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17.05.2021

Fit im Team (FiT) – Gesundheitsförderung für Alle!

Joana Roos-Bugiel, Gesundheit 25* / Evangelische Stiftung Alsterdorf, Hamburg

Schlagwörter:Behinderung, Erwachsene, Teilhabe

An Menschen mit komplexen Behinderungen wird meist nicht gedacht, wenn es um Gesundheit geht. Laut UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderungen ein Recht auf denselben Zugang zu gesundheitlicher Versorgung wie alle anderen auch, und sie haben ein Recht auf lebenslanges Lernen und Partizipation. Aber wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Können Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf von Maßnahmen der Gesundheitsförderung profitieren? Nach jetzigem Stand der Lage muss festgestellt werden, dass es auch mehr als 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention für Menschen mit komplexen Behinderungen keine adäquaten Maßnahmen gibt. Diese Gruppe fällt schlichtweg durchs Raster. Die Überlegung ob und wie es möglich sei, die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen, begann in einem Hamburger Bezirk als Gedankenspiel und wurden immer konkreter. Gemeinsam mit Akteur*innen initiierte das Projekt Gesundheit 25* aus Hamburg/Bergedorf der Evangelischen Stiftung Alsterdorf gemeinsam mit Leben mit Behinderung Hamburg e.V. das Programm: Fit im Team (FiT).   

Das Konzept

FiT bezieht sich auf die gesundheitsbezogene Verhaltens- und Verhältnisebene im Setting Tages(förder)stätte. Der Dreh- und Angelpunkt des Programms sind die Module, in denen Menschen mit komplexen Behinderungen und Fachkräfte als Tandempartner*innen sensibilisiert und geschult werden. Die Themen der einzelnen Schulungseinheiten sind Ernährung, Entspannung, Bewegung und die Förderung von Ressourcen. Weitere Inhalte, wie zum Beispiel sexuelle Gesundheit, sollen in Zukunft mit aufgenommen werden. Die Module sind eingebettet in eine umfängliche Vor- und Nachbereitung.  

Ziele und Leitgedanken von FiT

  • Mit FiT wird dem Recht auf Bildung, lebenslanges Lernen und Gesundheit auch für Erwachsene mit komplexen Behinderungen Rechnung getragen.  
  • FiT richtet sich an Erwachsene mit und ohne Behinderung, die als Tandempartner*innen teilnehmen und sich gegenseitig darin unterstützen, dass Gelernte anzuwenden und Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen.
  • FiT setzt Impulse für den Alltag in der Tages(förder)stätte. Die Tandems übertragen das Gelernte in ihre institutionellen Abläufe, sowohl auf der Verhaltens- als auch auf der Verhältnisebene.
  • Die teilnehmenden Tandems werden zu Multiplikator*innen für die eigene Einrichtung, die sich dafür einsetzen, das Erlernte umzusetzen und die Sensibilisierung auch auf andere Mitarbeiter*innen und Beschäftigte zu übertragen.
  • Jede*r lernt nach seinen Ressourcen und Möglichkeiten: Für die Kursleitenden bedeutet das, dass die Lerninhalte mit jedem Durchlauf den Kapazitäten der Teilnehmenden angepasst werden.

Setting Tages(förder)stätten als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt für FiT sind die Tages(förder)stätten. Hier verbringen erwachsene Menschen mit komplexen Behinderungen einen Großteil ihres Tages. Die sich wiederholenden Abläufe und Strukturen dieses Settings eignen sich besonders gut, um gesundheitsförderliche Maßnahmen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene zu implementieren. FiT kann auf mehreren Stufen den Anspruch der Niedrigschwelligkeit erfüllen: Die Teilnahme erfordert keine aufwendige Mobilität. Die Zusammenarbeit erfolgt zu Tageszeiten, in denen sowohl die Teilnehmenden mit komplexen Einschränkungen als auch deren Assistenzkräfte in der Tages(förder)stätte erreicht werden und zu denen alle aufnahmebereit und konzentriert sind. Die Zusammenarbeit orientiert sich an den Bedarfen und Ressourcen der Teilnehmenden.  

Lernen im Tandem

Wissensvermittlung und die nachhaltige Umsetzung des Gelernten in den Alltag werden für die Teilnehmenden durch das Lernen im Tandem möglich gemacht. Dabei bilden jeweils eine Person und eine Fachkraft (z. B. eine*r Mitarbeiter*in aus Tagesförderstätte oder Wohngruppe) ein Tandem. Die Tandempartner*innen sind von Beginn an als gleichwertige und -berechtigte, als jeweils lernende und aktive Teilnehmer*innen, als Team, zu betrachten. Die im Alltag eingespielten Kommunikationsmuster und Unterstützungsleistungen werden nicht nur berücksichtigt, sondern auch als wichtige Ressource wahrgenommen und bewusst eingesetzt. Die Tandempartner*innen bilden im späteren Verlauf eine Arbeitsgruppe, die innerhalb des Settings für die weiterführende Umsetzung von Maßnahmen und Aktivitäten zuständig ist.

Wissenstransfer auf verschiedenen Ebenen  

Für die Fortbildungen der Tandems gilt im Sinne der Didaktik eine gleichberechtigte Ansprache bei der Wissensvermittlung, den Übungen und Reflexionen. Die Kursleitenden sprechen mit den Beteiligten ganz bewusst - sowohl mit den Menschen mit Behinderung als auch mit deren Assistenzkräften. Das ist Ausdruck der Haltung, die hinter dem Programm steht. Denn Menschen mit Behinderung erleben es im Alltag sehr häufig, dass über ihre Köpfe hinweg gesprochen wird. Insofern ist die gleichberechtigte Ansprache ein wichtiges Merkmal von FiT.  
Im Rahmen der Methodik geht es um die Vermittlung und Wiederholung von Basisinformationen zu den gesundheitsbezogenen Themen (Ernährung, Entspannung, Bewegung, Ressourcen bzw. Risiko- und Schutzfaktoren). Es werden Übungen und Praktiken für die Umsetzung im Alltag, in einfacher Sprache und an die individuellen Bedarfe angepasst vermittelt (z. B. unter Anwendung von Unterstützter Kommunikation, verschiedener Visualisierungsformen, akustischer und haptischer Hilfsmittel). Darüber hinaus geht es um ein praktisches Erleben (Begreifen) sowie Verhaltens- und präventive Maßnahmen. Die Inhalte und Beiträge werden durch ein Malprotokoll festgehalten.  

Ressourcen-Orientierung

FiT folgt dem Prinzip der Ressourcenorientierung. Alle Arbeitsschritte sind an die Bedarfe und Ressourcen der Teilnehmenden angepasst. Die Inhalte müssen praktisch erfahrbar, verstehbar und damit lernbar gemacht werden. Die Assistent*innen der Teilnehmenden mit komplexen Behinderungen kennen deren Bedarfe und ihre Art der Kommunikation seit Jahren und leisten deshalb als Mediator*innen einen hohen Beitrag zur Partizipation der Betroffenen. Umgekehrt erleben die Assistent*innen während der Schulung ihre Tandempartner*innen und ihre Teilnahme, Reaktionen, Grenzen, Ressourcen und können das Erlernte in ihre Arbeit integrieren. Die Kursleitungen bringen eine Doppel-Expertise mit: Sie verfügen über eine professionelle Ausbildung zu den Themen, die sie anleiten und haben zugleich langjährige Erfahrungen in der Interaktion mit der Zielgruppe.  

Nachhaltigkeit

Fit im Team hat sich seit 2018 kontinuierlich weiterentwickelt. In der ersten Phase ging es vordringlich darum, diese Module zu entwickeln. Ihr innovativer Wert liegt darin, Menschen mit komplexen Behinderungen die Teilhabe an Bildungsangeboten in der Gesundheitsförderung zu ermöglichen. Mit den Modulen wurden neue Impulse für den Alltag in den Tages(förder)stätten gesetzt. In einer weiteren Phase wird der Fokus auf Nachhaltigkeit gelegt. Die Führungskräfte der Einrichtungen übernehmen mehr Verantwortung. Die Tandempartner*innen erhalten als Arbeitsgruppe einen klaren Auftrag. Es findet eine Vernetzung mit dem Sozialraum statt. Das Anliegen von FiT, Menschen mit komplexen Behinderungen bei Angeboten der Gesundheitsförderung mitzudenken, wird durch einen Beirat auf Landesebene unterstützt.

Ausblick

Die Ausgangsfrage, ob es möglich ist, Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf in Sachen Gesundheitsförderung zu schulen, lässt sich inzwischen mit einem klaren „Ja“ beantworten. Sowohl von den Assistenzkräften als auch von den teilnehmenden Menschen mit Behinderungen wurde das Angebot mit nachhaltiger Begeisterung angenommen. Im Präventionsgesetz sind Menschen mit Behinderungen als besonders unterstützungswürdige Gruppe genannt. Vor diesem Hintergrund ist es besonders erfreulich, dass das GKV Bündnis das Potenzial von FiT erkannt hat und eine Finanzierung für 4 Jahre zugesagt hat. Ab August 2021 kann das Programm in Tages(förder)stätten in ganz Hamburg angeboten werden.  
Die Erfolge in der Interaktion mit den Teilnehmenden und Kursleitenden, die positive Grundhaltung aller Beteiligten, der bisher bestehende Mangel an Angeboten und die damit einhergehende Bereitschaft und Motivation der Akteur*innen, sich auf „Fit im Team“ als Programm einzulassen, haben den Prozess bis heute bestimmt und geben ihm Schwung für eine weitere Phase.  



Projektträger:
Das Programm Fit im Team wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Projekt Gesundheit 25* der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und Leben mit Behinderung Hamburg e.V. in Hamburg Bergedorf entwickelt.

 

O-Töne der Teilnehmenden:

(Bei den verwendeten Namen handelt es sich um Pseudonyme.)

  • „Ich war am Anfang etwas ratlos, was mit den Teilnehmenden möglich ist und was nicht. Die Sachen, die ich gefunden habe, hören alle da auf, wo die Zielgruppe für FiT anfängt. Jetzt bin ich positiv überrascht. Es ist beeindruckend, wie differenziert die Teilnahmenden ihr Umfeld wahrnehmen. Es wird immer wieder unterschätzt, was alles möglich ist.“ (Thomas, Gestalttherapeut und Kursleiter)
  • „Die Fortbildung war auch für mich gut. Vorher war mir gar nicht klar, wie schnell ich in Stress gerate, dafür bin ich jetzt viel sensibler und auch dafür, was das für die Beschäftigten bedeuten kann.“ (Ina, Assistenzkraft)
  • „Es war besonders schön, Lenas Reaktion zu sehen. Sie ist sonst immer angespannt und kann schlecht loslassen. Bei der Fortbildung war sie total entspannt und hat sich richtig fallen lassen. Bei Lena hat man richtig gemerkt, wie das gewirkt hat.“ (Christoph, Assistent)
  • „Was ich cool fand, waren die Holztiere zum Massieren und dass wir erst einmal fragen sollten, ob wir den anderen massieren dürfen und wo. Das kann ja von Tag zu Tag unterschiedlich sein; er selber hat gesagt, wenn Stopp ist…Super wichtig für die Selbstbestimmung!!!:“ (Linn, Assistenzkraft)
  • „Man sollte viel Gemüse essen, das wusste ich vorher noch nicht. Ich esse gerne Gemüse.“ (Lena, Beschäftigte in einer Tagesförderstätte)
  • „Die Hanteln waren direkt in der ganzen Gruppe unterwegs. Mike und Quinn haben sofort Übungen damit gemacht, obwohl sie blind sind und so etwas noch nie in der Hand hatten.“ (Nele, Assistenzkraft)
  • „Ich war total erstaunt, wie ich von Peter wahrgenommen werde. Ich sitze für die Dokumentation immer im Büro, weil es mir da drüben zu laut ist. Und für Peter ist das aber anscheinend so, als würde ich mich vor ihm zurückziehen. Da wäre ich nie drauf gekommen.“ (Christian, Assistenzkraft)

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