12.01.2012
"Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen."
Warum wir sektoren- und berufsübergreifende Zusammenarbeit in den Kommunen brauchen.
Klaus Hurrelmann, Hertie School of Governance, Berlin
Schlagwörter:Forschung, Kommentar, Partnerprozess, Praxis
Am 30. November 2011 fand das 9. Jahrestreffen des Kooperationsverbundes in Berlin statt. In seiner Rede spricht Prof. Dr. Klaus Hurrelmann über die Notwendigkeit einer kommunalen Zusammenarbeit um die Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen zu fördern. Hier lesen Sie die gekürzte Version seiner Rede. Die Original-Version finden Sie hier (PDF-Dokument, 70 kB).
„Ich bin sehr beeindruckt davon, wie diese Initiative Partnerprozess „Gesund aufwachsen für alle!“ sich entwickelt hat. Sie haben eine Aufbruchsstimmung erzeugt. Das ist ganz hervorragend. Gleichwohl habe ich fünf Punkte und die sind nicht alle bequem. Sie zeigen aber, dass wir aufpassen müssen, dass wir uns richtig weiterpositionieren, vor allem auch die finanziellen Anreize so ausrichten, dass Struktureffekte erzielt werden. Da sehe ich sehr große Schwierigkeiten.
Erstens:
Es gibt das schöne afrikanische Wort: „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen oder ein Kind stark zu machen.“ Ein Kind braucht seine Eltern. Die Eltern sind die Koordinationspersonen für den ganzen Betreuungs- und Bildungsprozess eines Kindes, aber sie können es alleine nicht schaffen. Die Eltern brauchen eine öffentliche Unterstützung. Sie brauchen das alles, was sie in diesem Projekt hier immer wieder thematisiert haben: die Nachbarschaft, die öffentlichen Bildungseinrichtungen und die gesundheitlichen Versorgungsinstitutionen die Jugendhilfe und die Familienhilfe und dies auf kommunaler Ebene. Ein Schwachpunkt in der heutigen Entwicklung ist, dass nur wenige Möglichkeiten bestehen, sich mit der natürlichen Umwelt auseinanderzusetzen. Der moderne Gesundheitsbegriff geht ja immer von der Idee aus, dass ich mich mit meinem Körper auseinandersetzen muss und meinen Körper aneignen muss, den aber mit meiner Psyche. Diese beiden sehr stark disponierten mir vorgegebenen Systeme/ Regelkreise, muss ich mit meiner Psyche in Einklang bringen und eine körperliche, psychische und soziale Balance herstellen. Das aber in der sozialen Umwelt, in der ich lebe und in der physischen Umwelt, in dem sich nun mein Leben und mein Schicksal hineingestellt haben, so dass ich vier Regelkreise (Körper, Psyche, soziale, physische Umwelt) ständig in eine Harmonie bringen muss. Gelingt mir das, dann haben wir dieses seltene Ereignis gesund, frei im Sinne der klassischen alten Definition der Weltgesundheitsorganisation. Das zu schaffen, das verlangt eine reichhaltige Umwelt. Und die Forschung zeigt ganz klar, wie wichtig die Rolle der Eltern ist, aber wie schnell wir sie überfordern können. Und das finde ich gut an Ihrem Ansatz, dass Sie das berücksichtigen, die Familie sehr stark machen, aber gleichzeitig die Umwelt der Familie umso mehr stärken, damit die Familie überhaupt erst stark werden kann.
Zweitens:
Die Politik in Deutschland tut sich hier traditionell schwer. Und da ist Deutschland nach dieser Terminologie ein konservativer Wohlfahrtsstaat. Er geht nämlich von der Idee aus, das Beste, was einem Kind passieren kann, das sind die Eltern. Und die Eltern müssen unterstützt und gefördert werden. Nur wenn die Familie nicht mehr weiterkann, dann darf der Staat mal von außen eingreifen. Aber zunächst gehen alle Ressourcen, geht alle Energie in die Familie hinein, denn sie weiß am besten was dem Kind gut tut. Wir sind also ein korporatistisches Modell, ein stark familienzentriertes Modell der Wohlfahrtspolitik und sind damit wunderbar gefahren. Heute merken wir aber die Grenzen, die dieses hat, weil wir nämlich dazu neigen, alle Unterstützung für die Kinder an die Familie zu geben. Wir berücksichtigen nämlich nicht, dass die Familie ein Umfeld benötigt, um richtig stark sein zu können. Die Familien von heute sind klein. Sie schaffen es nicht, all die Anforderungen, die sich an die Erziehung eines Kindes und an die gesundheitliche Entwicklung stellen, von alleine zu bewältigen. Es ist eine Überschätzung der Steuerungsleistung der Familie und es ist eine Missachtung dessen, dass die Familie Unterstützung, Hilfe und Vernetzung braucht. Es braucht eine bürgerschaftliche Infrastruktur, eine kommunale Infrastruktur, oder wie immer wir das nennen wollen. Und ich denke, das oberste Ziel der Politik für Kinder muss es also sein, die Verantwortung der ganzen Gemeinschaft zu wecken und das Kind in die Familie, in die ganze Gemeinschaft einzubeziehen und nicht davon auszugehen, dass das Erziehen eine Privatsache der Eltern sei. Dieser Fehler passiert in unserem System sehr schnell. Das Erziehen der Kinder ist eine öffentliche Verantwortung, an der sich die ganze Gesellschaft beteiligen muss. Und das kann sie zu einem Teil an die Eltern delegieren.
Drittens:
Wegen dieser Tradition unserer Politik, die wir erst jetzt vor ganz kurzem angefangen haben maßgeblich zu korrigieren, also diese Familienfixiertheit von allen Fördermaßnahmen und auch mit der Familienfixiertheit der Gesundheitsförderung. Wegen dieser Ausrichtung der Förderpolitik haben wir uns soziale Benachteiligungen eingehandelt, die in den letzten Jahren gewachsen sind. Manche sagen, dass trotz dieser Förderpolitik, obwohl wir immer mehr Geld hineingeben in das heutige System, die Ungleichheit gewachsen ist und wir wissen nicht, wie das kommt. Wegen dieser Politik ist die soziale Benachteiligung gestiegen, weil wir, zumindest, wenn wir von der Nachkriegszeit her schauen, durch Kindergeldregelungen, durch Steuerpolitik bis hin zum Ehegattensplitting, Anreize setzen, die Familie zu isolieren. Die Familie ist geneigt, alle Möglichkeiten aufzunehmen, um das Geld, die Transferleistungen zu bekommen, die der Staat zur Verfügung stellt. Aber die Familien, die schwachen Familien, sind per se nicht in der Lage, das so umzusetzen, dass es den Kindern zugutekommt. Und auf diese Weise haben wir in den letzten zehn Jahren, jetzt zumal eine Verschärfung der wirtschaftlichen Ungleichheit der Familien und dann in der Folge auch der psychischen, der sozialen, in der gesundheitlichen, der Bildungsungleichheit, der ganzen Kompetenzentwicklungsungleichheit bei Kindern und Jugendlichen zu verzeichnen. Eine ganz bittere Entwicklung. Bei dieser Gruppe greifen die ganzen Fördermechanismen, die wir haben, nicht so, dass sie das erreichen. Worum es geht sind die Entwicklungspotenziale der Kinder. Eine soziale Benachteiligung ist immer auch eine gesundheitliche Benachteiligung. Aber was wir machen, erreicht vor allem die Familiengruppen nicht, die erwähnt wurden, nämlich Familien mit vielen Kindern. Und die, die nur ein Kind haben, kommen ganz gut durch. Eine paradoxe Förderpolitik von ihren Wirkungen her. Es werden Kinder nicht gut gefördert, die nur ein Elternteil haben. Was ist das für eine Logik, dass ein Kind dann benachteiligt ist, wenn nur ein Elternteil da ist? Natürlich stehen dahinter normative Vorstellungen von dem, wie eine Familie sein sollte. Das Kind gehört in den ersten Jahren ins Elternhaus und nicht sonst wo hin. Das ist das Grundmuster, was hier hinter steht. Wir haben angefangen die Weichen umzustellen, das muss man anerkennen. Sehr spät im Vergleich zu den anderen Ländern um uns herum, aber auch sehr halbherzig, sehr unentschieden, noch nicht mit dem nötigen Nachdruck, der dahinter gehört, um da wirklich etwas daraus zu machen.
Viertens:
Gesundheitsförderung hat immer nur dann Erfolg, wenn sie mit Sozial- und Bildungsförderung verzahnt ist. Wir können eine gesundheitsförderliche Atmosphäre schaffen für gute Ernährung, für ausreichend Bewegung, für einen guten Tagesrhythmus sorgen, das liegt alles in den sozialen Konturen, die ein Kind hat. Nur dann kommt Schutz, Sicherheit, Liebe, Zuwendung zustande als Basis für die gesundheitliche Entwicklung. Um diese vier Regelkreise wirklich miteinander in Einklang zu bringen, müssen die sozialen Verhältnisse stimmen. Wir haben ausgezeichnete Förderstrukturen. Auch im internationalen Vergleich. Aber es ist fragmentiert, es ist voneinander abgespalten. Diese verschiedenen Professionen miteinander zu verbinden ist eine der dringendsten Aufgaben, die wir haben. Soweit sind wir noch nicht. Aber noch schlimmer ist, dass diese in sich hervorragenden Leistungen sich so wenig auf das Kind beziehen, was unbedingt nötig ist. Wir haben überwiegend aufsuchende Strukturen. Und das erreicht nicht gerade die Benachteiligten. Die zugehenden Strukturen funktionieren nicht. Hier sind wir zu schwach, als dass diese Angebote in die Kindergärten, in die Schulen hineinkommen, wo sich Kinder aufhalten. Das fördern Sie mit Ihrem Programm. Und ich kann mir nur wünschen, dass wir hier noch viele Impulse und viel mehr Rückenwind bekommen, als das zurzeit noch der Fall ist.
Fünftens:
Da bin ich bei dem besonders schwierigen Punkt der finanziellen Anreize. Wir geben insgesamt sehr viel Geld aus. Aber diese finanziellen Anreize zur förderpolitischen Umsetzung müssen dringend so eingesetzt werden, dass sie Struktureffekte erzielen. Die Erziehungs- und Bildungsinstitutionen mit Familie und den Versorgungsangeboten zu verzahnen, ist in Deutschland ein schwieriges Geschäft wegen unserer Tradition, unserer wohlfahrtsstaatlichen Tradition und der Erfahrung des Nationalsozialismus, die dazu geführt hat, dass im Grundgesetz sinngemäß steht: Erziehung und Pflege der Kinder ist das natürliche Recht der Eltern. Das sitzt natürlich und macht viele der Ansätze, von denen wir hier heute reden, ganz schön schwierig. Die beiden letzten Bundesregierungen haben etwas getan. Die vorletzte Regierung Schröder hat das Kapitel „Ganztagsschule“ aufgemacht mit einer sehr kühnen Konstruktion. Die Regierung Merkel 1 hat das fortgesetzt, hat die verschiedenen Strukturen zum Beispiel beim Elterngeld weiterentwickelt, hat einen wunderbaren Mechanismus eingebaut, der international als Conditional Cash Transfer bezeichnet wird. Das bedeutet, man bekommt Geld vom Staat für eine bestimmte nützliche Haltung und Handlung, die dem Kind zu Gute kommt. Das Elterngeld, das haben alle gar nicht so in der Tragweite gesehen, was für ein Paradigmenwechsel das ist. Es hat dazu geführt, dass ein Umdenken in den Betreuungsstrukturen in den Familien eingesetzt hat und auch faktisch eine Veränderung in den Handlungen stattfindet. Wenn wir aber jetzt bedenken, dass gerade die ganze Diskussion um ein Betreuungsgeld kreist, dass die ganze Diskussion jetzt in den nächsten Wochen davon gespeist ist, zu überlegen, wie man Conditional Cash Transfer organisiert, um Eltern von etwas abzuhalten, was für ihre Kinder gut ist, dann stehen mir die Haare zu Berge. Jetzt reißt die Regierung Merkel 2 mit dem Hintern das wieder ein, was die Regierung Merkel 1 aufgebaut hat. Denn das ist nun wirklich eine Konzeption, bei der Eltern dann belohnt werden, wenn sie ihr Kind nicht in die Vernetzung schicken, sondern bei sich zu Hause in der Isolation behalten. Und jeder weiß, wie attraktiv das für die benachteiligten Eltern ist, weil sie das Geld brauchen. Diese Familien brauchen das Geld besonders nötig und sie kriegen es an einer Stelle, an der man nur sagen kann, das widerspricht nun wirklich allen Erkenntnissen, die wir haben. Das ist gegen die Logik dessen, was die Regierung selbst in den letzten Jahren aufgebaut hat.
Meine fünf Punkte sollten illustrieren, dass ich Ihren Ansatz ganz fantastisch finde. Die Kommunen müssten insgesamt viel stärker in unsere föderale Struktur mit einbezogen werden. Sie haben viel zu wenige Gestaltungsmöglichkeiten. Wir brauchen eine Konstellation, bei der wir wirklich im Einklang mit den Erkenntnissen aus der Forschung sind. Dies spricht voll für Ihren Ansatz, aber Sie werden doch sehr stark dadurch gehindert, dass immer noch nicht klar die Weichen gestellt sind dafür, was Kindern gut tut. Man kann zusammenfassend sagen: Die beste Gesundheitsförderung für Kinder besteht eben darin, dass die Familie und das ganze Umfeld unterstützt wird. Zusammenzuarbeiten zum Wohl der Kinder ist eine ganz klare Erkenntnis. Wir müssen aber auch ein bisschen in die große Politik, damit so ein Unsinn wie das Betreuungsgeld, das auch wieder ein paar Milliarden Euro kostet, nicht mehr durchgesetzt wird. Das Geld ist weg, für Jahrzehnte gebunden, obwohl wir es dafür einsetzen können, um zum Beispiel beim Kooperationsverbund mehr zu tun, als Sie bisher tun konnten. Danke!"
Die Grundlage für die Gesundheitförderung bei Kindern und Jugendlichen im kommunalen Partnerprozess "Gesund aufwachsen für alle!" bilden die Handlungsempfehlungen des Kooperationsverbundes. Ausführliche Informationen zu den Handlungsempfehlungen finden Sie hier.
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