15.10.2018
Die soziale Herkunft beeinflusst das Ernährungsverhalten und damit die Zahngesundheit
Sebastian Ziller, MPH, Bundeszahnärztekammer Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Zahnärztekammern e.V.
Schlagwörter:Ernährung, Gesundheitskompetenz, Soziallage
Unbestritten ist, dass die soziale Lage einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit hat. Die Mundgesundheit als Teil der allgemeinen Gesundheit ist davon nicht ausgenommen. Allgemein betrachtet, hat sich die Mundgesundheit in Deutschland und allen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Dies gilt besonders für den Rückgang der Karies im Kindes- und Jugendalter. Diese Entwicklung bezieht sich jedoch immer auf den Durchschnitt der jeweiligen Alterskohorte. Daneben gibt es die Risikogruppen, deren Mundgesundheitsstatus von diesen Durchschnittswerten deutlich abweicht.
So ist in Deutschland die Zahnkaries bei Kindern (12-Jährige) in den letzten 30 Jahren durch sehr erfolgreiche Präventionsstrategien durchschnittlich um 88 Prozent zurückgegangen. In Deutschland wiesen 12-Jährige im Jahr 2016 lediglich 0,4 löchrige, reparierte oder fehlende Zähne auf, 1989 waren es noch 4,1 betroffene Zähne (s. Abb. 1).
Doch nicht alle sozialen Schichten haben gleichermaßen an den Präventionserfolgen partizipiert. Wir beobachten seit vielen Jahren, und dieses Phänomen gilt weltweit, eine Polarisierung des Kariesbefalls: Kinder wie Erwachsene aus unteren sozialen Schichten sowie Migrantinnen und Migranten haben kränkere Zähne. Weniger Geld und Bildung bedeuten also nach wie vor einen schlechteren Mundgesundheitszustand (s. Abb. 2).
Gesundheitsverhalten und soziale Lage
Die Entstehung der häufigsten Munderkrankungen ist einerseits wesentlich auf das Gesundheitsverhalten zurückzuführen, andererseits wird das Gesundheitsverhalten wiederum durch die jeweilige sozioökonomische Lage, der die Individuen unterliegen, geprägt.
So putzen Angehörige unterer sozialer Schichten nach wie vor seltener ihre Zähne und gehen seltener vorsorgeorientiert zum Zahnarzt als andere Personen und weisen eine geringe Fluoridierung sowie wenige Fissurenversiegelungen an den Backenzähnen auf.
Zweitens verfügen Menschen in dauerhaft prekären Lebenslagen über eine geringere Gesundheitskompetenz; sie wissen deutlich weniger über Gesundheit im Allgemeinen und Mundgesundheit im Konkreten Bescheid und was man zum Erhalt derselben tun sollte.
Gemeinsamer Risikofaktor Ernährung
Der dritte Grund für die mundgesundheitliche Ungleichheit betrifft den Verhaltensaspekt der Ernährung. Kariöse Zähne sind nämlich auch eine Folge ungesunder Ernährung, insbesondere von zu viel Zucker, zu vielen Kohlehydraten, zu vielen Softdrinks und zu weichen Nahrungsmitteln. Menschen aus unteren sozialen Schichten greifen häufiger zu Süßigkeiten und kariogenen Softgetränken als andere Personen. Und wie die Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (KiGGS) im Jahr 2008 zeigte, sind beim Mundgesundheitsverhalten die gesundheitlichen Risiken auch in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund ungleich verteilt. Vor allem Kinder und Jugendliche aus der Türkei, den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und aus arabisch-islamischen Ländern haben ein erhöhtes Risiko für Zahnkaries.
Gerade wenn es um den Mundgesundheitszustand in Abhängigkeit vom Sozialstatus geht unterscheiden sich also die Probleme der Zahnmedizin hinsichtlich der Determinanten, Indikatoren und Zusammenhänge nur unwesentlich von der Medizin. Erkrankungen entstehen selten monokausal, sondern sind meist Ergebnis multifaktorieller Prozesse. Häufig lässt sich aus Verhaltens-, sozialen Umfeldrisiken und somatischen Risiken ein gemeinsamer „Risikofaktorenkanon oraler und allgemeinmedizinischer Erkrankungen“ (common risk factors), extrahieren. Es wird deutlich, dass vielfach aus gleichen Problemlagen sowohl allgemeine als auch zahnmedizinische Gesundheitsstörungen folgen. Das sind v.a. soziale Umfeldrisiken und daraus häufig resultierende Verhaltensrisiken wie ungesunde Ernährung (speziell Zuckerkonsum). Orale Erkrankungen stehen außerdem zunehmend in einem stärkeren medizinischen Zusammenhang - und umgekehrt. Das bedeutet auch, dass im Laufe des Lebens Munderkrankungen stärker durch somatische Risiken als durch Verhaltensrisiken beeinflusst werden.
Lösungsansätze für die Praxis
Neben bildungs-, sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen sind für eine Verbesserung der Mundgesundheit von sozial schlechter gestellten Menschen gesundheitsförderliche Maßnahmen, die der Stärkung der Gesundheitsressourcen und -potentiale der Menschen dienen, sinnvoll. Die Zahnmedizin hat im Rahmen der Gesundheitsförderung eine bedeutende Aufgabe, da die Mundgesundheit als Teil der allgemeinen Gesundheit anzusehen ist. Zum einen führen Risikoerkennung und -minimierung (Prävention) und zum anderen eine intensive Ernährungsberatung und -lenkung nachweislich zu einer Verbesserung der Mund- und allgemeinen Gesundheit. Kinder müssen schon von klein auf in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen immer wieder ein gesundes Leben vorgelebt und erklärt werden.
Orale Gesundheitsförderung muss bevölkerungs-, gruppen- und individualprophylaktische zahnmedizinische Konzepte vernetzen, um die schwer erreichbaren vulnerablen Gruppen zu erreichen. Gerade bevölkerungsweite Präventionsmaßnahmen, wie die Verbreitung fluoridierten Speisesalzes, erreichen einen Großteil der sozial be-nachteiligten Menschen - sie sind hier besonders effektiv.
Einen verhältnispräventiven Ansatz verfolgt auch EU-Kommission, welche aus gesundheitlichen Gründen keine gezuckerte Schulmilch mehr fördern möchte. Viele Ärzte und Ernährungsexperten unterstützen dies und forderten im Spätsommer 2018 den Gesetzgeber in Deutschland auf, die steuerfinanzierte Förderung von gezuckertem Kakao im Schulmilchprogramm zu beenden. Auch die Zahnärzteschaft macht regelmäßig darauf aufmerksam, dass das Kariesrisiko deutlich mit der Frequenz der Zuckeraufnahme zusammenhängt, weshalb auf zuckerhaltige Zwischenmahlzeiten oder Getränke verzichtet werden sollte.
Eine Vielzahl von Ärzteverbänden und rund 2000 Ärzte forderten im Frühjahr 2018 von der Bundesregierung Sondersteuern, eine bessere Lebensmittelkennzeichnung und Einschränkungen bei der auf Kinder zielenden Werbung, um gegen Lebensmittel mit hohem Zuckeranteil vorzugehen. Die Forderungen erscheinen sinnvoll und sind wissenschaftlich abgesichert.
Die Bundezahnärztekammer stellt in diesem Zusammenhang fest,
- dass Verbraucherinnen und Verbraucher ein Recht auf eine leicht verständliche und gut lesbare Lebensmittelkennzeichnung haben, insbesondere im Hinblick auf die Menge zuckerhaltiger Nahrungsbestandteile und ungünstiger Fettsäuren,
- dass Lebensmittel für Kleinkinder deutlich zuckerreduziert und mit einer klaren Kennzeichnung speziell für Zucker versehen sein sollten. Zuckerhaltige Lebensmittel für Kleinkinder sollten Beschränkungen bei der Lebensmittelwerbung unterliegen.
- dass auf stark zuckerhaltige Softdrinks der Gesetzgeber Sonderabgaben vorsehen sollte. Maßnahmen für gesunde Ernährung sollten auch durch steuerliche Anreize gefördert werden (z.B. reduzierte Mehrwertsteuer) ,
- dass Standards für die gesunde Schul- und Kitaverpflegung benötigt werden und diese verbindlich umgesetzt werden sollten.
Quellen:
Borutta A. (2009): Ungleichheit in der Mundgesundheit - Herausforderung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Präv Gesundheitsf 4: 99.
DAJ (Hrsg.) (2017): Epidemiologische Begleituntersuchungen zur Gruppenprophylaxe 2016. Gutachten der Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege e.V. (DAJ), Bonn 2017.
IDZ (Hrsg.) (2016): Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V). Deutscher Zahnärzte Verlag DÄV, Köln 2016.
Ziller S. (2009): Mundgesundheit unter dem Aspekt der gesundheitlichen Ungleichheit. In: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Gesundheitliche Versorgung und Gesundheitsförderung - eine Frage der sozialen Gerechtigkeit? Hrsg.: Wesenauer, A., Sebinger, S. Mabuse-Verlag, Frankfurt a. Main: S. 87-102.
Ziller S. (2012): Die Mundgesundheit von Migranten. Mittblatt Berliner Zahnärzte 9: 30-31.
RKI (Hrsg.) (2008): Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2003-2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes, S. 31-43.