11.12.2024
„Frühzeitige Prävention ist gesellschaftlich und ökonomisch bedeutsam"
BVPG-Interview mit Mechthild Paul
Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
Schlagwörter:Prävention, Frühe Hilfen
Von früher Förderung profitieren in erster Linie die Kinder, sie kommt aber auch der gesamten Gesellschaft zugute und ist auch wirtschaftlich lohnenswert, betont Mechthild Paul, Abteilungsleiterin Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung, Nationales Zentrum Frühe Hilfen in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im BVPG-Interview zum Präventionsforum 2024.
Welche Kompetenzen, Handlungs- und Bewältigungsfähigkeiten benötigen Eltern und Kita-Personal für einen gelingenden Übergang von der Familie in die Kita?
Für einen gelingenden Übergang ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kita-Personal zentral. Diese Phase ist oft die erste bedeutende Trennung der Kinder von ihren primären Bezugspersonen und fordert ein hohes Maß an Vertrauen und Kooperationsbereitschaft. Kinder, die in den ersten drei Lebensjahren in Ergänzung zur Familie einen Teil des Tages in einer Kindertageseinrichtung betreut werden, stellen spezifische Anforderungen an die Kita-Fachkräfte. Es geht um Fragen der Versorgung und Pflege wie Wickeln, An- und Ausziehen. Gleichzeitig entwickeln Kinder in diesem Alter ein wachsendes Bedürfnis nach Selbstständigkeit und machen erste Gruppenerfahrungen. Das bedeutet für die Fachkräfte, den Anforderungen an die Bedürfnisse der Kinder in diesem Alter zu entsprechen.
Wie kann dies erreicht werden?
Dazu gehört ein klar strukturierter Tagesablauf bei gleichzeitiger Offenheit für individuelle Bedürfnisse des einzelnen Kindes. Kinder brauchen in diesem Alter emotionale Sicherheit und haben das Bedürfnis nach verlässlichen (Bindungs-)Beziehungen in Ergänzung zu den Eltern. Die Fachkräfte müssen die Bindungsbedürfnisse jedes Kindes erfüllen, um auf diese Weise Trennungsrisiken zu mindern. Hierzu gehört auch, das Primat der elterlichen Beziehungen zu respektieren, eine professionelle Nähe-Distanz-Regulation vorzunehmen und sich nicht an die Stelle der Eltern zu setzen.
Eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern gehört daher zu den wesentlichen Qualitätsmerkmalen jeder Kita und idealerweise wird zwischen Eltern und Kita eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft gebildet. Das gemeinsame Ziel dabei ist es, die Entwicklung des Kindes bestmöglich zu fördern. Wenn diese Partnerschaft gelingt, findet das Kind gute Entwicklungsbedingungen vor und Kita und Eltern teilen die Verantwortung für die Förderung der kindlichen Entwicklung.
Welche Rollen haben Kita-Mitarbeitende und Eltern?
Kita-Mitarbeitende und Eltern nehmen durchaus unterschiedliche Rollen ein. Die Unterschiedlichkeit zeichnet sich u. a. durch die Bindungsintensität, Perspektive auf das Kind und den Grad der Privatheit bzw. Professionalität aus. Die Partnerschaft kann gelingen, wenn beide Seiten ihre unterschiedlichen Rollen und Aufgaben respektieren. Die Zusammenarbeit kann durch folgende Instrumente im Alltag gestaltet werden:
- Ausreichend Zeit und Geduld zur Eingewöhnung und beim „Onboarding“ des Kindes und auch der Eltern in die Kita
- Ausreichend Zeit für Tür- und Angelgespräche
- Entwicklungsgespräche zum vertieften Austausch über den Entwicklungsstand des Kindes
- Elternabende zur gemeinsamen Gestaltung der Lebenswelt Kita
- Hospitationsmöglichkeiten für Eltern schaffen Vertrauen, stärken aber auch belastete bzw. verunsicherte Eltern in ihrer Erziehungskompetenz
- Mitwirkungsmöglichkeiten der Eltern bei Ausflügen, Festen und Projektwochen
Menschen in sozial belasteten und belastenden Lebenslagen wie Alleinerziehende, Arbeitslose sowie beispielsweise Menschen mit Sprach- und Leseschwierigkeiten, mit geringerer Bildung und behinderte Menschen sind besonders vulnerabel, nicht selten kumulieren sich diese Faktoren. Was sind Schlüsselstrategien, um Eltern, An- und Zugehörige von Kleinkindern, die sich einer sozial benachteiligten Lage befinden, wirksam zu erreichen?
Aus Forschung und Praxis ist mittlerweile hinreichend bekannt, dass universell zugängliche Angebote zur Unterstützung junger Eltern nicht alle Familien gleichermaßen erreichen, sondern dass sich in der Inanspruchnahme ein „sozialer Gradient“ zeigt. Oft sind es gerade Familien in belastenden Lebenssituationen, die – trotz objektiv hohem Bedarf an Entlastung und Unterstützung – nicht gut mit Unterstützungsangeboten erreicht und nur schwer zur Teilnahme motiviert werden können. Diese schwierige Erreichbarkeit ressourcenschwacher Familien wird als „Präventionsdilemma“ bezeichnet. Dies gilt auch für die Inanspruchnahme der frühen Tagesbetreuung in einer Kita.
Können Sie das näher erläutern?
Diejenigen Kinder, deren Eltern nur über ein geringes Bildungsniveau verfügen, nutzen deutlich seltener und altersbezogen später eine Kindertageseinrichtung als diejenigen, deren Eltern einen hohen Bildungsstand aufweisen. Gleiches gilt für Kinder aus armutsgefährdeten Familien. Gründe für die Nichtinanspruchnahme sind zum Beispiel finanzielle Kosten, vor allem bei Familien mit mehreren Kindern, ein knappes Angebot vor Ort oder die schwierige Erreichbarkeit einer Tagesbetreuungseinrichtung. Aber auch Vorbehalte gegenüber früher außerfamiliärer Betreuung oder andere kulturelle Leitbilder zur frühen Betreuung von Kindern können Hinderungsgründe sein.
Gleichzeitig weisen Studien darauf hin, dass gerade Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status in besonderem Maße von vorschulischer Bildung profitieren können. Allerdings bedeutet ein Besuch einer Kindertageseinrichtung nicht automatisch, dass eine Bildungsbeteiligung ausgeglichen wird, sondern Kinder profitieren dann, wenn die Betreuung von guter Qualität ist
Gibt es einen psychologischen Grund, warum Kitas von Kindern aus sozial benachteiligten Familien Kitas seltener oder später besucht werden?
Ja, den gibt es: Trotz heterogener Belastungen gibt es eine Erfahrung, die viele sozial benachteiligte Familien eint: Die Angst, als keine „guten Eltern“ eingeschätzt und dafür von der Gesellschaft und hier von der Institution Kita und auch anderen Eltern verurteilt zu werden. Viele Eltern verfügen bereits über Erfahrungen vielfältiger Diskriminierung und gesellschaftlicher Ächtung. Dies führt wiederum dazu, dass sie vor allem öffentlichen Institutionen eher kritisch gegenüberstehen und Sorge haben, bevormundet und wenig wertschätzend behandelt zu werden. Folglich ist die Vermeidung von Stigmatisierung oberstes Prinzip und sollte die Haltung der Fachkräfte gegenüber den Müttern und Vätern bestimmen.
Welche Unterstützung leisten die Frühen Hilfen, um das Präventionsdilemma zu überwinden?
Folgende Prinzipien sind leitend in den Frühen Hilfen, sie bieten auch Orientierung für den Übergang von der Familie in die Kita:
- Freiwilligkeit
- Vertraulichkeit
- Partizipation
- Salutogenese
- Ressourcenorientierung
- Empowerment
Aus den Erfahrungen der Frühen Hilfen lässt sich folgende Erkenntnis zur Überwindung des Präventionsdilemmas herauskristallisieren:
Die Teilhabe und Beteiligung (Partizipation) von Eltern und Kindern sind zentral für die Entwicklung und Stärkung von Kompetenzen und die Wahrnehmung von Ressourcen. Nur wenn in der Kommune, im Stadtteil, in der Kindertagesstätte etc. Handlungsräume offenstehen, in denen Mitwirkung, aktive Gestaltung und Einflussnahme möglich sind, können Selbstwirksamkeit, Handlungsfähigkeit und letztlich Sinnhaftigkeit erlebt werden. Darüber hinaus sind natürlich auch Wohnortnähe, ausreichende Kita-Plätze und wenig bürokratische Hürden, um einen Kita-Platz zu bekommen, von außerordentlicher Wichtigkeit.
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) wurde 2007 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend errichtet. Auf welche Erfolge kann das Zentrum im Bereich zurückblicken und auch für die Transition von der Familie in die Kita übertragen werden können?
Die Frühen Hilfen haben ihren Ursprung in einer breiten gesellschaftlichen Debatte zum Kinderschutz in Deutschland, die 2006 aufgrund gravierender Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung mit dem erklärten Ziel geführt wurde, das Wohl der Kinder in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Verantwortung zu rücken. Dazu kamen sich verdichtende Erkenntnisse, die auf ein vermehrtes Auftreten chronischer sowie psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen hinwiesen, mit einem starken Bezug zur sozialen Lage. Es bestand politisch auf allen föderalen Ebenen sowie in Wissenschaft und Praxis Einigkeit darüber, dass die Prävention von Entwicklungsstörungen und Gefährdungen für die Kinder verstärkt werden soll. Vor allem sollte dies durch eine stärkere systematische Vernetzung und Zusammenarbeit zwischen den Systemen, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens, gelingen und so dem Health in All Policies-Ansatz nachkommen.
Die Frühen Hilfen sprechen alle Familien an und umfassen sowohl universelle als auch differenzierte Hilfen - je nach Belastungslage. Sie reichen von alltagspraktischer Unterstützung wie zum Beispiel Haushaltsorganisation bis hin zur Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von (werdenden) Müttern und Vätern.
Wie sind die Frühen Hilfen bundesweit tätig?
In den vergangenen Jahren wurden mit der Bundesstiftung Frühe Hilfen durch die Koordinierungsstellen in den Ländern und Kommunen, der Geschäftsstelle der Bundesstiftung Frühe Hilfen und dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) ein einzigartiges – über alle föderalen Ebenen hinweg reichendes – Netzwerk Frühe Hilfen aufgebaut, das mittlerweile flächendeckend implementiert ist. Diese Kooperationstrias ist einer der zentralen Erfolgsfaktoren der Frühen Hilfen. Dadurch wird synergetisches, ressourcenschonendes und vor allem an den Bedarfen der Familien orientiertes Handeln ermöglicht. Eine gut koordinierte und vernetzte Infrastruktur in Kommunen und die Einbindung verschiedener Akteursgruppen, insbesondere aus dem Gesundheitswesen, tragen zur verbesserten Versorgung der Familien, aber auch zur Entlastung der Akteure bei.
Diese Struktur wird in einigen Regionen in Deutschland bereits auch für den Übergang von insbesondere sozial benachteiligten Eltern und ihren Kindern in die U3-Kita-Betreuung genutzt. Es gibt bereits einen Orientierungsrahmen, der derzeit mit der Deutschen Liga für das Kind in Kooperation mit Vertretungen der beteiligten Systeme weiter ausgearbeitet wird.
Dabei geht es um folgende Handlungsstränge für Kooperationen des Handlungsfeldes Frühe Hilfen mit den Kitas:
- Leitungs- und Fachkräfte von Kitas werden ins Netzwerk Frühe Hilfen eingebunden, um regelmäßig Informationen über Unterstützungsangebote sowie weitere Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner im Sozialraum zu erhalten.
- Fachkräfte Früher Hilfen werden zu Elternabenden oder Informationsveranstaltungen in die Kitas vor Ort eingeladen, um die Angebote der Frühen Hilfen den Eltern bekannt zu machen. Dadurch können den Eltern Unterstützungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe (wie z.B. Erziehungsberatungsstellen) und hinsichtlich ihres Nutzens dargestellt und Hürden abgebaut werden.
- Aufsuchende Gesundheitsfachkräfte Früher Hilfen, die Familien bereits betreuen, begleiten diese in die Regelstruktur Kita und bauen eine Brücke dorthin. Somit lässt sich ein erleichterter Übergang in die institutionelle Betreuung gestalten.
- Aufsuchende Gesundheitsfachkräfte Früher Hilfen bieten fest institutionalisierte Sprechstunden in den Kitas sowie informelle Möglichkeiten für den Austausch in den Bring- oder Abholzeiten an. Dieser niederschwellige Ansatz eignet sich besonders gut, um mit Familien in einem vertrauten Setting in Kontakt zu treten und so etwas über Unterstützungsbedarfe zu erfahren. Daran anschließend können Familien bei Bedarf in die Sprechstunde Früher Hilfen in den Räumlichkeiten vor Ort eingeladen werden.
Welche gesundheitlichen, aber auch ökonomischen Effekte kann ein gelungener „erster“ Übergang von der Familie in die Kita mit sich bringen?
Frühzeitige präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen sind nicht nur aus gesundheitlicher Sicht sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich lohnenswert. Die frühe Kindheit stellt aus psychologischer Sicht eine der wichtigsten Entwicklungsphasen dar. Die Gehirnstrukturen differenzieren sich in Abhängigkeit von Umwelterfahrungen aus und legen die Grundlage für die gesamte weitere Entwicklung.
Der positive Effekt einer möglichst frühen Förderung von Kindern und die lohnenswerten Investitionen in diese Lebensphase sind seit langem bekannt. Ausgaben werden hier nicht als Kosten, sondern als Investitionen in das Humanvermögen einer Gesellschaft betrachtet, die sich langfristig auszahlen. Wie sich die Förderung in unterschiedlichen Lebensphasen in finanzieller Hinsicht auswirkt, hat der Nobelpreisträger für Ökonomie James Heckman für den Bildungsbereich eindrücklich aufgezeigt, indem er die Bildungsförderung in der Lebenslaufperspektive aus ökonomischer Sicht dargestellt hat. Heckman weist in seinen Berechnungen nach, dass Investitionen in kind- und familienunterstützende Programme die größte Rendite erbringen, wenn diese dem Schulbesuch deutlich vorgelagert sind.
Die Effekte sind zudem bei Kindern aus benachteiligten Herkunftsfamilien deutlich höher als bei Kindern aus bildungsnahen Familien. Die Kosten, die der Gesellschaft infolge dieser nicht aufgefangenen Benachteiligungen – u. a. durch schulische Nachqualifizierungen und durch höhere Krankheitskosten im weiteren Lebenslauf – entstehen, übersteigen die Aufwendungen im Frühbereich um ein Vielfaches. Die Investition in die Qualität in frühkindliche Bildungseinrichtungen kommt zuvörderst dem Kind, aber auch der gesamten Gesellschaft zugute.
Die Fragen stellte Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG).