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10.04.2018

"Das gesamte Versorgungssystem gehört auf den Prüfstand."

Gesundheitsbericht zur medizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Berlin erschienen

Kai-Gerrit Venske, Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V.
Lea Winnig, bis April 2018: Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V.

Schlagwörter:Bericht, Gesundheit, Gesundheitspolitik, Obdachlosigkeit

Ber­lin gilt als die Hauptstadt der Ob­dach­lo­sen in Deutsch­land. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren ste­tig gestiegen. Als Hauptursachen hierfür gel­ten die angespannte La­ge auf dem Woh­nungs­markt und die EU-Binnenmigration. Mit dem Ge­sund­heitsbericht will der „Run­de Tisch zur medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung obdachloser Menschen“ auf die schwierige Si­tu­a­ti­on der medizinischen Versorgung Obdachloser in Ber­lin auf­merk­sam ma­chen. Verbunden da­mit ist auch die For­de­rung an die Politik, ei­ne bedarfsgerechte Angebotsstruktur zu schaffen. Auf dem Kon­gress Ar­mut und Ge­sund­heit 2018 wurde der Ge­sund­heitsbericht erst­mals vorgestellt.

Kai-Gerrit Venske, Fach­re­fe­rent für die Wohnungslosenhilfe beim Caritasverband für das Erz­bis­tum Ber­lin e.V., im Ge­spräch mit Lea Winnig, Kooperationsverbund Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit

Herr Venske, was ge­nau sind die Auf­ga­ben und Rah­men­be­din­gung­en des Run­den Tisches?

Der Run­de Tisch ist 2014 auf In­iti­a­ti­ve der GEBEWO und Ca­ri­tas Ber­lin entstanden. Er stellt ei­nen Zu­sam­men­schluss aller Akteure dar, die - auf un­terschiedliche Wei­se - in der medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Ber­lin tä­tig sind, un­ab­hän­gig von den jeweiligen Finanzierungsbedingungen. Wir set­zen uns für ei­ne bedarfsgerechte Angebotsstruktur und die hierfür nötige Schaf­fung ent­spre­chend veränderter Grund­la­gen ein. Nachdem ein be­reits 2014 erschienenes Po­si­ti­ons­pa­pier nicht die erwünschte Re­so­nanz bei den po­li­tisch Verantwortlichen fand, stellt der nun vorliegende Ge­sund­heitsbericht ei­nen weiteren wesentlichen Schritt auf diesem Weg dar. Der Be­richt enthält un­ter anderem Da­ten von allen Teilnehmenden des Run­den Tisches. Er wurde gleich im An­schluss an die Pre­mi­e­re auf dem Kon­gress Ar­mut und Ge­sund­heit bei der Arbeitsgruppe Medizinische Hilfen der Strategiekonferenz zur Ber­li­ner Wohnungslosenhilfe vorgestellt. Ziel der Strategiekonferenz ist es in 2018, un­ter ei­ner brei­ten Beteiligung verschiedenster Stakeholder, wesentliche strategische Schritte zu ei­ner Neu­ge­stal­tung der Leit­li­nien zur Wohnungslosenhilfe zu verabreden. Es ist er­freu­lich, dass der Run­de Tisch mit sei­nem Ge­sund­heitsbericht jetzt in diesen aktuellen Pro­zess mit eingebunden ist.

Mit dem Ge­sund­heitsbericht leis­ten Sie in gewisser Wei­se Pi­o­nier­ar­beit. Ähnliche Be­richte oder verlässliche Zahlen zu der Ge­sund­heit obdachloser Menschen gibt es in Deutsch­land kaum: Warum wis­sen wir so we­nig von diesem The­ma?

Die medizinische Versorgung obdachloser Menschen findet in der Re­gel un­ter pre­kär zu nennenden Be­din­gung­en statt; Eh­ren­amt ist vielfach die vorherrschende Ba­sis ärztlicher Versorgung, Spendenfinanzierung die häufigste Finanzierungsform. In jedem Bun­des­land, jedem Ort gibt es hierfür - so­fern über­haupt vorhanden - an­de­re gewachsene Strukturen und Ge­ge­ben­heit­en. Abgesehen da­von spielte das The­ma lange Zeit eher ei­ne un­tergeordnete Rol­le im öf­fent­lichen - und da­durch auch im politischen - Be­wusst­sein. Dies beginnt sich jetzt bei der Zu­nah­me öf­fent­lich wahrnehmbarer Ob­dach­lo­sig­keit al­ler­dings zu än­dern. Unter solchen Be­din­gung­en ist es schwie­rig, entsprechende Patientendokumentationen - auch auf ei­nem denk­bar einfachen Ni­veau - vorzuhalten. Dokumentationsstandards, in­so­fern man diesen Be­griff über­haupt wäh­len kann, rei­chen von der hochmodernen Praxissoftware bis zur handgeschriebenen „Kühlschrankliste“, auf der wäh­rend der Sprechstunden mal schnell ir­gend­wie angekreuzt wird. Inso­fern stellt die­ser Be­richt tat­säch­lich ei­nen wichtigen Schritt dar, um über­haupt Da­ten in diesem Be­reich medizinischer Versorgung zu er­hal­ten, auch wenn diese si­cher­lich noch nicht höheren Ansprüchen an ei­ne Sta­tis­tik ge­nü­gen. Eine solche sollte al­ler­dings künftig auch Teil ei­nes von der öf­fent­lichen Hand organisierten Paketes sein. Wenn man ei­ne bedarfsgerechte medizinische Versorgung aller obdachlosen Menschen sicherstellen möchte, sollte es ein allgemei­nes In­te­res­se an solchen Da­ten ge­ben.

Welche Da­ten haben Sie erfasst/verwendet und was sind wesentliche Ergebnisse des Be­richtes?

Der Be­richt erfasst die An­zahl der behandelten Patient*innen so­wie die An­zahl der durchgeführten Konsultationen so­wohl in der medizinischen als auch in der zahn­me­di­zi­nischen Versorgung. Die Zahlen beziehen sich je­weils auf das Ka­len­der­jahr 2016 und sind teil­wei­se mit Vergleichen zum Vorjahr un­terlegt. 27.000 Konsultationen bei ca. 6.600 medizinisch/zahn­me­di­zi­nisch Versorgten sprechen für ei­ne intensive Nut­zung der An­ge­bo­te.

Bezogen auf die Form der öffentlichen För­de­rung wurde deut­lich, dass zwei Drittel aller Be­hand­lung­en au­ßer­halb der Förderlogik des Ber­li­ner Senates stattfinden und nur durch spendenfinanzierte An­ge­bo­te mög­lich gemacht wer­den. Bedarfsgerechte Angebotsstrukturen bei öffentlicher För­de­rung se­hen si­cher­lich an­ders aus.

Ebenfalls erfasst wurde die Staats­an­ge­hö­rig­keit nach den Ka­te­go­rien deutsch, EU-Bürger*in, an­de­re. Etwa die Hälfte der Hilfesuchenden kommt aus EU-Ländern, nur ein Viertel sind Deut­sche. Die Spannbreite in­ner­halb der Ein­rich­tung­en war hierbei je­doch im­mens. Deutlich wurde, dass sich das Sys­tem an den Finanzierungserfordernissen auf­grund der jeweiligen un­terschiedlichen Rechtsansprüche und nicht et­wa an medizinischen Erfordernissen auf­stel­len musste. Ein funktionierendes Miteinander in ei­nem abgestimmten, vernetzten Sys­tem, zum Bei­spiel un­ter Spezialisierung auf einzelne fachärztliche An­ge­bo­te, ist un­ter diesen Be­din­gung­en so gut wie nicht mög­lich. Die medizinische Versorgung muss dem­ge­mäß häufig auf niedrigstem Ni­veau er­fol­gen. Einzelne Erkrankungsschwerpunkte, die bei der Ziel­grup­pe be­son­ders in­te­res­sant erschienen, wurden schließ­lich eben­falls erhoben: Hauterkrankungen, Krätzeinfektion, Läu­se­be­fall, TBC, psychische Er­kran­kung­en und Suchterkrankungen. Bei Letzteren sprechen wir eher über Nebendiagnosen, die un­ab­hän­gig vom eigentlichen Behandlungsanlass erhoben wurden. Dies spiegelt si­cher­lich nicht das gesamte Spek­trum an auch in die­ser Ziel­grup­pe vorrangig auftauchenden Er­kran­kung­en wi­der. Zu den­ken ist da­bei vor allem an Atemwegserkrankungen, Er­kran­kung­en des Bewegungsapparates und Stoffwechselerkrankungen (Di­a­be­tes).  

Der Be­richt enthält ne­ben diesen Behandlungsdaten aber auch soziodemografische Da­ten aus einzelnen Ein­rich­tung­en, z. B. zur Wohnsituation, und zeigt die hohe Be­las­tung der Kli­en­tel.

Aufgrund der finanziellen Sy­ner­gien des hier beschriebenen ambulanten Versorgungssystems mit dem stationären Be­reich wurden bei­spiel­haft die nicht einbringbaren Kosten der katholischen Krankenhäuser Berlins bei der Notfallbehandlung nichtversicherter Personen dargestellt. Diese haben sich seit 2012 - weit­ge­hend un­ab­hän­gig von der Ent­wick­lung im Flüchtlingsbereich - verdreifacht. Ein gut ausgestattetes ambulantes Hilfesystem könnte hier si­cher­lich zu Entlastungseffekten bei­tra­gen. Beleuchtet wurde auch das Problem der kaum vorhandenen adäquaten Entlassmög­lichkeiten der Krankenhäuser.

Ein an­de­rer As­pekt des Be­richtes behandelt das The­ma Eh­ren­amt, das in der ambulanten Versorgung vorherrscht. Mit ei­ner Stichtagserhebung vom März 2017 wurde in den Ein­rich­tung­en des Run­den Tisches der Um­fang ermittelt und auch im Vergleich zu üblichen professionellen Versorgungsformen mit ei­nem Preis hinterlegt. Die hier ermittelten 885.000 € pro Jahr würden bei entsprechender Be­reit­stel­lung mit Si­cher­heit zu ei­ner sehr viel verlässlicheren und stabileren Versorgungsstruktur bei­tra­gen.

Schließlich versucht der Be­richt jen­seits von Zahlen an­hand von Fallbeispielen auch ei­nen Blick hinter die Ku­lis­sen und den nicht sel­ten bedrückenden All­tag, ins­be­son­de­re auch der Be­trof­fe­nen, zu er­mög­li­chen.

Aus Ihrer Sicht, was wä­re not­wen­dig, um ein bedarfsge­rechtes und niedrigschwelliges Hilfesystem für obdachlose Menschen oh­ne Krankenversicherungsschutz zu re­a­li­sie­ren?

Das gesamte Versorgungssystem - so beeindruckend es sein mag und so lei­den­schaft­lich hier gearbeitet wird - gehört si­cher­lich auf den Prüf­stand. Dem An­spruch der UN-Menschenrechtskonvention auf ei­ne hochwertige medizinische Versorgung für al­le Menschen kann es un­ter den gege­benen Umständen - und dies in ei­nem der reichsten Länder Welt - nicht ge­recht wer­den. Um vor al­lem auch die nichtversicherten obdachlosen Menschen (auf­grund der deutschen Ausschlussregelungen für EU-Bürger*innen die Hauptgruppe) einzubeziehen, was nicht nur ethisch, son­dern nicht zu­letzt mit Blick auf hohe Folgekosten und/oder epidemiologische Aspekte geboten erscheint, muss es vor ei­ner Neu­ge­stal­tung si­cher­lich ei­ne neue finanzielle Fundierung des Gesamtsystems in Ber­lin ge­ben.

Einzelne Akteure wie die Senatsverwaltung für Soziales wä­ren mit ei­ner Fi­nan­zie­rung dem Um­fang nach si­cher­lich überfordert. Schnittstellen zu anderen Hilfesystemen sind zu­dem man­nig­fal­tig. Hier wä­ren ins­be­son­de­re die gesetzlichen Kran­ken­kas­sen in neuer Wei­se mit einzubeziehen, um z. B. ana­log der Re­ge­lung­en in Nordrhein-Westfalen ei­nen Notfallfonds einzurichten. Ziel sollte es wei­ter­hin sein, Wege in die medizinische Regelversorgung zu schaffen und das Regelsystem um­ge­kehrt auch für die Ziel­grup­pe zu öff­nen. Die bes­tehenden An­ge­bo­te sollten hierbei wei­ter­hin ei­ne wichtige Brückenfunktion in­ne­ha­ben. Sie benö­tigen aber ei­ne verlässliche und stabile Fi­nan­zie­rung, nicht zu­letzt auch für die Be­reit­stel­lung not­wen­diger Medikamente. Ergänzend ist in Ber­lin ne­ben den ambulanten Versorgungsangeboten auch das An­ge­bot ei­ner Krankenwohnung nö­tig. In die­ser kön­nen Menschen, die auf der Stra­ße le­ben, Krank­heit­en aus­ku­rie­ren und gleich­zei­tig durch So­zi­al­ar­beit erreicht wer­den., Idealerweise er­mög­licht dies gleich­zei­tig Wege aus der Ob­dach­lo­sig­keit. Dies ist ein Grundziel, das ne­ben al­lem Bestreben, niedrigschwellige Versorgungsangebote zu schaffen, nicht aus den Au­gen verloren wer­den darf. Hierin, nicht in der gleich­wohl not­wen­digen Be­reit­stel­lung niedrigschwelliger medizinischer Hilfen, bestände zu­dem die bes­te Prä­ven­ti­on ge­gen Er­kran­kung­en, die vielfach ih­re Ursachen in den desaströsen Lebensumständen obdachloser Menschen haben.


Die in dem Gesundheitsbericht gewonnenen Erkenntnisse un­ter­strei­chen die For­de­rung­en, die der Run­de Tisch medizinische und zahnmedizinische Versorgung obdachloser Menschen in Ber­lin be­reits 2014 in sei­nem Po­si­ti­ons­pa­pier erhoben hat. Diese lau­ten:

  1. Benötigt wird ein gut ausgestattetes niedrigschwelliges medizinisches und zahnmedizinisches Versorgungssystem, in dem al­le Bedürftigen ei­nen leichten Zu­gang  zu al­len vorgehaltenen Leis­tung­en haben und in dem es den Helfenden frei von Anspruchsprüfungen mög­lich ist, nach dem Prinzip „Not se­hen und handeln“ tä­tig zu wer­den.
  2. Die Be­schrän­kung­en für zuwendungsfinanzierte (zahn-)medizinische Versorgungseinrichtungen müs­sen reduziert bzw. aufgehoben wer­den. Dies betrifft die eingeschränkten Zu­gangsmög­lichkeiten für EU-Bürger/in­nen aus Nicht-EFA-Staaten so­wie die Not­wen­dig­keit der Vorhaltung von KV-/KZV-Ärzten/in­nen.
  3. Die vorhandenen An­ge­bo­te sollten über­sicht­lich visualisiert, der regelmäßige Fachaustausch gefördert und die Ein­rich­tung­en in ihrem Qualitätsmanagement unterstützt wer­den. Zu über­le­gen wä­re zu­dem, ei­ne Koordinierungsstelle für das niedrigschwellige medizinische An­ge­bot einzurichten.
  4. Die vorhandenen Ein­rich­tung­en benötigen Geld­mit­tel und Be­ra­tung, um zweckmäßige ergänzende An­ge­bo­te einzurichten und zu er­hal­ten.
  5. Eine niedrigschwellige medizinische Versorgung erfordert ein unbürokratisches Verfahren hinsichtlich der Be­hand­lung der Patienten und der jeweiligen Abrechnungsmodalitäten. Die Not­wen­dig­keit der Be­reit­stel­lung von KV- Ärzten, der Teilabrechnung über die KV und die ent­spre­chend individuelle Vorprüfung der Anspruchsberechtigungen durch geschulte Fachkräfte ste­hen dem ent­ge­gen. Die vorhandenen An­ge­bo­te benötigen ei­ne verlässliche und bes­ser planbare Fi­nan­zie­rung.
  6. Im Land Ber­lin wird ei­ne Krankenstation (oh­ne das Er­for­der­nis ei­ner individuellen Kostenübernahme mit vorgeschalteter Anspruchsprüfung) benötigt, in wel­che behandelnde Ärzte/-in­nen der niedrigschwelligen Ein­rich­tung­en kranke obdachlose Menschen kurz­fris­tig ein­wei­sen kön­nen, um Krank­heit­en auszukurieren.
  7. Die Rol­le der So­zi­al­ar­beit als Schlüs­sel zur In­te­gra­ti­on in die medizinische Versorgung ist vor Ort zu stär­ken. Sozialpädagogische Fachkräfte müs­sen ggf. eingestellt und finanziert wer­den.

Mehr Informationen zum The­ma so­wie den Gesundheitsbericht fin­den Sie hier.

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