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09.10.2012

Dicksein - Über die gesellschaftliche Erfahrung dick zu sein

Eva Barlösius, Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie
Alexandra von Garmissen, Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie
Grit Voigtmann, Leibniz Universität Hannover, Institut für Soziologie

Schlagwörter:Adipositas, Prävention, psychische Gesundheit

Die tagtägliche Er­fah­rung, als zu dick wahrgenommen und behandelt zu wer­den, die sozialen In­ter­ak­tio­nen, de­nen Di­cke ausgesetzt sind, dass sie ihr gesellschaftliches Verhältnis durch ihren Körper be­stimmt se­hen, die­ses und vieles weitere, was ihr Leben ausmacht, wird in der Adipositasprävention - vor allem der mit Ju­gend­li­chen - im Allgemeinen zu we­nig berücksichtigt. Das formelhafte Er­geb­nis vieler Stu­di­en, dass Di­cke ausgegrenzt, stigmatisiert und benachteiligt sind, tendiert da­zu, von ihrem All­tag mehr zu verdecken als freizulegen.

Erstens ruft es den Ein­druck hervor, als sei be­kannt, wie Menschen ge­sell­schaft­lich er­fah­ren, zu dick zu sein. Zweitens tei­len Di­cke die ih­nen von diesen Stu­di­en zugewiesene soziale Po­si­ti­on und ge­sell­schaft­lichen Er­fah­rung­en mit vielen anderen: mit Ar­men, Kran­ken, Migranten, Allei­nerziehenden, Be­hin­der­ten und religiösen Min­der­heit­en. Was sie unterscheidet, ins­be­son­de­re aber, was dies in der All­tags­pra­xis heißt, erschließt sich da­raus nur we­nig. Zudem ent­fal­ten diese Ana­ly­sen ei­ne eigene soziale Wirk­sam­keit. Sie wei­sen ei­ne soziale Po­si­ti­on und ge­sell­schaft­liche Erfahrungswelt zu und verstricken sich da­mit selbst in das Phä­no­men. So for­mu­lie­ren sie ge­ra­de­zu vor, wie dicke Menschen sich zu füh­len haben, wie sie soziale Interaktionen zu er­le­ben und wel­che soziale La­ge sie einzunehmen haben.

Das For­schungs­pro­jekt „Verbesserung der Wirk­sam­keit der Adipositasprävention für so­zi­al be­nach­tei­ligte Kinder und Ju­gend­li­che - Zielgruppenspezifische Stra­te­gien zur Stär­kung der ge­sund­heits­be­zo­ge­nen Res­sour­cen Ernährungs- und Bewegungsverantwortung“ beschäftigt sich mit diesem The­ma. Die Per­spek­ti­ve der Ju­gend­li­chen, die sich ge­sell­schaft­lich als zu dick er­fah­ren, diente hierbei als Aus­gangs­punkt der Un­ter­su­chung. Dies war uns wich­tig, weil wir den Ein­druck gewonnen haben, dass die Be­trof­fe­nen bislang zu we­nig zu Wort kom­men. Die Per­spek­ti­ve der Ju­gend­li­chen verschafft einen Ein­blick, wie sehr sie ihr ge­sell­schaft­liches Verhältnis als durch ihr Dick­sein be­stimmt - präziser: be­grenzt - er­fah­ren. Die wich­tigste empirische Grund­la­ge unserer Un­ter­su­chung sind Gruppendiskussionen mit dickeren Ju­gend­li­chen und mit Eltern dickerer Kinder.

Ingesamt wurden acht Gruppendiskussionen mit je­weils sechs bis neun dickeren Ju­gend­li­chen durchgeführt, und zwar ge­trennt nach Ge­schlecht, nach Ab­stam­mung (deutsch oder tür­kisch) und nach zwei Al­ters­grup­pen (11 bis 13 und 14 bis 16 Jahre). Die Ju­gend­li­chen stamm­ten aus so­zi­al be­nach­tei­lig­ten Wohn­be­zir­ken in Hannover. Auswahlkriterium be­züg­lich des Ge­wichts war, dass die Ju­gend­li­chen sich selbst als dick bezeichneten. Dieses Kri­te­ri­um garantierte, dass die Ju­gend­li­chen über ih­re eigenen Er­fah­rung­en, als zu dick wahrgenommen und ent­spre­chend ge­sell­schaft­lich behandelt zu wer­den, berichteten. Mit einem medizinischen Blick betrachtet, waren sie mehr­heit­lich über­ge­wich­tig bis adipös, aber nicht stark adipös.

Weiterhin wurden drei Gruppendiskussionen mit Eltern dickerer Jugendlicher - deutscher und tür­ki­scher Her­kunft - durchgeführt. Auch bei diesen Gruppendiskussionen haben wir kein medizinisches Kri­te­ri­um angelegt, weil ge­nau­so wie bei den Ju­gend­li­chen die ge­sell­schaft­lichen Er­fah­rung­en von In­te­res­se wa­ren. Hier standen die sozialen Interaktionen im Mit­tel­punkt, die sich da­ran knüp­fen, Mut­ter oder Vater ei­nes Kindes zu sein, wel­ches sich ge­sell­schaft­lich als zu dick erfährt. Den Blick haben wir speziell da­rauf gerichtet, wie die Eltern auf die ge­sell­schaft­lichen Er­fah­rung­en ih­rer Kinder re­a­gie­ren, ob und wie sie ih­re Kinder un­ter­stüt­zen.

Wir möchten uns hier auf jene Ergebnisse kon­zen­trie­ren, wel­che für die Präventionspraxis be­son­ders re­le­vant sind (weitere Ergebnisse wurden be­reits publiziert [1-3]). Dick­sein ist ei­ne ge­sell­schaft­liche Er­fah­rung, wes­halb nicht nur jene Menschen, die sich ge­sell­schaft­lich als zu dick er­le­ben, involviert sind, son­dern eben­so al­le anderen, die diese Typisierung vornehmen und verwenden. Es handelt sich kei­nes­wegs nur um ein körperliches Phä­no­men. Vielmehr besitzt es ei­ne die Ge­sell­schaft umspannende und durchdringende Be­deu­tung. Bedenkt man dies, ist es fol­ge­rich­tig, dass we­der die Ju­gend­li­chen noch die Eltern, mit de­nen wir gesprochen haben, Vorschläge unterbreitet haben, die sich auf ih­re All­tags­pra­xis beziehen, bei­spiels­wei­se wie sie es schaffen könnten, sich gesünder zu er­näh­ren oder mehr zu be­we­gen.

Für die „Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention“, die unser ursprüngliches For­schungs­ziel war, lässt sich von diesen Vorschlägen wenig herleiten. Analysiert man jedoch, ob die Ju­gend­lichen und die Eltern weiterreichende Forderungen aufstellen, dann entfaltet sich ein großer Ka­ta­log, der auf den Wandel der gesellschaftlichen Haltungen und der Umgangsformen mit dem Dick­sein zielt. Die Ju­gendlichen verlangen Gleichberechtigung und Gleichbehandlung und richten damit ihre Ansprüche an ihr gesellschaftliches Gegenüber. Die Eltern möchten, dass ihre Kinder mit mehr Selbst­be­wusst­sein auftreten und sich gegen soziale Benachteiligungen und Ausgrenzungen wehren. Sie wen­den sich an die Jugendlichen, die ihre Ansprüche stärker durchsetzen sollen. Beide For­de­rungen zielen letztlich darauf, die an das Dicksein geknüpften gesellschaftlichen Benachteiligungen, Ge­fähr­dun­gen von Zugehörigkeit, Anerkennung und Wertschätzung aufzuheben.

Beide An­sin­nen rei­hen sich in die Tra­di­ti­on der gesellschaftlichen Aus­ei­nan­der­set­zung­en, teil­wei­se hef­ti­gen Kämpfe um Gleich­be­rech­ti­gung ein. Die Ju­gend­li­chen selbst verweisen da­rauf, in­dem sie Bei­spie­le für be­reits for­mu­lier­te und teil­wei­se etablierte Ansprüche auf Gleich­be­hand­lung zi­tie­ren, wie Haut­far­be und ethnische Herkunft. Ob und in welchem Aus­maß diese er­folg­reich waren, das ge­sell­schaft­liche Ver­hält­nis der Be­nach­tei­lig­ten grund­le­gend zu verbessern, ist je­weils zu prü­fen.

Gleich­be­rech­ti­gung zu er­rei­chen verlangt mehr. Es ist zu fra­gen, wel­ches gesellschaftliche Ge­scheh­en sich dahinter verbirgt, dass Menschen mit einem dickeren Körper als soziale Grup­pe, ge­ra­de­zu als Klasse betrachtet wer­den. Das impliziert nämlich, dass ih­nen unterstellt wird, Ge­mein­sam­keit­en zu tei­len, die sie von anderen tren­nen. Unsere Forschungsergebnisse zei­gen, dass es sich bei den ih­nen unterstellten Ge­mein­sam­keit­en über­wie­gend um solche handelt, die sich zur sozialen Klas­si­fi­zie­rung eig­nen Sie wer­den zur Be­grün­dung und auch zur Le­gi­ti­mie­rung ihrer sozialstrukturellen Be­nach­tei­li­gung, ihrer gefährdeten Zu­ge­hö­rig­keit wie auch der geringen Wert­schät­zung genutzt.

Mit anderen Worten: Das verborgene gesellschaftliche Geschehen, wel­ches in dem Um­gang mit dem Dick­sein ent­hal­ten ist, oh­ne aus­ge­spro­chen zu wer­den, ist die Herstellung und Legimitierung sozialer Ungleichheiten, al­so die Er­mög­li­chung und die Verschließung von Par­ti­zi­pa­ti­on, An­er­ken­nung und Zukunftschancen. Der Körper wird in unserer Gegenwartsgesellschaft zum kategorischen Klas­si­fi­zie­rungs­zei­chen. Er gilt als Be­leg der individuellen Fä­hig­keit zur Selbstkontrolle, Eigenverantwortlichkeit und Leistungsbereitschaft. Der Körper wird als soziale Repräsentation da­für gelesen, ob und wie sich die Menschen zu diesen gesellschaftlichen Er­war­tung­en verhalten, ob sie ih­nen zu­stim­men oder sie ab­leh­nen. Bleibt zu fra­gen, ob an­ge­sichts der Verwicklung des Körpers in den Pro­zess der Ver­ge­sell­schaftung die For­de­rung nach Gleich­be­rech­ti­gung aller - gleich ob „dick oder dünn“ - Er­folg verspricht.

Literatur

[1] Barlösius E, Garmissen A. „Ich kann ja doch noch was aus mei­nen Leben ma­chen und schlanker wer­den“ - Ge­sun­de Lebensführung und Moralisierung des Essens in der Kom­mu­ni­ka­ti­on über­ge­wich­ti­ger Kinder. In: Hoefert H-W, Klotter C, Hrsg. „Ge­sun­de Lebensführung“ - kritische Ana­ly­se ei­nes po­pu­lä­ren Konzepts. Bern: Verlag Hans Huber, 2011: 279-292.
[2] Barlösius E. So­zi­o­lo­gie des Essens: Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Er­näh­rungs­for­schung. Weinheim: Juventa Verlag, 2004.
[3] Rehaag R. Familial and societal causes of juvenile obesity - a qualitative model on obesity de­ve­lop­ment and prevention in socially disadvantaged children and adolescents. Jour­nal of Public Health 2011, 20 (2): 111-124.

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