04.08.2016
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Wie können Suchtprävention und Gesundheitsförderung zusammen gedacht werden?
Hauke Wald, M.A., Hochschule Emden/Leer
Knut Tielking, Hochschule Emden/Leer
Henning Fietz, M.A., Fachstelle für Suchtprävention und Gesundheitsförderung, Delmenhorst
Schlagwörter:Kommunen, Prävention, Suchthilfe
Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) vermochte schon seinerzeit in einem seiner Werke (Metaphysik) die Dinge und ihr Zusammenwirken in abstrakter und plausibler Weise so zu beschreiben, dass diese in einer gewissen Hinsicht an die Strategien des heutigen Prozessmanagements erinnern (vgl. Dworschak / Senden 2011, S. 15). Übertragen auf den Kontext der modernen kommunalen Gesundheitsförderung und (Sucht-) Prävention, würde sich in Anlehnung an Aristoteles das Zitat „[d]as Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ mit dem systemischen Blick auf das Ganze verbinden lassen und ein vernetztes Denken erforderlich machen. Weiter noch kann für die kommunale Gesundheitsförderung und Prävention in diesem Kontext gefolgert werden, dass eine interdisziplinäre Systematisierung und zentrale Koordinierung der präventiven Maßnahmen in Kommunen nicht nur zwangsläufig über Synergieeffekte Ressourcen sparen würde, sondern insbesondere die Wirksamkeit der kommunalen Prävention und Gesundheitsförderung über die Summe der Wirkungen der einzelnen Maßnahmen hinausgehen würde.
Kommunale Suchtprävention und Gesundheitsförderung
Derzeit werden kommunale Suchtprävention und Gesundheitsförderung in der öffentlichen Wahrnehmung oft als zwei nebeneinanderstehende Ansätze gesehen. Dabei sind diese teilweise identisch, teilweise unterschiedlich und zum Teil nur schwer voneinander abgrenzbar. Gesundheit soll gefördert, Sucht und Krankheit hingegen vermieden werden, häufig getrennt voneinander. Zudem ist das Thema Sucht oftmals mit negativen, z.B. stigmatisierenden, Assoziationen verbunden (vgl. Rummel 2015, S. 274). Obendrein kommt hinzu, dass es an klaren Zielen ebenso wie an der Evidenzbasierung fehlt (vgl. Bühler/Truhl 2013; Hoff/Klein 2015). Auch wird die Elaboration von Wissen aus der Praxis als akzeptierte Referenz gefordert, um die Evidenzbasis der Gesundheitsförderung zu untermauern (vgl. Fietz/Tielking 2014, S. 39 ff.).
Betrachtet man allerdings die gesundheitsförderlichen Aktivitäten in den einzelnen Kommunen, fällt auf, dass Aristoteles‘ Erkenntnis dort bis heute nur teilweise angekommen ist. Das mag zum einen daran liegen, dass Kommunen im Verständnis und Kontext der Gesundheitsförderung eine „besondere Organisation“ sind und die kommunale Realität demnach nur schwierig greifbar ist bzw. Kommunen zuweilen als zu komplex konstituiert scheinen (vgl. Schlicht/Zinsmeister 2015, S. 116). Das heißt: Ganzheitlichkeit von Gesundheit wird von Kommunen bis dato so generiert (suggeriert), indem interdisziplinäre Bausteine (von Jugend, Gesundheit, Soziales, Bildung und Stadtteil- bzw. Nachbarschaftsentwicklung) zusammengesetzt werden (vgl. Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit 2013, S. 11). Ihr Zusammenwirken wird allerdings - gerade auch im Hinblick auf das Endergebnis (nämlich: ein optimaler Gesundheitsgewinn der Bürger und Bürgerinnen) nur unzureichend hinterfragt.
Ein wichtiger Grund ist auch, dass sich in Kommunen verschiedene Träger und folglich auch viele verschiedene Institutionen und Organisationen in der Präventionslandschaft tummeln. Diese haben häufig einen Versorgungsauftrag und daran gebundene finanzielle Mittel, die ungern geteilt werden. „Aufgrund dieser begrenzten Ressourcen der Kommunen sind Allokationsentscheidungen zwingend erforderlich“ (Fietz/Tielking 2014, S. 39). So ist es auch nicht selten, dass die Prävention und Gesundheitsförderung in Kommunen mit Konkurrenzgedanken und teilweise auch widersprüchlichen Haltungen aufgeladen sind und somit das gemeinsame Ziel, „ein optimaler Gesundheitsgewinn“ (Hurrelmann/Richter 2013, S. 152), nur erschwert erreicht werden kann.
Aristoteles würde in diesem Zusammenhang wahrscheinlich von Entitäten (Determinanten) von Gesundheit sprechen und deshalb danach fragen, wie Kommunen diese behandeln und ob sie systematisch und ganzheitlich in ihren Subsettings und deren Konzepten miteinfließen bzw. bedacht werden. In diesem Sinne ist zu klären, welchen Beitrag Suchtprävention für die kommunale Gesundheitsförderung leisten kann und wo elaborierte Ansätze der Praxis zu finden sind, die deutlich machen, dass Suchtprävention und Gesundheitsförderung als gemeinsame Aufgabe in den unterschiedlichen Settings im Sinne entwicklungsbegleitender Angebote zu organisieren sind.
Die „Delmenhorster Präventionsbausteine“
Ein Positivbeispiel einer derartigen Forderung ist hier die Stadt Delmenhorst. "Zur Verbesserung der Situation benachteiligter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien installierte die Stadt Delmenhorst im Jahr 2007 die „Delmenhorster Präventionsbausteine“" (Stadt Delmenhorst 2010, S. 1). Mit diesem Präventionsmodell - eine interdisziplinär vernetzte Konzeption - werden aus dem Setting Kommune die gesundheitsfördernden / präventiven Angebote der gesamten Jugendhilfe abgestimmt und gebündelt. Die Kooperation von den an Erziehung, Bildung, Beratung und Betreuung beteiligten Akteurinnen und Akteure führt somit zur einer Verzahnung und Vernetzung von vorhandenen Präventionsangeboten und -maßnahmen in Delmenhorst (vgl. Stadt Delmenhorst 2010, S. 7). Die theoretische Einbettung der Rahmenkonzeption dieses Modells basiert dabei auf drei Grundpfeilern (Spies 2011, S. 5):
- Kommunale Bildungsverantwortung
- Interinstitutionelle Bildungsstrategien
- Kinderschutz und Bildungsförderung - Care
Die aus den Grundpfeilern abgeleiteten bisherigen Kooperations- und Vernetzungsstrukturen, die es in Zukunft zu stabilisieren, weiterzuentwickeln und ggf. zu erweitern gilt, zeigt die Abbildung 1 (vgl. Stadt Delmenhorst 2010, S. 10).
Der Präventionsbaustein „Soziale Arbeit an Schulen“ beispielsweise ist ein präventives Angebot der Jugendhilfe an Schulen. Für diesen und auch alle anderen Aktivitäten und Ansätze ist die Basis eine verbindlich vereinbarte und dauerhafte Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. Der Baustein Soziale Arbeit an Schulen zielt damit auf die Verbesserung von individuellen Lebenslagen, die durch Erhöhung der Gesundheitskompetenz (Health Literacy) erreicht werden sollen. Eine derartige kommunale Leistungskombination aus Erziehungs-, Bildungs-, Beratungs- und Betreuungsangeboten in den Schulen und Familien sichert dabei die Unterstützung benachteiligter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien.
Dies wurde 2015 noch ergänzt, indem ein kommunales Konzept „SUCHTPRÄVENTION & (FRÜH-)INTERVENTION AN DELMENHORSTER SCHULEN. Suchtpräventionskonzept und Leitfaden zum Umgang mit illegalen Drogen an der Schule“ (KPR Delmenhorst 2015) erarbeitet und veröffentlicht wurde. Dafür führt seit 2009 das Aktionsbündnis „Riskanter Konsum“ in regelmäßigen Abständen Befragungen von Schülerinnen und Schülern zum Thema „riskanter Konsum von Jugendlichen“ in Delmenhorst durch, dessen Ergebnisse neben der hohen Anzahl der Cannabis bezogenen Strafverfolgungen Anlass waren, 2013 eine Strategie zu entwickeln „[…] die schulische Suchtprävention nachhaltig auszurichten und dem zunehmenden Substanzgebrauch und Dealen im Lebensraum Schule über ein systematisches Frühinterventionskonzept entgegenzuwirken.“ (KPR 2015, S. 4). Hierin integriert sind Suchtpräventionsprogramme und -projekte (drop+hop, Aktionstag „Durchblick“, Klarsicht+, Rausch & Risiko) für die Jahrgangsstufen 6 bis 12. „Für die Umsetzung des Konzeptes ist die systematische Zusammenarbeit der Delmenhorster Schulen mit der kommunalen Suchtprävention, respektive „AG Schule“, eine Grundvoraussetzung, die bereits gegeben ist. Gemeinsam wird das standardisierte Konzept umgesetzt, jährlich überprüft und an die aktuellen Bedarfe angepasst“ (a.a.O., S. 6).
Fazit
Eine ganzheitliche systematische Suchtprävention und Gesundheitsförderung bedarf grundsätzlich einer mit ausreichenden Ressourcen (Zeit, politischer Macht) und hinreichender diplomatischer Kompetenz ausgestatteten Koordinierungsstelle (in der Regel Präventionsrat), die über die Belange einzelner Präventionsakteure hinweg systematische und nachhaltige Entscheidungen treffen und durchsetzen kann. Das ist selbst in Delmenhorst noch nicht gelungen. Auch wenn die Delmenhorster Präventionsbausteine viele Teile systematisch zusammenfügen, so ist die Suchtprävention noch nicht Teil dieses Konzeptes. Jedoch sind das Konzept "Suchtprävention und (Früh-)Intervention an Delmenhorster Schulen" sowie die Präventions-Bausteine Teil der systematischen kommunalen Prävention der Stadt.
Wird die kommunale Gesundheitsförderung und Prävention (Summe) - im Sinne von Aristoteles - aus den präventiven Maßnahmen (Teilen) systematisch, d. h. strategisch, koordiniert und nachhaltig gebildet und nicht nur für die Akteurinnen und Akteure der kommunalen Prävention, sondern auch von den Zielgruppen als System erkennbar, kann die Wirksamkeit der kommunalen Prävention (das „Ganze“) über die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen hinausragen. Genauer: Würden alle bestehenden Maßnahmen der kommunalen Gesundheitsförderung und Prävention entwicklungsbegleitend von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter in allen Settings der Gesundheitsförderung den Zielgruppen als „Ganzes“ erkennbar, würden alle Maßnahmen der kommunalen Gesundheitsförderung eine zusätzliche verhältnispräventive Wirksamkeit erzielen, weil sie als Teile eines großen Ganzen verlässlich die Lebenswelt in der Kommune mitgestalten würden. Resultat: Ein optimaler Gesundheitsgewinn für die Kommune inklusive ihrer Bürgerinnen und Bürger.
Literatur bei den Verfassern.