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18.03.2022

Buchrezension: Andreas Mielck, Verina Wild: Gesundheitliche Ungleichheit – Auf dem Weg von Daten zu Taten – Fragen und Empfehlungen aus Sozial-Epidemiologie und Public-Health-Ethik

Frank Lehmann, Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)

Schlagwörter:Ethik

Andreas Mielck und Verina Wild ist ein umfassendes Werk gelungen, mit dem der gesammelte Wissensstand über den Zusammenhang von Ungleichheit und Gesundheit zum aktuellen Zeitpunkt in Deutschland vorgelegt wird. Nach einer Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die dieses Thema in Deutschland aufgebaut und verankert haben, wird der Staffelstab damit an die nächste Generation übergeben. Gleichzeitig wird in dieser Tiefe erstmalig untersucht, wann und in welchem Umfang begründet von gesundheitlicher UNGERECHTIGKEIT gesprochen werden sollte - nicht zuletzt, um somit (politische) Handlungsoptionen zu eröffnen.

In den Aushandlungsprozessen, die zu Entscheidungen für oder gegen (möglichst bevölkerungsweit wirksame) Interventionen führen, sollte die Wissenschaft ihre Empfehlungen möglichst gut und differenziert begründen. Hieraus erwächst in diesem Buch die Überzeugung, dass endlich auch mehr gesundheitliche Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit in der deutschen Lebenswirklichkeit erreicht wird.

Über die in diesem Buch exemplarisch praktizierte Kooperation zwischen Sozialepidemiologie und Public Health Ethik hinaus sind Kooperationen zusätzlich mit Psychologie, Politologie und Ökonomie angelegt. Hierbei sollten Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Politiker*innen stets auf der Hut sein, vulnerable Gruppen nicht zusätzlich zu stigmatisieren und/oder zu diskriminieren. Vielmehr sollten diese Gruppen partizipativ als Gestaltende respektiert und einbezogen werden. Diese Haltung durchzieht das ganze Buch.

Start

Im ersten ausführlichen Kapitel wird festgehalten, dass es der Sozialepidemiologie innerhalb einer Generation gelungen ist, zum konstitutiven Bestandteil einer neu aufgebauten Gesundheitsberichterstattung zu gehören. Neben dem hervorzuhebenden Wert dieses Kapitels, gerade für Praktikerinnen und Praktiker - quasi enzyklopädisch - Wissen über Beschreibung, Erklärung und Aussagekraft der Erkenntnisse über gesundheitliche Ungleichheit zu erwerben, ist der Gesundheitsgerechtigkeitsgedanke auch hier immer immanent.

Beispielsweise wird die leidige Diskussion über Verhaltens- versus Verhältnisprävention angereichert durch den Aspekt der Freiwilligkeit gerade für die Menschen, die sich in einer schwierigen Lebenslagen befinden. Verhältnisprävention beinhaltet stärker die Ressourcenförderung und Mitgestaltung und dürfte somit auch unter Gerechtigkeitsaspekten eine zu bevorzugende Handlungsoption insbesondere für sozial Benachteiligte sein: je unfreiwilliger, desto ungerechter!

Hieraus folgt eine grundlegende, ethisch basierte Kritik an vielen Aktivitäten der Krankenkassen, die oft das Verhalten der Versicherten in den Fokus stellen. Für Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung der Krankenkassen ist bis heute der Nachweis ausstehend, ob diese – trotz klarer gesetzlicher Vorgabe – einen Beitrag zur Verminderung gesundheitlicher Ungleichheit geleistet haben.

Ein besonderer Exkurs findet auch zu Genetik und Epigenetik statt, denen allerdings schlussendlich nur ein geringer Beitrag zur Erklärung und Veränderung gesundheitlicher Ungleichheit zugeschrieben werden kann.

Abschließend wird die Entwicklung eines Erhebungsinstruments in der Sozialepidemiologie angeregt, mit dem gemessen wrd, inwieweit gesundheitliche Ungleichheit als gerecht oder ungerecht wahrgenommen wird.

zweiter Schritt

Im nächsten Kapitel geht es um die Hinterfragung der Werte und Werteabwägungen, die zum Schluss führen, dass gesundheitliche Ungleichheit (bzw. Gleichheit) ungerecht (bzw. gerecht) ist.

Aufsetzend auf einer kurzen Entwicklungsgeschichte von Public Health Ethik (aus der Bio-Ethik) wird die Kritik am Whitehead`schen Modell der sozialen Determinanten für Gesundheit in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wird durch Fundierung und Differenzierung – d.h. vor allem durch eine systematische Analyse bestehender Gerechtigkeitskonzepte - letztlich eine Weiterentwicklung vorgeschlagen.

Ohne hier auf die im Buch kurz und anschaulich dargestellten unterschiedlichen theoretischen Ansätze einzugehen, nur so viel:

  • Was wird verteilt (Ressourcen/Güter, Chancen/Capabilities oder Wellbeeing/Welfare)?
  • Wie wird es verteilt (egalitär – allen Menschen das gleiche; prioritär – den Benachteiligten zuerst; suffizient – allen so viel, dass ein Mindestwert erreicht ist)?

Den Kongress „Armut und Gesundheit“ hat die Gerechtigkeitsfrage schon immer bewegt. In diesem Buch werden die verschiedenen Gerechtigkeitskonzepte systematisch aufeinander bezogen: eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit von Gesundheit!

Hierdurch wird der Blick erheblich geweitet:

  • Um welche Wahrheiten und Werte - neben und in Verbindung mit der Gerechtigkeit - geht es uns: Autonomie, Solidarität, Freiheit, Demokratie?
  • Wahrscheinlich sind Einkommen, Bildung und Berufsstatus gar nicht die einzigen makrosozialen Merkmale für Ungleichheit, sondern auch andere Merkmale wie Macht und Prestige.
  • Müssten wir der Meso-Ebene des Whitehead`schen Modells (den intervenierenden Lebenskontexten) nicht ein stärkeres Gewicht geben?
  • Und nicht zuletzt: Müssten unter Gerechtigkeitsaspekten nicht komplexen Evaluationsmethoden der Vorzug gegeben werden, auch wenn sie teurer sind und langwieriger?

Nun zu den Taten

In den folgenden Kapitels geht es um die Konkretisierung und Anwendung der zuvor aufgeführten Sachverhalte, mit dem Blick auf die tatsächlichen Bestrebungen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit. Zusammengefasst: Es geht um ein Nationales Aktionsprogramm zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit (Health Equity in all Policies HEiaP).

Dieses könnte z.B. ausgehen von den gesundheitsbezogenen Ergebnissen des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (Anm. des Autors dieser Rezension). Zur Qualitätsbewertung bietet sich die Anwendung des - auch in der Gesundheitsversorgung eingesetzten - Qualitätsmodells von Donabedian an, aber mit dem wichtigen Zusatz 'mehr soziale Gleichheit' (d.h. mehr soziale Gleichheit in den Strukturen, in den Prozessen und in den Ergebnissen).

Die Forderung der WHO, dass die Ärzteschaft – zumal bei klar belegter gesundheitlicher Ungleichheit - öffentlich für die benachteiligten Patientinnen und Patienten Stellung beziehen sollte, findet aus Public Health Ethik Perspektive starke Unterstützung.

Innerhalb der Gesundheitsförderung -  die lange vor dem Beginn von Erkrankungen einsetzt, aber auch während der Erkrankungen einen wichtigen Stellenwert hat - liegen die gesammelten nationalen und internationalen Kenntnisse und Erfahrungen gebündelt als „12 Good Practice-Kriterien der soziallagenbezogenen Gesundheitsförderung“ vor. Sie wurden im Rahmen des Kooperationsverbunds Gesundheitliche Chancengleichheit in einem fruchtbaren Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis über viele Jahre entwickelt und bieten eine Richtschnur zur Durchführung von Maßnahmen zum Abbau gesundheitlicher Ungleichheit.

Dahinter steht weiterhin das Modell sozialer Einflussfaktoren auf die Gesundheit (causes of the causes) von Dahlgren und Whitehead, allerdings hier aktualisiert durch Mielck und Wild: stärkere Akzentuierung der Mesoebene durch Differenzierung der individuellen äußeren Lebensbedingungen (z.B. Arbeits- und Wohnbedingungen) von der individuellen sozialen Umwelt (z.B. soziale Unterstützung in der Familie).

Die Autor*innen regen an, dass die bestehenden Ansätze und Strategien (Verhältnisprävention, gesundheitsfördernde Gesamtpolitik, intersektoraler Ansatz, integriertes Handlungskonzept und Good Governance, sowie die Ergebnisse des Präventionsgesetzes, der Kooperationsverbünde „Gesundheitliche Chancengleichheit“ und „gesundheitsziele.de“) sorgfältig auf ihre Erträge hin untersucht und gemeinsam weiterentwickelt werden. Insbesondere die strukturellen Hemmnisse bei der Umsetzung der kommunalen Gesundheitsförderung sollten hierbei im Vordergrund stehen. Dies könnte aktuell eine zentrale Aufgabe im Pakt für den ÖGD und den Aufbau des im Koalitionsvertrag geplanten nationalen Instituts für öffentliche Gesundheit sein (Anm. des Autors dieser Rezenson).

Dazu regen die Autor*innen ein Verfahren als 7-Stufen-Plan an, der auch ethische und gesundheitsökonomische Bewertungen der Interventionsmaßnahmen enthält. Die Entscheidungsfindung sollte partizipativ angelegt sein und neben Wissenschaft und Praxis immer auch die Menschen umfassen, die erreicht werden sollen.

Abschluss

Abschließend wird die wissenschaftstheoretische Basis für die - im Buch beispielhaft praktizierte - interdisziplinäre Kooperation thematisiert und für die Einbeziehung weiterer Disziplinen (vor allem in Richtung Gesundheitsökonomie) geöffnet. Besonders interessant ist die Weiterentwicklung in Richtung 'Evidence based Public Health', da hier sowohl dem Ansatz der praxisbasierten Evidenz als auch der Wirkungsorientierung ein hoher Stellenwert beigemessen wird.

Das Buch endet mit einer Bewertung der Lage gesundheitlicher Ungleichheit in Deutschland zu Beginn des Jahres 2021, mit Blick vor allem auf die Corona-Pandemie.

Zusammengefasst liegt mit dem Buch von Andreas Mielck und Verina Wild (2021): Gesundheitliche Ungleichheit – Auf dem Weg von Daten zu Taten – ein wichtiges Nachschlagewerk zum aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland vor. Es wurde ein wichtiger Schritt in Richtung einer ethischen Bewertung gesundheitlicher Ungleichheit vollzogen, der insbesondere in der Politik zu fundierten Entscheidungen für bevölkerungsweit wirksame Interventionen für mehr Gesundheitsgerechtigkeit führen wird. Sehr anschaulich wird beschrieben, wie interdisziplinäre Zusammenarbeit im genannten Themenfeld aussieht, um zum Erfolg zu führen.

Insgesamt wird mit diesem Buch eine bessere wissenschaftliche Basis für die Entwicklung von Maßnahmen zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit geschaffen.

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