09.03.2020
Erster ambulanter Pflegedienst mit dem Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt ausgezeichnet!
Maria-Theresia Nicolai, Gesundheit Berlin-Brandenburg
Frank Kutscha , Schwulenberatung Berlin gGmbH - Netzwerk Anders Altern
Schlagwörter:Gender, Pflege, Ältere
Das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt zeichnet Pflegeeinrichtungen aus, die gute Voraussetzungen schaffen, Angehörige sexueller und geschlechtlicher Minderheiten zu versorgen. Neben zwei stationären Einrichtungen erhielt im Dezember 2019 der erste ambulante Pflegedienst das Qualitätssiegel. Was das konkret bedeutet, berichtet Frank Kutscha vom Netzwerk Anders Altern der Schwulenberatung Berlin im Interview mit Maria-Theresia Nicolai von Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V..
Wie kam es zur Idee des Projektes?
„Die Idee ist innerhalb des Netzwerkes Anders Altern entstanden. Im Zusammenhang mit der Gründung der Pflege-WG im Mehrgenerationenhaus Lebensort Vielfalt ist sehr deutlich geworden, dass die Pflegewirtschaft in Deutschland nicht auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, inter- und transgeschlechtliche Personen (LSBTI*) eingestellt ist. Einige Einrichtungen negierten die Existenz, bei fast allen fanden sich keine Konzepte zur Integration dieser Gruppen vor. Das Thema LSBTI*- kultursensible Pflege hatte zu diesem Zeitpunkt auch keine Verankerung in den Ausbildungsinhalten der Pflege(hoch)schulen. Um dieser Unterversorgung entgegenzuwirken, wurde ein Qualitätssiegel geschaffen, zunächst für stationäre, später auch für ambulante Einrichtungen. Mit der Förderung des Projektes durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend konnte die Idee dann umgesetzt werden.“
Was macht das Projekt in Ihren Augen so wichtig?
„Bis zu zehn Prozent der Menschen in Deutschland bezeichnen sich als lesbisch, schwul oder bisexuell oder haben eine trans- oder intergeschlechtliche Identität. In der Altersgruppe der über 65-jährigen sind das bis zu 1,7 Mio. Menschen, deren Biografien geprägt sind von Diskriminierung, Kriminalisierung und Pathologisierung. Aus dieser Geschichte erklärt sich die besondere Verwundbarkeit, die auch heute noch dazu führt, dass sich diese Gruppen insbesondere in den stationären Einrichtungen lieber zurückziehen.
Als Teil eines umfassenden Organisationsentwicklungs-prozesses können Fortbildungen zum Thema zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität und Teilhabe von pflegebedürftigen LSBTI* führen. In unseren Augen ist dieses Projekt sehr wichtig, weil es gerade den älteren LSBTI* signalisiert: Da kümmert sich wer um uns, da setzt sich jemand für unsere Rechte und Bedürfnisse ein - auch im Pflegesetting. Mit dem Diversity Check, der online auf der Seite der Schwulenberatung Berlin verfügbar ist, haben Pflegeeinrichtungen in Deutschland erstmals die Möglichkeit, eine umfassende Analyse hinsichtlich ihrer Offenheit für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt durchzuführen.“
Wie ist es Ihnen als Schwulenberatung Berlin gelungen, auch die Anliegen der Lesben und Bisexuellen, sowie der inter- und transgeschlechtlichen Menschen in der zweiten Lebensphase in der Ausgestaltung des Siegels einzubinden?
„Wir haben uns von Anfang an das Ziel gesetzt, die LSBTI*-Community an dem Prozess der Entstehung des Qualitätssiegels partizipieren zu lassen. Ein Produkt für die LSBTI*-Community kann nur erfolgreich sein, wenn es die tatsächlichen Bedürfnisse abbildet. Ende 2017 haben wir einen Workshop abgehalten und sehr umfassend eingeladen. Junge und ältere Schwule und Lesben, Vertreterinnen und Vertreter von inter- und transgeschlechtlichen Organisationen, sowie Expert*innen aus der Pflege und Vertreter*innen großer Träger und Pflegeeinrichtungen haben teilgenommen. Auf Grundlage der vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse wurde ein konsensbasierter Prozess initiiert, an dessen Ende die erste Fassung des Diversity Check stand. Dieser beinhaltet einen Kriterienkatalog und ist ein Produkt der LSBTI*-Community und stößt auf sehr hohe Zustimmung.“
Was können wir uns konkret unter dem Projekt „Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt“ vorstellen?
„Mit dem Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt verfolgen wir das Ziel, ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen für LSBTI*-kultursensible Pflege zu sensibilisieren und diese im nächsten Schritt in ihre alltägliche Pflegepraxis umzusetzen. Der schon erwähnte Diversity Check umfasst fünf verschiedene Bereiche, auf die sich die einzelnen Kriterien beziehen. Konkret handelt es sich dabei um:
- Organisationspolitik und Kommunikation
- Personalmanagement
- Transparenz und Sicherheit
- Pflege und Gesundheit
- Wohn- und Lebenswelten
Aufgrund der Förderung durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist es uns möglich, bundesweit Pflegeeinrichtungen vor Ort zu beraten. Teilnehmende Einrichtungen werden nach einer Qualifizierungsphase geprüft und erhalten nach erfolgreicher Prüfung das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt verliehen. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit ist die Akquise und Koordination von Dozierenden für die verschiedenen Fortbildungen, die zum Erreichen des Ziels notwendig sind. Damit unsere Partnerinnen und Partner, sprich die Pflegeeinrichtungen, eine LSBTI*-kultursensible Pflege umfassend und dauerhaft in ihren Einrichtungen implementieren können, sind gute Kooperationspartnerinnen und -partner vor Ort notwendig. Diese Kontakte anzubahnen, darin besteht eine weitere Aufgabe für uns. Die meisten Einrichtungen, die wir begleiten, sind sehr aktiv und die Vernetzung in den unterschiedlichen Regionen klappt gut.
Wichtig ist uns, dass nicht nur die Gruppe der LSBTI* profitiert, wenn ein Großteil der Kriterien erfüllt wird. Denn von einer diversitätsbewussten, biografie- und subjektorientierten Pflege, die zu einer guten Pflegebeziehung und Pflegeleistung führt, haben nicht nur LSBTI* einen Benefit, sondern alle. Nicht zu vergessen: Auch das Thema Mehrfachdiskriminierung ist in dem umfassenden Katalog verankert.“
Das klingt nach vielen Kriterien?
„Der Diversity Check für den stationären Bereich beinhaltet 120 Kriterien (DiversityCheckstationär) und für den ambulanten Bereich 90 Kriterien (DiversityCheckambulant). Für letzteren Bereich sind es weniger Kriterien, da dort der Bereich der Wohn- und Lebenswelten kaum erfassbar ist. Es müssen 80 Prozent der Kriterien erfüllt werden, einige davon sind Pflichtkriterien. Diese Anforderung richtet sich an stationäre und ambulante Einrichtungen.
Im Fokus der Kriterien stehen die Klientinnen und Klienten der Einrichtungen. Dennoch widmen sich einige Kriterien auch den Mitarbeitenden, denn eine gute kultursensible Pflege für LSBTI* ist nur dann möglich, wenn auch Mitarbeitende, die der LSBTI*-Community angehörig sind, diskriminierungsfrei und wertschätzend arbeiten können.
Auf der Strukturebene beziehen sich einige Kriterien auf Personalfortbildungen. Einrichtungen, die das Siegel anstreben, müssen LSBTI* Basis-Fortbildungen sowie Fortbildungen zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit und HIV/AIDS vorweisen.
Auf der Prozessebene wird z. B. das Thema Gewaltprävention während der Qualifizierungsphase bearbeitet. Einrichtungen sind aufgefordert, sich dem Thema zu widmen, wie sie Mitarbeitende und Klientinnen und Klienten vor Gewalt schützen und dies in ihren Qualitätshandbüchern nachweisen.“
Welchen Beitrag leistet Ihr Projekt zur Förderung gesundheitlicher Chancengleichheit und zur Gestaltung einer gesundheitsförderlichen Lebenswelt „Pflege“?
„Wir beraten Pflegeinrichtungen, wie sie Angebote für LSBTI* schaffen können, sodass die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von pflegebedürftige LSBTI* verbessert wird. Sie sollen nicht gefordert sein, ihre Biografie zu verstecken, sondern so sein können, wie sie sind. Teilhabe beugt psychischen Erkrankungen vor. Wir sind ebenso sehr daran interessiert, die Ressourcen der Wahlfamilien und Angehörigen besser in den Pflegealltag zu integrieren.
Des Weiteren sind wir davon überzeugt, dass wir sehr konkret pflegerische und gesundheitliche Leistungen in den Einrichtungen verbessern können. Der Wissensstand zu Trans- und Intergeschlechtlichkeit ist äußerst gering, da dieses Thema in der pflegerischen Ausbildung nahezu nicht behandelt wird. Im Bereich der Versorgung von Menschen mit HIV bestehen teilweise große unbegründete Ängste vor einer Infektion. Einhergehend mit der Verbesserung des Wissenstandes, sehen wir große Chancen, Diskriminierungen zu vermeiden.
Um Minderheitenstress zu verringern, beraten wir Einrichtungen dahingehend, Symbole für LSBTI* zu setzen, damit diese sich schon beim Betreten der Einrichtung willkommen fühlen. Das kann zum Beispiel in Form eines Regenbogens sein oder anderer Symbole, die die Offenheit der Einrichtung ausdrücken. Zugleich möchten wir Einrichtungen dazu ermutigen, in ihren Medienprodukten zu zeigen: ‚Ihr seid willkommen.‘ (Homepage, Flyer, Broschüren).
Die Gesellschaft hat sich entwickelt, LSBTI* sind in breiten Teilen der Gesellschaft akzeptiert. Das Thema LSBTI*-kultursensible Pflege etabliert sich aufgrund der Relevanz in der Pflegewirtschaft. Das heißt noch nicht, dass es direkt umgesetzt wird, aber es gibt eine Anerkennung dafür, dass das ein wichtiges Thema ist.“
Vielen Dank für das Interview!