08.02.2012
Demenz: Eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung - und Chance
Reimer Gronemeyer, Aktion Demenz e.V., Vorsitzender
Verena Rothe, Aktion Demenz e.V., Geschäftstelle
Schlagwörter:Demenz, Kommentar, Kommunen
Die Menschen werden immer älter, der zu erwartende Anstieg der von Demenz Betroffenen ist signifikant. Gleichzeitig nehmen soziale Bindungen ab, die einen auffangen könnten, wenn man mit Demenz konfrontiert ist. Hier will die Aktion Demenz zur zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema aufrufen und zum gemeinsamen Engagement für „Demenzfreundliche Kommunen“ anregen.
Demenz entwickelt sich vor unseren Augen zu einer bedeutenden sozialen, politischen, ökonomischen und humanitären Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Das ist von den Bürgerinnen und Bürgern, ist in den Kommunen, ist in Deutschland und in Europa noch nicht begriffen. Im Gegenteil: die Entwicklungen in unserer näheren und ferneren Umwelt sind eher durch Vereinzelung und das Zerbröckeln sozialer Milieus gekennzeichnet. Soziale Milieus, in denen Menschen mit Demenz gewissermaßen „natürlich“ aufgehoben wären, schmelzen weg. Es genügt nicht, dass Kommunen ein paar „Maßnahmen“ ergreifen, um die Versorgung von Menschen mit Demenz zu verbessern. Die Demenz fragt uns dringlich nach einem Neuanfang in den sozialen Beziehungen der modernen Bürgerinnen und Bürger untereinander. Sie verwandelt in geradezu beklemmend-mysteriöser Weise die Stärken der modernen Gesellschaft in ihr Gegenteil - ihre Milliarden-Bits-Speicher in Gedächtnisschwäche, ihre exzessive Individualisierung in Persönlichkeitsverlust. In der Demenz kehren die Glaubenssätze der Moderne (Flexibilität! Beschleunigung! Autonomie!) als Karikatur wieder. Sie fordert uns beängstigend und befreiend zugleich zu einem Neubau unserer Gesellschaften auf. Wie wollen wir mit Menschen umgehen, die „nicht nützlich“ sind, die kostspielig sind, die nicht konkurrenzfähig sind, die nicht einmal konsumieren können? Wollen wir sie abschieben, versorgen lassen oder sogar „entsorgen“? Oder wollen wir sie als Aufforderung, als Chance begreifen, nach neuen Wegen, nach einer neuen Sozialität, nach einer neuen Kultur des Helfens zu suchen?
Aktion Demenz e.V. - www.aktion-demenz.de
Angeregt von diesen Entwicklungen will der von der Robert Bosch Stiftung geförderte Verein "Aktion Demenz - Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz e.V." die Lebensbedingungen für Menschen mit Demenz in Deutschland vor allem durch zivilgesellschaftlichen Dialog verbessern. Im Mittelpunkt steht dabei die Aufhebung der Stigmatisierung des Themas Demenz. Es sollen Bürger gewonnen werden, die auf das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen hinwirken wollen und für mehr gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen sorgen möchten. Ein weiterer Schwerpunkt der Aktivitäten dreht sich um den Themenkomplex Kunst, Kultur und Demenz. Gerade künstlerische und kulturelle Zugänge sind in besonderer Weise dazu geeignet, Menschen für das Thema Demenz zu sensibilisieren und einen anderen, nicht nur von Schrecken und Defiziten geprägten Blick auf die Demenz zu fördern. Daneben beschäftigt sich der Verein mit weiteren Fragen und Teilaspekten wie Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus oder Demenz und Technik.
Teilhabe statt Ausgrenzung
Die Medikalisierung des Demenzphänomens muss durch ein Stück „Resozialisierung“ des Phänomens aufgefangen und korrigiert werden. In einer Untersuchung von Ärzten des Rush Medical Center in Chicago wurde festgestellt, dass ein verlässlicher Freundeskreis und regelmäßige Kontakte zu Angehörigen die klinischen Zeichen einer Alzheimer-Demenz verhindern kann. Angesichts spürbar zunehmender Belastungen ist es zudem wichtig zur Kenntnis zu nehmen, dass bereits heute von Angehörigen, Nachbarn, Freunden und Freiwilligen in der Betreuung von Menschen mit Demenz eine bedeutende kulturelle Leistung erbracht wird, die von unschätzbarem humanitärem Wert ist und zugleich die Gemeinschaft von hohen sozialen und finanziellen Kosten entlastet. Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz zu agieren heißt deshalb zuerst: Exklusionen vermeiden.
Demenzfreundliche Kommune
Dies hat zur Forderung der Aktion Demenz nach „Demenzfreundlichen Kommunen“ geführt: Gemeint ist damit ein Gemeinwesen, in dem es sich mit und für Menschen mit Demenz und ihre/n Familien gut leben lässt und in dem Teilhabe gelebte Wirklichkeit ist. Der Begriff Kommune dient in diesem Zusammenhang als Sammelbegriff für Gemeinden, Landkreise, Städte, Dörfer, Nachbarschaften und Gemeinschaften. Ohne die Politik aus ihrer diesbezüglichen Verantwortung zu entlassen ist jedoch festzustellen, dass eine wirkliche Verbesserung der Situation von Menschen mit Demenz nur dann gelingen kann, wenn in den Städten und Gemeinden Formen einer gemeinsamen Verantwortungsübernahme entwickelt und gelebt werden.
Die Kommune ist der Ort, an dem Bürgerinnen und Bürger, politische Entscheidungsträger sowie andere vor Ort befindliche gesellschaftliche Akteure ihr Gemeinwesen ein Stück weit neu erfinden müssen. Durch unterstützende Strukturen, Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit, gezielte Aktionen und Veranstaltungen, Begegnungsmöglichkeiten im Alltag, Austausch zwischen den Generationen und Professionen, nachbarschaftliche Hilfe und bürgerschaftliches Engagement soll es gelingen in Deutschland „Demenzfreundliche Kommunen“ zu schaffen.
„Wie verwandeln wir unsere Dörfer, Städte und Gemeinden in Orte, die ein besseres Leben mit Demenz ermöglichen?“
Mit diesem Aufruf zur Schaffung demenzfreundlicher Kommunen ist es gelungen, an einer Reihe von Orten in Deutschland regionale Initiativen anzuregen oder bereits vorhandenes Engagement zu identifizieren.
Es wurden und werden Personen aus allen Bereichen der Gesellschaft gewonnen, die sich mit eigenen Projekten in ihren Gemeinden auf den Weg machen. Durch das von der Aktion Demenz durchgeführte Förderprogramm der Robert Bosch Stiftung „Menschen mit Demenz in der Kommune“, konnte dieses Engagement nicht nur ideell, sondern für inzwischen 50 ausgewählte Initiativen auch finanziell unterstützt werden. Es gibt dabei sowohl Initiativen die spezifisch ausgerichtete Projekte z.B. zu Demenz und Migration, Kunst, Kinder/Jugendliche durchführen als auch eher breit aufgestellte Projekte, z.B. Öffentlichkeits-Kampagnen, Vernetzungsarbeit, Multiplikatoren-Schulungen, etc.
Museumsführungen für Menschen mit und ohne Demenz, eine Beratungsstelle mitten in der Einkaufspassage, die Etablierung von Demenzpaten in Vereinen und Kirchengemeinden, gemeinschaftliche körperliche Bewegung, „1.Hilfe-Kurse“ Demenz für Feuerwehr, Einzelhandel und Verwaltung - das alles sind z.B. Ansätze, wie Menschen mit Demenz in unsere Gesellschaft eingebunden und ein Bewusstseinswandel angeregt werden können.
Um solche Ideen weiter zu verbreiten, andere zur Nachahmung anzuregen und bestehende Initiativen und Projekte zu vernetzen, gibt es nun auch die Internetplattform Unterwegs zu Demenzfreundlichen Kommunen: www.demenzfreundliche-kommunen.de
Es ist dabei nicht die Absicht der Aktion Demenz, eine allgemeingültige Antwort auf die Frage zu geben, wie eine demenzfreundliche Kommune aussieht und wie sie zu erreichen ist. Es geht darum zu eigenen kreativen und passgenauen Ideen vor Ort anzuregen und zu verdeutlichen, dass Kommunen, die sich der Herausforderung Demenz stellen, an einer lebenswerteren Zukunft für alle Bürgerinnen und Bürger arbeiten.
Im Jahr 2012 haben der BKK Bundesverband und der Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ den Preis „Vorbildliche Praxis“ zu Thema „Nicht erkrankt und doch betroffen - Unterstützungsangebote für Angehörige von Demenzkranken“ ausgeschrieben. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begleitet den Wettbewerb im Rahmen ihrer Schwerpunktsetzung „Gesund und aktiv älter werden“.