04.03.2013
Die Beziehung zwischen Wissen und Handeln ist keine Einbahnstraße
Interview mit Prof. Dr. Ansgar Gerhardus
Ansgar Gerhardus, Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH)
Schlagwörter:Armut und Gesundheit, Forschung, Interview, Praxis
Gesundheit Berlin-Brandenburg (GBB): Sehr geehrter Herr Prof. Gerhardus, Ihr Eröffnungsvortrag auf dem 18. Kongress Armut und Gesundheit steht unter dem Titel „Vom Wissen zum Handeln und zurück: Brücke, Boot oder (U-)Bahn?“ Was können wir uns von Ihrem Vortrag erwarten?
Gerhardus: Das Kongressmotto „Brücken bauen zwischen Wissen und Handeln - Strategien der Gesundheitsförderung“ greift ein wichtiges Problem auf: Auf der einen Seite produzieren wir Wissen, das nicht genutzt wird, auf der anderen Seite handeln wir, ohne dass es eine wissenschaftliche Grundlage gibt. Brücken zu bauen macht in so einer Situation sehr viel Sinn. Das setzt aber voraus, dass ich auf beiden Seiten ausreichend Substanz habe, auf die sich eine Brücke stützen kann. In der Realität fehlt aber für viele Bereiche der Gesundheitsförderung diese Substanz, sprich die unmittelbar passenden Studien. Mit Recht gibt es daher den Ruf nach zielgerichteter und besser ausgestatteter Forschung. Bis die Ergebnisse daraus vorliegen, wird man als zweitbeste Lösung darauf angewiesen sein, Daten und Informationen von verstreut liegenden „Wissensinseln“ zusammenzutragen. Diese sind selten durch feste Brücken verbunden, dafür braucht es Boote.
GBB: Der thematische Schwerpunkt des diesjährigen Kongresses liegt auf der Verknüpfung von Wissen und Handeln und damit auch auf der Frage nach gelingendem Praxistransfer in der Prävention und Gesundheitsförderung. Vor welchen Herausforderungen stehen wir hier aus Ihrer Sicht?
Gerhardus: Bei dem Kongress „Armut und Gesundheit“ geht es immer auch um die Frage, welche Folgen die ungleiche Verteilung von Ressourcen auf die Gesundheit hat. Wir haben aber auch ein Problem der ungleichen Verteilung von Wissen bzw. der Wissensproduktion: Beispielsweise hat eine Gruppe von Wissenschaftler/innen ausgerechnet, dass die National Institutes of Health trotz 4 Millionen Schusswaffenopfern in den letzten 40 Jahren nur drei Forschungsprojekte zu dem Thema gefördert haben. Bei Tollwut wurden dagegen im gleichen Zeitraum mehr Projekte gefördert, als es Fälle gab. Bezogen auf unsere Situation sollten wir diskutieren: Brauchen wir wirklich die fünfhundertste Studie zur Frage, ob man mit einem leicht modifizierten Diätprogramm nach sechs Monaten zwei Kilo abnehmen kann? Oder sollten wir uns nicht auf die vielen Bereiche konzentrieren, in denen trotz dringenden Handlungsbedarfs große Wissenslücken existieren, wie z.B. Strategien zur Verringerung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit?
In Deutschland gibt es insgesamt deutlich zu wenig Forschungsförderung für die Bereiche Prävention und Gesundheitsförderung. Das hängt auch mit der gegenwärtigen Ausschreibungssystematik zusammen: Viele Forschungsförderprogramme orientieren sich an definierten Krankheitsentitäten oder an technischen Innovationen. Gesundheitsförderung bezieht sich dagegen nicht auf bestimmte Erkrankungen und wird primär durch soziale Innovationen, nicht durch technische Innovationen getragen.
Hier sollten wir sowohl die Forschungsförderer wie auch die Anwender/innen von Forschung stärker in die Pflicht nehmen: Ob Brücke, Boot oder (U-)Bahn - die Beziehung zwischen Wissen und Handeln ist keine Einbahnstraße. Die Praxis sollte der Forschung und der Forschungsförderung genauer und deutlicher als bisher sagen, wo Forschungsbedarf besteht.
GBB: Wie könnte eine gelungene Schnittstelle zwischen Praxis und Wissenschaft aussehen? Bedarf es hier neben einschlägigen Studien auch eigene Akteure oder Formate, die eine Interpretation und Aufbereitung des vorliegenden Wissens für die Praxis leisten?
Gerhardus: Wir haben lange geglaubt, um Wissenschaft für die Praxis nutzbar zu machen, genüge es, den wissenschaftlichen Duktus in eine für Praktiker/innen verständliche Sprache zu übersetzen. Abgesehen von einem gewissen Dünkel, der in dieser Annahme steckt: Das entscheidende Problem liegt in den unterschiedlichen Bedingungen und Anreizsystemen, die für die Wissenschaft an Universitäten einerseits und die Praxis andererseits gelten. Eine Schnittstelle müsste daher nicht nur ein Ort der Übersetzung, Interpretation und Aufbereitung sein, sondern Raum für Verhandlungen bieten: Welche Themen, welche Probleme sind wichtig? Für welche Aspekte einer Entscheidung können wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse verzichten, für welche nicht? Wie zuverlässig (und damit wie kosten- und zeitaufwändig) müssen wissenschaftliche Erkenntnisse sein, um gesundheitsrelevante Entscheidungen treffen zu können?
Für den Bereich der Krankenversorgung gibt es bereits einen institutionellen Ansatz in Form des Gemeinsamen Bundesausschusses im Zusammenspiel mit dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Aus den USA kommen vielversprechende Beispiele, wie das Förderprogramm zu Comparative Effectiveness Research und das nachfolgende Patient-Centered Outcomes Research Institute. Für Prävention und Gesundheitsförderung wäre etwas Vergleichbares dringend notwendig.
GBB: Da wir in der Abschlussdiskussion mit Vertreter/innen aller Bundestagsfraktionen „Herausforderungen der Bundespolitik“ diskutieren: Was erhoffen Sie sich von der Politik, wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Gerhardus: Mit Blick auf das Thema „Vom Wissen zum Handeln“ sehe ich für Prävention und Gesundheitsförderung drei zentrale Herausforderungen: (1) Zusammentragen und Priorisieren des Forschungsbedarfs in Prävention und Gesundheitsförderung. (2) Eine Verständigung darüber, welchen Grad an wissenschaftlicher Zuverlässigkeit wir für wichtige gesundheitsbezogene Entscheidungen voraussetzen wollen. (3) Etablierung von Mechanismen, die dafür sorgen, dass der so erhobene Forschungsbedarf in Forschungsausschreibungen transformiert wird.
GBB: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Am Mittwoch, den 6. und Donnerstag, den 7. März 2013 findet der Kongress Armut und Gesundheit in der Technischen Universität Berlin statt. Das komplette Programm für den Kongress sowie weitere Informationen finden Sie hier.