06.01.2017
Brücken bauen in der Pflege
Nazife Sari , Interkulturelle BrückenbauerInnen in der Pflege
Schlagwörter:Interkulturalität, Kultursensibilität, Pflege, Ältere
Die Zahl der älteren (pflegebedürftigen) Migrantinnen und Migranten wird in den kommenden Jahren stark steigen und damit der Bedarf an Angeboten für diese Zielgruppe in der Pflege. Das Modellvorhaben Interkulturelle BrückenbauerInnen in der Pflege (IBIP) des Diakonischen Werk Berlin Stadtmitte e.V. leistet einen wesentlichen Beitrag zur interkulturellen Öffnung bzw. diversitätssensiblen Beratung in der Pflege. Die Projektkoordinatorin Nazife Sari stellt das Modellvorhaben im Interview näher vor. Die Fragen stellte Maria Nicolai.
- Das Projekt „Interkulturelle BrückenbauerInnen in der Pflege“ (IBIP) beschreitet neue Wege, um pflegebedürftigen Einwanderinnen und Einwanderern und ihren Angehörigen gleichberechtige Zugänge zu bestehenden Angeboten zu schaffen. Was ist an Ihrem Projekt innovativ?
Das Projekt IBIP entstand in Anlehnung an das Konzept der Stadtteilmütter für Familien. Als Modellprojekt wird das IBIP durch den GKV-Spitzenverband gefördert. In den drei Berliner Modellbezirken (Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln, Mitte) wird eine Pflegeberatung in sieben verschiedenen Sprachen (Arabisch, Französisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Serbokroatisch, Türkisch) angeboten. Pflegebedürftige Migrantinnen und Migranten, Familien mit einem pflegebedürftigen Kind und Angehörige werden mittlerweile in vier Berliner Pflegestützpunkten und drei Sozialstationen niedrigschwellig erreicht und kultursensibel über ihre Ansprüche sowie vorhandene Hilfsangebote informiert. Eine Besonderheit ist, dass auch der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK) für eine Zusammenarbeit gewonnen werden konnte. Dies eröffnete die Möglichkeit, die Begutachtungen des MDKs begleiten zu dürfen.
Die zehn BrückenbauerInnen Frauen und Männer unterschiedlicher Herkunftssprachen wurden zu Themen der Pflege ausführlich geschult und sind vermittelnd - „Brücken bauend“ - zwischen den Pflegefachkräften und den pflegebedürftigen Migrantinnen und Migranten tätig. Die enge Zusammenarbeit sowie die gemeinsamen Qualifizierungen von BrückenbauerInnen und Fachkräften der Pflege sensibilisiert die Fachberaterinnen und -berater für die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppe und stärkt ihre interkulturellen Kompetenzen.
- Gibt es besondere Faktoren, die Sie für die Erreichung pflegebedürftiger Migrantinnen und Migranten bedenken müssen?
Zu den besonderen Faktoren zählt, dass ältere Migrantinnen und Migranten in höherem Maße von sozialer Benachteiligung betroffen sind. Wenn man interkulturell arbeiten möchte, muss man sich mit Migrationsprozessen und den Biografien der Menschen auskennen. Insbesondere ältere Migrantinnen und Migranten der ersten Generation haben unter vergleichsweise schlechten Arbeitsbedingungen gearbeitet, so dass Multimorbidität, geringe Renten und schlechte Wohnverhältnisse ihren Alltag prägen. Das Risiko einer Pflegebedürftigkeit dieser Zielgruppe ist im Vergleich zur deutschen Bevölkerung erhöht.Hinzu kommt, dass ältere Migrantinnen und Migranten sowie Familien mit pflegebedürftigen Kindern und Migrationshintergrund vorhandene Angebote nicht entsprechend ihrer Bedarfe in Anspruch nehmen, da das Gesundheits- sowie Pflegesystem komplex und undurchschaubar wirkt. Eine Ausrichtung der vielfältigen Angebote entsprechend der Bedürfnisse oder Bedarfe von Betroffenen mit Migrationshintergrund fehlt oftmals.
- Was folgt daraus für die Entwicklung Ihres Modellprojektes? Wenn Sie von niedrig-schwelligen Zugängen sprechen, was meinen Sie genau damit?
Die sprachlichen, kulturellen und religiösen Bedürfnisse finden in den Maßnahmen der Altenhilfe- und Pflegelandschaft sowie der Prävention und Gesundheitsförderung keine ausreichende Beachtung. Eine niedrigschwellige Arbeitsweise ist wichtig vor dem Hintergrund von Barrieren, die struktureller, sprachlicher oder kultureller Art sein können. Viele ältere Migrantinnen und Migranten gehen beispielsweise nicht zu den Pflege-stützpunkten, da sie über dieses Beratungsangebot um die Ecke nicht informiert sind. Die Kommstruktur eines Angebotes stellt für viele eine Barriere dar. Daher beraten die BrückenbauerInnen im Tandem mit den Fachkräften auf Wunsch auch in der Häuslichkeit. Darüber hinaus nehmen sie im Rahmen von Infoveranstaltungen in Moscheen, Gemeinden, Cafés oder Seniorentreffpunkten selbst Kontakt zu den Familien auf.
Es gibt nach wie vor eine Vielzahl an Hemmschwellen. Dazu zählt die Angst vor Diskriminierung oder davor, dass man nur unzureichende Sprachkenntnisse verfügt, um seine Wünsche auszudrücken. Pflegethemen sind häufig mit Scham besetzt. Die BrückenbauerInnnen als Sprach- und Kulturmittelnde haben die Aufgabe, eine Brücke des Vertrauens aufzubauen und Zugänge zu verschaffen.
Ein Beispiel: Wir hatten den Fall einer russischsprachigen Dame, die sehr vereinsamt war und nur von ihrer Tochter gepflegt wurde. Die BrückenbauerInnen konnten sie dazu bewegen, eine russischsprachige Seniorengruppe aufzusuchen. Hierdurch wurde die Tochter entlastet und die Seniorin konnte neue soziale Kontakte knüpfen.
- Wie gelingt es, noch vor dem Eintreten einer Pflegebedürftigkeit Zugänge zur Zielgruppe zu finden? Welche präventiven oder gesundheitsförderlichen Potentiale sehen Sie?
Der erleichterte Zugang zur Zielgruppe und die damit einhergehende frühzeitige Wissensermittlung über Ansprüche, Leistungen und versorgungsrelevante Angebote wirkt einer Verschlechterung des Pflegezustands entgegen. Durch eine Vermittlung in gesundheitsförderliche Angebote kann der Eintritt der Pflegebedürftigkeit hinausgezögert werden. Dazu zählen ehrenamtliche Betreuungsangebote, Kurse für pflegende Angehörige, Ernährungs- und Bewegungskurse sowie kulturelle Veranstaltungen.
Insbesondere sehe ich in Selbsthilfegruppen ein großes entlastendes Potential. Auch vereinsamte Menschen mit Migrationshintergrund sind in der Lage Selbsthilfegruppen zu besuchen. Das Problem ist nur, dass in manchen Gesellschaften oder Communities Selbsthilfegruppen nicht bekannt sind, auch da es in ihrer Muttersprache keinen eindeutigen Begriff dafür gibt. Trotzdem gibt es bereits Beispiele von Senioren- oder Selbsthilfegruppen, die gut angenommen werden.
Zudem sind unsere größte Zielgruppe die pflegenden Angehörigen. Selbst wenn ihre Deutschkenntnisse besser sind als die von der ersten Generation, so bestehen große Wissenslücken. Hier informieren die BrückenbauerInnen präventiv, das heißt bereits im Vorfeld von Pflege. Sie führen Informationsveranstaltungen durch und erreichen damit nicht nur Ältere, sondern auch Angehörige, Bekannte aus der Nachbarschaft oder z. B. Lehrkräfte, die als Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren agieren können.
- Seit Februar 2016 sind nun die BrückenbauerInnen im Einsatz. Können Sie ein kleines Zwischenfazit ziehen und Faktoren benennen, die wichtig sind, um den Erfolg des Projektes nachhaltig zu sichern?
Der hauptamtliche Einsatz der BrückenbauerInnen hat bereits in diesem kurzem Zeitraum dazu geführt, dass insbesondere die am Modellprojekt beteiligten Pflegestützpunkte verstärkt von pflegebedürftigen Menschen mit Migrationshintergrund und ihren Angehörigen aufgesucht werden. Am meisten werden die Beratungen auf Arabisch und Türkisch genutzt. Aber auch Beratungen in Sprachen bei denen wir dachten, dass sie nicht so häufig nachgefragt werden, wie z. B. Rumänisch und Russisch, werden in Anspruch genommen.
Auch die Begleitung der MDK-Pflegebegutachtungen werden immer stärker genutzt. Dies ist sehr begrüßenswert, um den vielen Missverständnissen vor Ort entgegenzuwirken. Die Angehörigen sind bei diesen Begutachtungen meist überfordert und sprechen bestimmte Themen wie z. B. Inkontinenz aufgrund von Schamgefühlen nicht an.
Die Erkenntnisse aus dem Modellprojekt können einen Beitrag zur Weiterentwicklung der (interkulturellen) Pflegeberatung leisten. Um eine zielgruppengerechtere Versorgung zu gewähren, sollten bestehende Beratungskonzepte hinsichtlich der speziellen Bedürfnisse der älteren Seniorinnen und Senioren mit Migrationshintergrund überarbeitet werden. Bislang vorliegende Konzepte konzentrieren sich auf die einheimische Bevölkerung und wenig auf die eingewanderte Bevölkerung.
Hier geht es zur Homepage des Modellprojektes.