durchführung des Projektes im Saarland
Als wesentliche Elemente der erfolgreichen Durchführung des Modellprojekts gelten die zum Teil eng miteinander verwobenen Faktoren „Wertschätzung“, „Partizipation“, Kultursensibilität“ und „Anwendung kreativer Methoden“.
In der Maßnahme sollen die Bereiche „Gesunde Ernährung“, „Bewegung/Sport“, und „Psychische Gesundheit“ auf kognitiver und affektiver Ebene erfahrbar werden und für die Erweiterung von Handlungskompetenzen im Sinne von Selbstwirksamkeit genutzt werden. Hierzu werden für die insgesamt 150 Teilnehmende türkischer, kurdischer, algerischer und thailändischer Herkunft Vorträge, Kurse, Workshops und Exkursionen angeboten.
Thematisch gestaltet sich das Projekt äußerst vielfältig. Beispielsweise wurden Aktivitäten zu folgenden Themen und Schwerpunkten durchgeführt: gesundes Kochen und Backen, Wildkräuterwanderung, Atmung und Atemwegserkrankungen, Gymnastik, Selbstverteidigung, Brustkrebsfrüherkennung, Diabetes, Demenz, Suchtprävention, Sexuelle Gesundheit, Antistresstraining.
Identifizierte Zugangsbarrieren
Obwohl bei der Zielgruppe großes Interesse und Offenheit gegenüber gesundheitsrelevanten Fragestellungen feststellbar sind, bestehen einige Informationsdefizite und Berührungsängste mit den Gesundheitsangeboten. Die Angebote seitens der Krankenkassen sind meist nicht bekannt und/oder die Betroffenen fühlen sich nicht von ihnen angesprochen. Während Sprachprobleme dabei eine Rolle spielen, ist in vielen Fällen die fehlende Kultursensibilität der offerierten Programme ein Hinderungsgrund für die Annahme. Es dominiert - auch bei Menschen mit guten Deutschkenntnissen - die Einschätzung, die Angebote seien eher „für Deutsche gemacht“.
Die von den Krankenkassen geübte Praxis, Kurse über zehn Sitzungen mit verbindlicher Teilnahme durchzuführen, ist häufig wenig kompatibel mit der Lebensrealität der Betroffenen. Hinzu kommt, dass die Teilnahme an gesundheitsorientierten Angeboten meist das Problem der Vorfinanzierung und der Eigenbeteiligung aufwirft - Schwierigkeiten, die ebenso sozial benachteiligte Menschen ohne Migrationshintergrund betreffen.
Eine besondere Erschwernis ergibt sich abseits des Projektes im Themenfeld „Psychische Gesundheit“. Der Mangel an muttersprachlichen Fachkräften zur psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung bei gleichzeitig fehlender Finanzierung von Sprachmittlung führt zum Ausschluss fast aller Kassenversicherten, die nicht perfekt Deutsch sprechen - ein für die Betroffenen tragischer Umstand, der den Verantwortlichen seit vielen Jahren bewusst sein sollte.
Faktoren für die erfolgreiche Ansprache von Migrantinnen und Migranten
Damit Leistungsangebote des Gesundheitssystems besser von der Zielgruppe angenommen werden, lassen sich verschiedene Türöffner identifizieren. Dabei ist die den Teilnehmenden der Maßnahme entgegengebrachte Wertschätzung der zentrale Faktor für die erfolgreiche Umsetzung. Die Teilnehmenden dürfen nicht das Gefühl entwickeln, sie seien Forschungsgegenstand des Projektes. Hingegen sollten sie das Gefühl entwickeln, aktives Mitglied in einem bundesweit wichtigen Prozess zu sein.
Unabdingbar für Maßnahmen ist der Aspekt der Kultursensibilität. Dies gilt sowohl für die Erstellung des Konzeptes als auch für Durchführung und Personalisierung. So ist der Einsatz von muttersprachlichen Fachkräften oder die Beteiligung von Sprach- und Kulturmittler und -mitlerinnen von erheblicher Relevanz. Dies dient nicht nur der Überwindung der Sprachbarrieren; auch Sprachkundige nehmen sich als explizite Adressatinnen und Adressaten wahr, was zu einer erhöhten Akzeptanz des Angebotes führt. Im besten Fall stammen die muttersprachlichen Kursleiter und -leiterinnen aus der gleichen Community.
Wesentlich ist zudem, dass sich die inhaltliche Gestaltung an der Lebensrealität und den Alltagsgewohnheiten der Zielgruppe orientiert. So sollte eine adäquate Ernährungsberatung die alltäglichen Nahrungsgepflogenheiten der Teilnehmenden und ihren Familien aufgreifen.
Der Aspekt der Partizipation ist von wesentlicher Bedeutung. Bei Veranstaltungsthemen, die von Teilnehmenden selbst gewählt und im besten Fall selbst organisiert werden, zeigt sich der Effekt der Identifikationssteigerung in erheblichem Maße.
Nicht zuletzt ist die methodisch-inhaltliche Kreativität ein entscheidender Faktor, um die Motivation für die Thematik dauerhalt aufrecht zu erhalten. Im Sinne der zielgruppenorientierten Methodenvielfalt wechseln sich Integration des Vorwissens, Vorträge, Eigenaktivität und spielerische Elemente ab.
Weitere Aspekte für eine erfolgversprechende Implementierung von innovativen Maßnahmen - sowohl für Einzelmaßnahmen als auch für das Gesundheitswesen als Ganzes sind:
- interkulturelle Öffnung als Leitmotiv in allen Bereichen des Gesundheitswesens:
Die Förderung interkultureller Kompetenz könnte durch entsprechende Fortbildungen erhöht werden. Bei Personalentscheidungen könnte die verstärkte (prozentuale) Berücksichtigung des Migrationshintergrundes einen wichtigen Beitrag leisten. Die Bereitstellung eines Budgets für Sprach- und Kulturmittlung in Gesundheitseinrichtungen sollte eigentlich selbstverständlich sein. - Werbung über die Medien der Zielgruppen:
Die Werbung für Gesundheitsangebote über deutschsprachige Flyer, die gelegentlich in verschiedene Muttersprachen übersetzt werden, erweist sich als wenig hilfreich. Vielmehr sollten dafür die verschiedenen bereits vorhandenen Medien der Zielgruppen genutzt werden. - Synergieeffekte nutzen:
Die Angebote sollten sowohl auf lokaler als auch regionaler und wenn möglich auf Bundesebene vernetzt werden, um entsprechende Synergieeffekte zu nutzen. - Einbindung von relevanten Institutionen:
Konkrete Maßnahmen sollten auf der Grundlage von Wertschätzung und Partizipation unter intensiver Einbindung von Institutionen der Migrationssozialarbeit entwickelt und durchgeführt werden. Dadurch könnten bei einem überschaubaren finanziellen Einsatz viele gewünschte und bisher nicht erreichte Effekte erzielt werden.