26.03.2015
Eckpunkte für familienbezogene Gesundheitsförderung
Hauptvortrag von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann auf der Satellitenveranstaltung 2015
Klaus Hurrelmann, Hertie School of Governance, Berlin
Schlagwörter:Eltern, Familie, Familiengesundheit, Gesundheitspolitik
Welche Folgerungen ergeben sich aus wichtigen Studien wie z.B. der AOK Familienstudie und der World Vision Kinderstudie für Strategien der Entwicklungs- und Gesundheitsförderung der Kinder? Kinder brauchen eine möglichst reichhaltige und vielfältige Umwelt und so viele Anregungen für ihre Entwicklung wie irgend möglich. Ist die Auseinandersetzung mit der Umwelt, der sozialen und der physikalischen, verarmt und restringiert, dann ergibt sich hier ein Einfallstor für viele Belastungen. Die Kinder sind auf Familien angewiesen, die fest in Netzwerke eingebunden sind. Es gilt das Sprichwort „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“.
Die Forschung zeigt ganz klar, wie wichtig die Rolle der Eltern ist, wie entscheidend ihre Impulse sein können, aber wie schnell sie auch überfordert sein kann. Es geht also darum, die Familie sehr stark zu machen und die Eltern zu unterstützen, wo und wie es immer möglich ist. Aber es geht auch darum, sie in eine Umwelt zu stellen, die helfen und unterstützen kann, wenn die Kräfte der Mütter und Väter aufgebraucht sind, dann benötigen sie eine Umwelt, die einspringt und ihnen Lasten abnimmt.
Ein Kind braucht seine Familie, die ist durch nichts ersetzbar. Die Eltern sind das Zentrum des gesamten Entwicklungs- und Sozialisationsgeschehens. Die Eltern sind die Koordinationspersonen für den Betreuungs- und Bildungsprozess eines Kindes. Sie sind das Zentrum, aber sie können es alleine nicht schaffen. Sie sind schnell überfordert, gerade in den heutigen Gesellschaften, welche sehr weit gefächert, sehr vielfältig und sehr sektoral aufgesplittert sind und die auch von den Eltern heute vieles verlangen, denken wir nur an die Verbindung von Berufsarbeit, Haushalt und Kindererziehung. Die Eltern brauchen eine öffentliche Unterstützung. Sie brauchen die Nachbarschaft, die öffentlichen Bildungseinrichtungen und die gesundheitlichen Versorgungsinstitutionen, die Jugendhilfe und die Familienhilfe und vieles mehr. Alle diese Ressourcen und Strukturen sind für die Kinder nötig und müssen mit der Familie verzahnt und koordiniert werden.
Grenzen der familienzentrierter Wohlfahrtspolitik
Die deutsche Wohlfahrtspolitik geht immer noch von der Idee aus: Das Beste, was einem Kind passieren kann, das sind die Eltern. Wir haben ein familienzentriertes Modell der Wohlfahrtspolitik und sind damit im historischen Rückblick auch wunderbar gefahren. Heute merken wir aber immer stärker die Grenzen, die dieses Modell hat. Möglicherweise haben wir es nicht genügend weiterentwickelt. Wir haben übersteuert: Wir neigen dazu, alle Unterstützung für die Kinder an die Familie zu geben. Dadurch sind die Kinder quasi auf Gedeih und Verderb auf die Eltern angewiesen, so stark wie in kaum einem anderen Land. Durch die Fixierung auf die klein gewordene und gegenüber den Gründungsjahren der Bundesrepublik auch völlig anders strukturierte Familie haben wir übersehen, dass die Familie ein Umfeld benötigt, um richtig stark sein zu können. Die Familien von heute sind sehr klein und sehr störungsanfällig. Sie schaffen es nicht, all die Anforderungen, die sich an die Erziehung eines Kindes und an die gesundheitliche Entwicklung stellen, von alleine zu bewältigen.
Wir sehen mit Ernüchterung, dass wir bei internationalen Vergleichsuntersuchungen, von UNICEF etwa, nicht gerade an der Spitze stehen, sondern immer irgendwo im Mittelfeld, obwohl wir doch vor allem im finanziellen Bereich wahnsinnig viele Mittel an die Eltern geben. Es gibt Modellrechnungen des Bundesfamilienministeriums, dass alle Transfermittel an die Familien und zusammen pro Jahr mehr als 180 Milliarden Euro ausmachen. Das sind immense Summen. Wir tun in Deutschland also objektiv viel für die Familie, aber die Mittel erreichen ganz offensichtlich nicht die Kinder und fördern ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit nicht so stark, wie es zu erwarten wäre. Das eine Fünftel der Kinder in relativer Armut und prekärer Gesundheit jedenfalls zeigt die Grenzen unserer Wohlfahrtspolitik auf.
Förderung von Eltern und unterstützenden Netzwerken
Familienbezogene Gesundheitsförderung sollte deshalb immer die Förderung sowohl der Eltern selbst als auch ihrer Netzwerke sein. Die Überschätzung der Steuerungsleistung der Familie sollte ein Ende haben. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass eine Familie heute vielfältige Unterstützung und Hilfe aus ihrem Umfeld braucht, die strukturell sicher und permanent abrufbar ist. Die Familie braucht so dringend wie wohl noch nie das „ganze Dorf“, mit Kindergarten und Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheits- und Versorgungssystem, Freizeitbereich, Nachbarschaften und zivilen Einrichtungen, damit ein Kind prosperieren und sich gut entwickeln kann. Die Familie und das Kind brauchen eine bürgerschaftliche, kommunale Infrastruktur.
Das oberste Ziel der Politik für Kinder muss es also sein, die Verantwortung der ganzen Gemeinschaft zu wecken und das Kind in die Familie, in die ganze Gemeinschaft einzubeziehen und nicht davon auszugehen, dass das Erziehen eine Privatsache der Eltern sei. Es ist eine Tatsache, dass viele Eltern - heute wahrscheinlich mehr als früher - Unterstützung, Hilfe und Vernetzung aus dem öffentlichen Raum benötigen. Kindergarten und Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheits- und Versorgungssystem, Freizeitbereich, Stadtplanung, kommunale Einrichtungen, alle diese Dienste müssen ansprechbar sein und auf das Kind zugehen, damit es sich gut entwickeln kann. Wir brauchen eine bürgerschaftliche Infrastruktur für Kinder, in der die Familie eine Schlüsselrolle spielt. Wir brauchen aber nicht noch mehr Unterstützung für Familien, die von ihrer sozialen Umwelt isoliert sind. Das bekommt den Kindern nicht gut.
Durch Kindergeld, Elterngeld, durch die Steuerpolitik mit dem sogenannten „Ehegattensplitting“ als wichtigster struktureller Komponente setzen wir Anreize, mit der wir die Familie von der sozialen Umwelt abschotten, statt sie mit ihr zu verzahnen. Es ist aussichtslos, den Eltern immer mehr Verantwortung für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu übertragen, ohne auch ihre Kompetenzen für diese Aufgabe zu steigern. Gerade die Eltern, die wirtschaftlich schwach sind und einen niedrigen Bildungsgrad haben, sind gar nicht in der Lage, die finanziellen Zuweisungen so zu nutzen, dass sie ihren Kindern für ihre Entwicklung direkt zugutekommen.
Das ist der Hintergrund dafür, dass in den letzten beiden Jahrzehnten die Ungleichheit in den Lebensbedingungen der Familien weiter angestiegen ist. Das Leben ist komplexer und die Ansprüche an die Lebensführung sind vielfältiger geworden, und ein Teil der Eltern ist hierdurch überfordert, in etwa die 20 Prozent, von denen schon die Rede war. Diese Väter und Mütter schaffen es nicht, ihre Kinder in der richtigen Weise auf die Herausforderungen in Freizeit, Bildung und Gesundheit einzustellen. Von anderen Ländern können wir lernen, wie viel besser die Kinder dastehen, wenn nicht alleine die Eltern mit diesen Aufgaben betraut werden, sondern öffentliche Einrichtungen im Einverständnis mit den Eltern und wenn möglich mit ihrer Kooperation mit einspringen.
Korrektur der bisherigen Familienpolitik
Die letzten Bundesregierungen haben angefangen, die bisherige Familienpolitik maßgeblich zu korrigieren und die Familienfixiertheit der Fördermaßnahmen abzubauen. Im internationalen Vergleich ist ja das Netzwerk der außerfamiliären Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsinstitutionen und der gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen auch auf einem sehr hohen fachlichen und qualitativen Niveau. Pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, sozialarbeiterische, ergotherapeutische, pflegerische und andere Versorgungsdienste werden von professionell hervorragend geschultem Personal geleitet. Die Fachkompetenz ist hoch, das Engagement ebenso.
Allerdings haben wir ein Problem, und das ist die starke Fragmentierung der verschiedenen Dienste. Jeder einzelne Sektor hat seine eigene Ausbildungstradition und die damit verbundenen beruflichen Urteile und Vorurteile. Jedes einzelne Segment des Unterstützungssystems für Kinder arbeitet in relativer Isolation vor sich selbst her. Die Beziehungen zum jeweils anderen Sektor sind schwach.
Die verschiedenen Professionen und die Institutionen, in denen sie tätig sind, miteinander zu verbinden, das ist deswegen eine der dringendsten Aufgaben, vor denen wir stehen. Die verschiedenen Berufsgruppen und ihre Institutionen lieben es, ihre jeweilige Zuständigkeit zu betonen und sich deutlich von der angrenzenden Institution abzugrenzen. Das ist nicht souverän, und es schadet der Klientel, nämlich den hilfsbedürftigen Kindern. Der wirkliche Professionelle weiß genau, wo seine Grenzen liegen und die Kompetenzen des anschließenden Bereichs beginnen. Durch diese Fragmentierung ist trotz der hohen Qualität der Angebote bei uns nicht gesichert, ob die verschiedenen Dienstleistungen und Unterstützungen auch tatsächlich dem Kind zugutekommen.
Damit hängt ein weiteres Problem zusammen: Wir haben viel zu viele aufsuchende Strukturen. Die Kinder, meist zusammen mit ihren Eltern, müssen sich auf die Beine machen und im Bedarfsfalle auf die psychologische, sozialarbeiterische oder ergotherapeutische Beratung und Hilfe zugehen. Dazu müssen sie viele Barrieren und Hemmnisse überwinden. Viel effizienter sind zugehende Strukturen. Bei denen kommen die professionellen Helfer zum Kind. Am besten gelingt das, wenn die Hilfs- und Unterstützungsdienste in die Einrichtungen im Vorschulbereich, also die Kinderkrippen, Horte und Kindergärten, oder in die schulischen Einrichtungen, vor allem die Grundschulen, integriert sind.
In einigen Regionen wurde durch die Etablierung von „Familienzentren“ in Vorschuleinrichtungen ein hervorragender erster Schritt in diese Richtung gemacht. Aber insgesamt sind wir im internationalen Vergleich weit zurück. Es gibt kaum noch ein anderes Land der Welt, in dem sich zum Beispiel in den Kindergärten nur Erzieherinnen und Erzieher und in den Schulen nur Lehrerinnen und Lehrer aufhalten. Fast überall sonst um uns herum finden sich die anderen Berufsgruppen aus den pädagogischen, psychologischen, gesundheitlichen und beratenden Berufen direkt in den Bildungsinstitutionen. Diese Einbindung in die Institutionen, in denen sich die Kinder bereits aufhalten, ist in den nächsten Jahren auch in Deutschland anzustreben.
Die vollständige Version dieses Vortrages finden Sie hier als PDF-Datei.
Mehr zum Thema "familienbezogene Gesundheitsförderung"
finden Sie auf der Dokumentationsseite der Satellitenveranstaltung 2015.