11.09.2012
Der zehnte GKV-Präventionsbericht 2011
Interview mit den Referenten des GKV-Spitzenverbands
Volker Wanek, ehem. GKV-Spitzenverband
Karin Schreiner-Kürten, GKV-Spitzenverband
Holger Kilian, MPH, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Schlagwörter:Armut, Bericht, Betriebliche Gesundheitsförderung, Empowerment, GKV, Interview, Kinderschutz, Kita, Netzwerk, Partnerprozess, Prävention, Schule, Setting
Im März 2012 legten die Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ihren „Präventionsbericht 2011“ vor, der auf Daten des Jahres 2010 basiert. Dieser zehnte Präventionsbericht stellt die GKV-geförderten Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in drei großen Abschnitten zum Setting-Ansatz (außerbetriebliche Lebenswelten), dem individuellen Ansatz (Schulungs- und Kursangebote) und der betrieblichen Gesundheitsförderung vor.
Umfangreichster Bereich ist nach wie vor der individuelle Ansatz, in dessen Umsetzung 2010 240 Millionen Euro flossen. Die für den nicht-betrieblichen Setting-Ansatz bereitgestellten Mittel umfassten mit 23 Millionen Euro nur knapp zehn Prozent davon - allerdings im Vergleich zum Vorjahr mit deutlich steigender Tendenz, wie der Bericht betont. Im gleichen Zeitraum gingen die Ausgaben für den individuellen Ansatz um sechs Prozent zurück. Dies ist eine durchaus erwünschte Verschiebung, wie Volker Wanek und Karin Schreiner-Kürten vom GKV-Spitzenverband im Interview betonen. Die Ausgaben für die betriebliche Gesundheitsförderung sind mit 42 Millionen Euro knapp doppelt so hoch wie für die nicht-betrieblichen Settings.
Umfangreiche Entwicklungen in den letzten zehn Jahren
Vergleicht man diesen zehnten Präventionsbericht mit dem ersten von 2001 (verfügbar hier), so werden die umfangreichen konzeptionellen Entwicklungen deutlich, die sich in zehn Jahren der gesundheitsfördernden GKV-Praxis vollzogen haben. Im Jahr 2000 war der § 20 des fünften Sozialgesetzbuches wieder eingeführt worden, der den gesetzlichen Krankenkassen den Auftrag erteilte, auch Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung zu finanzieren und damit insbesondere einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen zu leisten. Wurden 2001 noch 247 Maßnahmen in nichtbetrieblichen Settings aufgeführt, so ist diese Zahl nach dem Bericht 2011 auf insgesamt 30.000 Settings angewachsen. Welche Settings sind das? 2001 fand ein Viertel aller Interventionen in Berufsschulen statt, die 2010 mit drei Prozent nur noch eine untergeordnete Rolle spielten, während 53 Prozent der Angebote in Kindertagesstätten durchgeführt wurden, die 2001 nur zu 7,3 Prozent vertreten waren.
Doch nicht nur quantitativ gab es Verschiebungen, auch qualitativ hat sich in den zehn Jahren viel getan: Existierte 2001 nur für gut 40 Prozent aller Setting-Ansätze eine Entscheidungs- und Steuerungsstruktur, die auch Akteure aus den Settings mit einbezog, sind dies zehn Jahre später immerhin 68 Prozent, im Setting Stadtteil sogar 85 Prozent der Angebote. Andere wichtige Informationen finden sich noch gar nicht im Bericht 2001, beispielsweise der Anteil von Interventionen in „sozialen Brennpunkten“ (2010: 25 Prozent der Kitas und 40 Prozent der Stadtteile) oder der Verhaltens- und Verhältnisbezug der Maßnahmen, der im Bericht 2010 nur zwei Prozent ausschließlich verhaltensbezogener Aktivitäten nachweist. Und noch eine interessante Verschiebung zeigt sich: Wurden 2001 zur Ermittlung der Bedarfslagen in den Settings u. a. noch Einstellungen und Verhaltensweisen „gemessen“ und die Routinedaten der GKV hinzugezogen, so dominieren 2010 mit deutlichem Abstand direkte Methoden wie die Befragung der Zielgruppe und Begehung des Settings.
So eindrucksvoll und vielfach positiv die Entwicklungen der präventiven und gesundheitsfördernden Praxis der GKV sich darstellen, wäre es wünschenswert, wenn die Berichte der kommenden Jahre neben den umfassenden statistischen Darstellungen auch Informationen zu den konkreten Angeboten der Krankenkassen enthielten: Welche Programme kommen zum Einsatz? Welche Erfahrungen konnten gesammelt werden? Hier liegt inzwischen ein umfangreicher Erfahrungsschatz vor, der für die konzeptionelle Weiterentwicklung von Prävention und Gesundheitsförderung insbesondere in nichtbetrieblichen Settings einen wichtigen Beitrag leisten könnte.
Der Präventionsbericht 2011 kann auf den Seiten des GKV-Spitzenverbandes und des medizinischen Dienstes der Krankenkassen herunter geladen werden (PDF-Dokument).
„Wir fördern den Strukturwandel hin zu den lebensweltbezogenen Leistungen“
Interview mit Volker Wanek und Karin Schreiner-Kürten, Referenten beim GKV-Spitzenverband, Abteilung Gesundheit, zuständig für Primärprävention und betriebliche Gesundheitsförderung.
Info_Dienst: Der aktuelle Präventionsbericht zeigt eine leichte Verschiebung der GKV-Aktivitäten vom individuellen Ansatz zum Setting-Ansatz auf. Wird sich diese Entwicklung fortsetzen?
GKV-Spitzenverband: Wir sind sehr froh, dass sich der Setting-Ansatz inzwischen als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen etabliert hat. Am Anfang war das noch sehr ungewöhnlich: Warum sollten sich Krankenkassen auch für Gesundheit in Schulen engagieren, wenn dies doch zur Aufgabe von Kommunen und Ländern gehört? Inzwischen ist die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ein etablierter Partner in diesem Konzert der gemeinsamen Aktivitäten zur Gesundheitsförderung. Der Präventionsbericht zeigt beispielsweise, dass die Krankenkassen in zwei von drei Kitas mit Gesundheitsförderung und Prävention aktiv sind. Die Kassen sind in den Lebenswelten angekommen und die Verantwortlichen dort nehmen die Unterstützung gerne an. Und was die künftigen Perspektiven betrifft: Wir wollen den Strukturwandel hin zu den lebensweltbezogenen Leistungen dauerhaft fördern.
Info_Dienst: Was sind denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Kennzeichen des Strukturwandels im GKV-Engagement, seit im Jahr 2000 der Paragraf 20 SGB V wieder eingeführt wurde?
GKV-Spitzenverband: Die wichtigste Entwicklung ist, dass wir als Krankenversicherungssystem in die Lebenswelt der Versicherten hineingegangen sind. Dies bedeutet, dass die Krankenkassen die Mittel nicht mehr ausschließlich versichertenbezogen, sondern teilweise auch lebensweltbezogen einsetzen. Hier profitieren Versicherte der eigenen Kasse, Versicherte anderer Kassen oder sogar privat Versicherte.
Ergänzt wird dieser Prozess durch eigene GKV-Präventions- und Gesundheitsziele, die sich auch auf Lebenswelten - wie Kita, Schule und Betrieb - beziehen. Die Erfahrungen mit diesen seit 2007 selbst gesetzten Zielen zeigen: Die Krankenkassen haben ihre darauf bezogenen Aktivitäten überproportional ausgebaut; darüber wird im Präventionsbericht detailliert berichtet. Ab 2013 werden wir in eine neue Ziele-Periode einsteigen, dann auch mit neuen Akzenten. Die aktualisierten Ziele werden gerade in unseren Gremien abgestimmt. Mit unseren Zielen wollen wir dazu beitragen, die Aktivitäten der Krankenkassen auf prioritäre Felder zu konzentrieren und Kooperationen mit weiteren Verantwortlichen zu stärken.
Info_Dienst: Der Bericht stellt vor allem Zahlen zum GKV-Engagement zusammen, man erfährt aber wenig darüber, welche konkreten Aktivitäten und Programme sich dahinter verbergen. Warum?
GKV-Spitzenverband: Wie jede statistische Übersicht stellt auch der Präventionsbericht die Aktivitäten auf einem recht hohen Aggregationsniveau zusammen. Zur Veranschaulichung sind im Bericht immer auch einige Praxisbeispiele eingestreut. Auch wenn wir nicht jede einzelne Maßnahme beschreiben, die Inhalte und Rahmenbedingungen der umgesetzten Projekte lassen sich aus dem Bericht schon entnehmen. So zeigen beispielsweise die Angaben zu den Laufzeiten und zur Einrichtung von Steuerungskreisen, dass die Krankenkassen keine Strohfeuer fördern, sondern immer auch die Nachhaltigkeit im Auge haben.
Info_Dienst: Der „kommunale Partnerprozess“ des Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit unterstützt die Entwicklung kommunaler Gesundheitsstrategien. Wo sehen Sie hier Anschlussmöglichkeiten für die GKV-Aktivitäten?
GKV-Spitzenverband: Der Gedanke, dass Maßnahmen in den einzelnen Lebenswelten am besten in ein kommunales Gesamtkonzept eingebunden sind, findet sich schon im Leitfaden, und er wird auch bei den Gesundheitszielen der GKV berücksichtigt. Wir wollen diesen Aspekt in Zukunft in der gemeinsamen Arbeit mit den Kommunen noch stärker betonen. Wir sehen den Partnerprozess als eine sehr positive Initiative. Es ist richtig, die Koordinierung auf Gemeindeebene unter Einschluss der verschiedenen Lebenswelten weiter zu entwickeln. Die GKV bringt sich in allen Lebensphasen der Kinder und Jugendlichen ein: Sie unterstützt in der Schwangerschaft, bei der Geburt, durch ein umfangreiches Früherkennungsprogramm sowie in den Kitas und Schulen, Letzteres auf Basis der §§ 20 (Primärprävention) und 21 (zahnmedizinische Gruppenprophylaxe) im Sozialgesetzbuch Fünf. Die Stärke des Settings „Kommune“ ist, dass es die anderen Settings einschließt und so Nachhaltigkeit durch Strukturbildung gewährleisten kann.
Die Fragen stellte Holger Kilian.
Der vorliegende Text ist zuerst in der Ausgabe 02/2012 des Info_Dienst erschienen. Diese können Sie hier (PDF-Dokument, 2,6 MB) herunterladen.