21.12.2015
Erschöpfte Familien unterstützen
Rückblick auf den Bundeskongress "Kinderarmut bekämpfen" im November 2015
Pia Block, ehem. Gesundheit Berlin-Brandenburg
Schlagwörter:Armut, Kinder, Kinderschutz, Kongresse
„Kinderarmut bekämpfen“ lautete das Motto des Bundeskongresses, der am 12. und 13. November auf dem Stiftungsgelände Das Rauhe Haus in Hamburg stattfand. An dem Kongress, den das Deutsche Kinderhilfswerk gemeinsam mit dem SpielTiger e.V., der Stiftung Das Rauhe Haus und der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie veranstaltet hat, nahmen rund 100 Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe teil. Der Kongress fand unter der Schirmherrschaft des Deutschen Städte- und Gemeindebundes statt.
Dokumentation des Bundeskongresses „Kinderarmut bekämpfen!“
Die Dokumentation der Veranstaltung mit den Beiträgen der Referentinnen und Referenten, den Tagungsergebnissen sowie Impressionen finden Sie auf der Internetseite des Deutschen Kinderhilfswerkes unter folgendem Link.
Dr. Friedmann Green (Vorsteher der Stiftung Das Rauhe Haus) berichtete in seiner Eröffnungsrede von der Arbeit mit „erschöpften Familien“ im Kinderzeitprojekt. Mit diesem Projekt werden seit 2012 Kinder aus belasteten Familien unterstützt, indem Einzelfallhilfen mit sozialräumlichen Angeboten verbunden werden. Er betonte die Bündelung und Vernetzung der zahlreichen Angebote und Aktivitäten: „Das Zusammenwirken der verschiedenen Fachlichkeit und Zuständigkeiten - das müssen wir pflegen“. Dies geht für ihn einher mit einem Überdenken der rechtlichen Rahmenbedingungen und einer stärkeren Verankerung der Kinderrechte. Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, hat die aktuelle Zahl von Kinderarmut - rund drei Millionen Kinder und Jugendliche sind in Deutschland von Armut betroffen - zum Anlass genommen, politische und gesellschaftliche Herausforderungen aufzuzeigen: Denn obwohl Verantwortliche auf allen Ebenen engagiert sind, hat sich die Situation in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern verschärft. Er zeigte konkrete Unterstützungsmaßnahmen des Deutschen Kinderhilfswerkes wie den Nothilfefonds oder die Schulranzenaktion auf und forderte „Ein Bündnis für Kinder“. Ein wichtiger Schlüssel zur Armutsprävention ist für ihn die Partizipation: „Kinder, die sich früh beteiligen können, haben die Chance, den Teufelskreis zu durchbrechen“. Die Senatorin Dr. Melanie Leonhard für Arbeit, Soziales, Familie und Integration knüpfte an die aktuelle Situation in Hamburg an. Laut aktueller Zahlen sind ca. 22 Prozent der Hamburger Kinder unter sieben Jahren von Armut betroffen. Sie betonte die Unterstützung der Eltern - sie in ihrer „Rolle als Versorger, Beschützer und Betreuer zu stärken“. Dr. Leonard hält an einer freien Kita-Betreuung für alle Hamburger Kinder fest: „Denn Armut wird auch dann zu einem Stigma, wenn man sie nachweisen muss, um teilzuhaben“.
Ursula Krickl (Referatsleiterin Deutscher Städte- und Gemeindebund) unterstrich in ihrer Rede die begrenzten kommunalen Möglichkeiten und brachte diese in Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik und steigenden Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Außerdem betonte sie den erheblichen Einfluss des angespannten Wohnungsmarktes in Städten auf Armutslagen: „Armut muss quartiersbezogen bekämpft werden“. Sie forderte in diesem Zusammenhang ein neues Bundesbauprogramm. Sie nahm auch die ländlichen Regionen in den Blick, die vor allem Mobilität und Infrastruktur als zentrale Herausforderung zu bewerkstelligen haben. Zielgerichtete Maßnahmen gegen Kinderarmut müssen mit unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteuren vor Ort entwickelt werden: „Hier fängt keine Stadt, keine Gemeinde bei null an“. So betonte sie die Präventionsketten und Netzwerke Früher Hilfen als Strukturen und gelingende Ansätze, um von Armut betroffene Kinder möglichst früh zu erreichen. Dabei sollten nicht nur die Kinder in den Blick genommen, sondern auch die Situation der Eltern berücksichtigt werden.
Fachliche Impulse zum Thema Kinderarmut von Prof. Lutz und Johannes Richter
Prof. Ronald Lutz (Fachhochschule Erfurt) zeigte in seinem Vortrag sehr anschaulich aktuelle Herausforderungen und Erklärungen von Kinderarmut auf, in dem einige zentrale Punkte herausgestellt wurden:
Verschärfung und Verstetigung von Armut
Seiner Ansicht nach hatte man schon vor 21 Jahren auf den ersten Armutsbericht falsch reagiert: Kinderarmut hat zwar mittlerweile politische Aufmerksamkeit und es gibt eine Fülle an guten und erfolgreichen Projekten auf lokaler Ebene, aber: Armut steigt, verschärft und verstetigt sich. Woran liegt es und woran scheitern aktuelle Maßnahmen der Armutsprävention? Ronald Lutz stellt drei Thesen auf, weshalb Armut nicht überwunden werden kann:
- Bedrohlichkeit von Armut für die unter Druck geratene Mittelschicht (Drohung Hartz IV)
- Deregulierung des Arbeitsmarktes und hohe Quote des Niedriglohnsektors („working poor“) als erkennbarer Hintergrund
- Keine koordinierte Hilfe: Flickenteppich an Projekten und kein Nationaler Aktionsplan gegen Kinderarmut
Erschöpfte Familien
Die aktuelle Studie von Sabine Andresen „Kinder. Armut. Familie“ (2015) zeigt, dass Eltern immer bemüht sind, ihre Kinder zu fördern. „Die wenigen, die es nicht können, sind erschöpft“. Der Begriff der „erschöpften Familien“ wurde von Prof. Lutz zusammen mit Ute Meyer-Gräwe geprägt.
In diesem Zusammenhang machte der Referent auch auf den Netzwerkgedanken aufmerksam: „Wenn Brückenkapital fehlt, sind Netzwerke wichtig“.
Dilemma der Bildung
Bildung ist ein wesentliches Element der Festschreibung unserer ökonomisch und sozial gespaltenen Gesellschaft: Im Bildungssystem werden Chancen verteilt oder eben auch nicht. Kinder, die in Armut aufwachsen, werden trotz des Wunsches der meisten Eltern nach einem besseren Leben für ihre Kinder, in ihren Teilhabe- und Bildungschancen massiv eingeschränkt. Trotz dieser Wertigkeit von Bildung bleibt Schule eine Herausforderung. Denn sozial benachteiligte Kinder werden in der Regel mit Mittelstandsblick betrachtet und aus diesem heraus Erwartungen formuliert. Das Nicht-Erfüllen von Anforderungen ist damit Alltag. Lutz kritisierte zudem die mangelnde Sensibilisierung für das Thema Armut in den Ausbildungsinhalten für Lehrende und Erziehende.
Die Ausgrenzung beginnt bereits in frühster Kindheit. Das Vorwissen der Kinder vor dem Eintritt in die Schule wurde lange Zeit als Faktor des Bildungserfolgs unterschätzt. So fand man in einem Forschungsprojekt der Universität Bamberg (BiKS) heraus, dass Kinder aus wohlhabenden Verhältnissen mit drei Jahren doppelt so viele Wörter kennen wie Kinder aus benachteiligten Familien. Dies können Kitas kaum korrigieren. Lutz sprach in diesem Zusammenhang von dem Matthäus-Effekt: „Wer hat, dem wird gegeben“.
Forderungen:
Instrumente wie Hartz IV sowie das Bildungs-und Teilhabepaket beschrieb Prof. Lutz als unzureichend, da sie zu gering, zu individualisiert und zu unspezifisch aufgestellt sind.
Prof. Lutz forderte die Neuberechnung des Existenzminimums - hier müsse es zu einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung kommen. Weiter forderte er den Ausbau und die Absicherung der Mindestlöhne sowie einen nationalen Aktionsplan gegen Kinderarmut, der Maßnahmen bündelt. Es müssen Investitionen in Infrastrukturen getätigt werden, es bedarf einer Koordinierung der existierenden Programme im kommunalen Bereich und ein Programm, was Kinder in den Mittelpunkt stellt - so Lutz. Vor allem aber bedarf es einer Politik der Kinder - eine Politik, die vom Kinde und seinen Interessen und Rechten ausgeht, Teilhabe ermöglicht und Anerkennungskontexte herstellt. Dies setzt voraus, dass politische Institutionen Räume öffnen, in denen Kinder sich politisch entfalten können und sich an den Bedarfen und den Bedürfnissen der Kinder orientieren.
Das Fazit: „Eine Gesellschaft ohne Armut ist denkbar, aber ist sie wirklich gewollt?“
Johannes Richter (Ev. Hochschule Hamburg) beleuchtet seinem Vortrag „Sozialpädagogische Armutsprävention - Zwischen De-Thematisierung und politischer Indienstnahme“ kritisch den aktuellen fachlichen Diskurs zum Thema Kinderarmut. Dieser ist gekennzeichnet durch:
- große Empfänglichkeit für vorschnelle und unterkomplexe Problemverschreibungen,
- tendenzielle Individualisierung und Moralisierung,
- „Pragmatistische Unüberlegtheit“
Er betrachtet u. a. das Konzept der „Präventionsmaxime“ kritisch, da positive Wirkungen immer hervorgehoben werden, aber wenig begründet sind. Es „beißen“ sich Expansionismus und Aktivierungsmaxime: Wenn Hilfe nicht „nach dem Gießkannenprinzip erfolgen darf“, müssen „Hochrisikogruppen“ identifiziert werden. So haben viele Präventionsmaßnahmen einen Zwangscharakter und damit eine stigmatisierende Wirkung. Es stünde zudem vielmehr die Prävention von Verhalten als von Verhältnissen im Vordergrund. Er kritisiert auch den Kinderschutz - denn die Bedürftigkeit der Kinder wird verallgemeinernd über ihre Köpfe hinweg formuliert und zugeschrieben und die Partizipation gerät aus dem Blick.
Richter regte an, die Begriffe Bindung, Bildung und Resilienz kritisch zu hinterfragen: Der Begriff Bindung hat durch den Ausbau der Frühen Hilfen eine gigantische Karriere durchlaufen. Aber lässt sich Feinfühligkeit wirklich erlernen? Beruht Bindung nicht vielmehr auf einem bürgerlichen Konzept, mit denen wir an benachteiligte Familien herantreten und welches zum diagnostischen Denken verleitet? Resilienz wird als Metapher weg von der Defizitorientierung gebraucht, hier aber dominieren personale Aspekte. Und bezogen auf die allgemeingültige Aussage „Investitionen in Bildung lohnen sich immer“ hinterfragte Herr Richter: Ist Bildung wirklich das Mittel der Wahl? - Für wen? Und zu welchem Zweck?
Das Fazit: Präventionsversprechen sollten nicht ungefiltert abgegeben werden, denn auch Prävention und Kinderschutz „tun weh“, haben mit dem Eigensinn von Kindern und Eltern zu rechnen und sind für wenig Geld kaum zu haben.
Word Café: Die Praxis im Blick
Im anschließenden World Café ging es primär darum, wie sich Kinderarmut in der alltäglichen Arbeit aller teilnehmenden Institutionen darstellt. In einer zweiten Café-Runde stellten sich vier kommunale Beispiele aus Dinslaken, Essen, Gummersbach und Gladbeck (hier durch kommunale Vertreter und Frau Kruse von der Bertelsmann Stiftung) gegen Kinderarmut vor. Hier lag der Fokus auf integrierten kommunalen Handlungskonzepten zum Thema Kinderarmut, wie sie das Programm des LVR Rheinland fördert. In vier zeitlich versetzen Förderstaffeln werden im Zeitraum von 2011 bis Ende 2017 39 Jugendämter im Rheinland beim Auf- und Ausbau ihrer Netzwerkstrukturen gegen Kinderarmut finanziell gefördert und fachlich begleitet. Im Anschluss diskutierten die Teilnehmenden in einer weiteren World Café-Runde, inwiefern die vorgestellten Handlungsansätze einen Beitrag zur Bekämpfung der Kinderarmut leisten können und welche weiteren Ansätze sich bewährt haben. Hier stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fest, dass eine stärkere Vernetzung und Entwicklung fachlicher Qualitäten dazu beitragen kann, den Folgen von Kinderarmut etwas entgegen zu setzen. Gleichzeitig sind die Kommunen in der Verantwortung, Mittel bereit zu stellen (Quelle: Pressemitteilung DKHW 13.11.2015).
Der zweite Kongresstag
Den Einstieg in den zweiten Tag machte ein Einblick in die Arbeit des Kinderhauses Weimar. Dieses ist Kooperationspartner des Deutschen Kinderhilfswerkes und Anlaufstelle für Kinder, deren Alltag von Armut geprägt ist. In einem kurzen Videofilm bekamen die Teilnehmenden einen guten Einblick in die bedürfnisorientierte offenen Kinder- und Jugendarbeit, wie sie im Kinderhaus Weimar stattfindet: Video
In vier verschiedenen Arbeitsgruppen wurden zu den Themen „Flucht und Kindheit“, „Frühkindliche Bildung“, „Sichtweisen von Kindern“ und „Kinderarmut in der Resilienzperspektive“ am zweiten Kongresstag intensiv gearbeitet. In der anschließenden Podiumsdiskussion beteiligten sich
Christoph Gilles (Leiter LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut), Dr. Wolfgang Hammer (BASFI in Hamburg a.D.), Raimund Menzel (Rauhes Haus) und Holger Hofmann (Geschäftsführer des DKHW), die Folgendes herausstellten:
- einen mangelnden politischen Wille auf Bundesebene, Kinderarmut zu bekämpfen;
- den Bedarf an Qualitätsentwicklung: Kompensation von Benachteiligung gelingt nur mit Qualität,
- ein notwendiges integriertes kommunales Vorgehen: „viele tun Gutes mit viel Engagement nebeneinander her“ (Gilles), daher müssen Verbindungen in Kommunen sichtbar gemacht, Versäulungen aufgelöst, und ein partnerschaftliches Gefühl verstärkt werden, welches trotzdem zulässt, als Institution erkennbar zu bleiben,
- und die Unterscheidung von einem versorgenden und einem beteiligungsorientierten Menschenbild : raus mit Zuschreibungen, armutssensibles Handeln
Erklärung als Grundlage für weiteres Handeln
Zum Abschluss der Bundeskonferenz wurde eine Erklärung von allen Teilnehmenden verabschiedet, die eine Arbeitsgrundlage für weiteres Handeln zur Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland bilden kann. Die Erklärung, die insgesamt sieben Forderungen enthält und aktuell in verschiedenste politische Gremien hineingetragen wird, finden Sie hier.
In dem Beschluss werden vor allem die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung und Reformen zur Beseitigung der Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem gefordert. Diese Maßnahmen sollen in einem Nationalen Programm zur Bekämpfung von Kinderarmut in Deutschland gebündelt werden, welches die unterschiedlichen Handlungsfelder im Sinne einer Gesamtstrategie zusammenfügt. Ein solches Programm soll auch gezielte Mitbestimmungs- und Mitwirkungschancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen sowie Maßnahmen zu einer besseren Aufnahme und Integration von Flüchtlingskindern beinhalten. (Quelle: Pressemitteilung DKHW)
Fazit aus Sicht des Veranstalters
„Der Kinderarmutskongress hat deutlich gezeigt, dass wir an vielen Stellen dicke Bretter bohren müssen“, erklärt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes. „Es kann nicht angehen, dass Projekte mehr mit der Sicherung der eigenen Existenz befasst sind als mit der inhaltlichen Arbeit. Hierfür tragen die Kommunen die Verantwortung und dürfen von Bund und Ländern nicht im Stich gelassen werden.“ (Quelle: Pressemitteilung des Deutschen Kinderhilfswerks vom 13.11.2015)
Pressemitteilung zum Kongress vom 13.11.2015:
Literaturtipps
- Jugenhilfereport (4/2015): Netzwerkmanagement, Präventionsketten und Steuerung. Kommunale Netzwerke gegen Kinderarmut (LVR): http://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/publikationen/dokumente_97/JugendhilfeReport_04_2015.pdf
- Studie Kinder- und Familienarmut. Lebensumstände von Kindern in der Grundsicherung (Bertelsmann, 2015): https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/kinder-und-familienarmut/
- Studie: „Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung“ (Andresen, Galic, 2015) https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/kinder-armut-familie/