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06.01.2022

"Für eine gelingende Prävention brauchen wir eine Kultur des Alterns"

Ein Interview

Eva-Marie Kessler, MSB Medical School Berlin
Linda Arzberger, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Schlagwörter:Gesundheitsförderung, psychische Gesundheit, Ältere



Dieses Interview veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Bundes­vereinigung Prävention und Gesundheits­förderung e.V. Die Fragen stellte LInda Arzberger. Weitere Infor­mationen finden Sie hier.

Die letzten Jahre des Berufslebens, der Übergang ins Rentenalter und die Zeit nach dem regulären Ende des Berufslebens - so lässt sich die dritte Lebens­phase charak­terisieren. Durch die steigende Lebens­erwartung ist insbesondere der Lebens­abschnitt nach der beruflichen Tätigkeit sehr viel länger geworden und hat sich in seiner Art und Weise, wie er gelebt werden kann, in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Wir betrachten diese Lebensphase aus der Perspektive der psychischen Gesundheit mit Prof. Dr. Eva-Marie Kessler, Professorin für Geronto­psychologie an der MSB Medical School Berlin, Sprecherin der Interessen­gruppe „Klinische Geronto­psychologie und Psychotherapie im höheren Lebensalter“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. (DGPs). Wir sprechen mit ihr u.a. darüber, welche Heraus­forderungen sich für psychische Gesundheit in der dritten Lebensphase stellen und wie gesundes Altern gelingen kann.

Voraussetzung für gesundes Altern ist es, sich auf die (Entwicklungs-)­Potenziale im Alter zu fokussieren. Welche Faktoren tragen zur Resilienz bis ins hohe Alter bei? Welchen Einfluss hat ein positives subjektives Alterns­erleben?

Es besteht kein Zweifel, dass wir, wenn wir älter werden, mehr Verlusterfahrungen machen: körperliche Erkrankungen nehmen zu, kognitive Ressourcen nehmen ab, unsere sozialen Netzwerke werden kleiner, die Lebenszeit als eine ganz wichtige Ressource läuft immer mehr aus. Wenn man aber Menschen im Alter fragt, wie zufrieden sie mit Ihrem Leben sind oder auch wie häufig sie positive Gefühle erleben, dann zeigt die Mehrheit ein genau so hohes oder sogar höheres Wohlbefinden wie bzw. als jüngere Menschen.
Wir sprechen in der Geronto­psychologie deshalb vom „Paradox des subjektiven Wohl­befindens“. Das Wohlbefindens­paradox spiegelt sich übrigens auch in der Tatsache wider, dass die Prävalenz von Major Depression, also klinisch relevanter Depression, im Alter nicht - wie häufig vermutet - zunimmt, sondern genauso häufig auftritt wie in früheren Lebensphasen.
Ein wesentlicher Grund für diese bemerkens­werte Resilienz im höheren Lebensalter ist, dass es zu einer Verschiebung von Prioritäten kommt: Wenn wir älter werden, wenden wir unsere Aufmerksamkeit tendenziell mehr hin zu positiven und sinnstiftenden Dingen und versuchen, negativen Erfahrungen und Gefühlen aus dem Weg zu gehen beziehungs­weise uns nicht davon zu stark einnehmen zu lassen. Wir nehmen bewusst und unbewusst wahr, dass unsere Lebenszeit abläuft. Dadurch ist uns unser Wohl­befinden im Augenblick und in der Gegenwart wichtig. In der Geronto­psychologie nennen wir das auch den „Positivitäts-Effekt im Alter“.

Etwa 20 Prozent älterer Menschen erfüllen die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Welche Ansätze zur Gesundheitsförderung und Prävention gibt es für diese Gruppe?

Trotz bemerkenswert hoher psychologischer Ressourcen im Alter stoßen wir vor allem an psychische Grenzen, wenn hirnorganische Abbauprozesse oder andere altersas­soziierte organische Abbauprozesse ins Spiel kommen, die unsere kognitiven Fähigkeiten, aber auch beispielsweise unsere Fähigkeit, Gefühle zu regulieren, stark beeinflussen. Hier kommt mit anderen Worten die Tatsache ins Spiel, dass - wie dies der renommierte Entwicklungs­psychologe und Gerontologe Paul Baltes formuliert hat - die Biologie keine Freundin des Alters ist. In diesem Sinne steigt über die zweite Lebenshälfte hinweg das Risiko extrem deutlich, an Demenz zu erkranken: von nur 1 Prozent bei den 65 bis 69-Jährigen, auf über 12 Prozent bei den 80 bis 84-Jährigen. Und bei den 90-Jährigen sind es schon über 40 Prozent.
Ein Lancet Report aus dem Jahr 2020 benennt auf der Grundlage einer umfassenden Studien­übersicht insbesondere folgende Public Health-Strategien, um die Neuerkran­kungsrate von Demenz weiter zu senken:

  • bessere Bildung,
  • stärkere Verbreitung von Hör­geräten,
  • die Förderung sozialer Teilhabe im Alter und
  • die Verbesserung der Herzkreislauf­gesundheit durch bessere medizi­nische Versorgung und Förderung körperlicher Aktivität.

Insgesamt ist Gesundheits­förderung und Prävention psychischer Erkrankungen im Alter ein Bereich, in dem - auch in Abhängigkeit des Erkrankungs­bildes - vielfältige Wege eingeschlagen werden müssen. Eine bereichs­übergreifende Strategie ist dabei sicherlich die, dass wir als Gesell­schaft für und gemeinsam mit älteren Menschen im höheren Lebensalter sinnstiftende soziale Rollen und Betätigungs­felder identifizieren und ausbauen müssen, in denen sie selbst aktiv in sozialen Netzwerken sind, Verpflich­tungen und Aufgaben übernehmen und für andere da sind. Ein gelungenes Beispiel hierfür sind Programme zur Förderung ehren­amtlichen Engagements im Alter.

Wie steht es um die Versorgungs­lage älterer und multimorbider Menschen mit psychischen Erkrankungen? Welche psycho­therapeutischen Ansätze sind in ihrer Wirksam­keit belegt und werden angewandt?

Insgesamt haben wir es mit einer enorm schlechten Versorgungslage im Alter zu tun. Ich will das einmal am Beispiel der Depression festmachen: Nicht einmal 5 Prozent der 65-Jährigen mit Diagnose Depression werden psycho­therapeutisch behandelt, bei den über 75-Jährigen mit Diagnose Depression sind es dann sogar unter 1 Prozent. Und das, obwohl es Behandlungsmethoden für psychische Erkrankungen im Alter gibt, die auch klar evidenz- und leitlinienbasiert sind.
Dazu gehört die sog. Lebensrück­blicktherapie bei Depression oder auch Posttraumatischer Belastungs­störung. Bei dieser Einzel- oder auch Gruppentherapie gehen die Patientinnen und Patienten mit Unterstützung des Therapierenden die Lebens­geschichte durch. Die Patientinnen und Patienten werden angeregt, das starre Bild, dass sie gescheitert sind und Dinge falsch gemacht haben, nach und nach aufzulösen. Dadurch entwickelt sich Selbst­akzeptanz in Bezug auf ihr gelebtes Leben und auch ein neues positiveres Selbstbild, womit die Gegenwart besser bewältigt werden kann und sie auch optimistischer in die Zukunft blicken können.
Bei der kognitiven Stimulations­therapie bei Demenz geht es darum, im Gruppensetting auf eine lustvolle und spielerische Art persönliche Meinungen der Patientinnen und Patienten mit leichter und mittelgradiger Demenz zu stimulieren, sie ihre persönlichen Präferenzen spüren zu lassen und nebenbei mit allen Sinnen Dinge zu lernen. Dadurch werden kognitive Ressourcen stimuliert, die Patientinnen und Patienten sprechen wieder mehr und können ihre Gefühle besser regulieren.
Beide Therapie­formen sind trotz Leitlinien­empfehlungen der Fachgesell­schaften nicht Teil der Regel­versorgung in Deutschland - das muss sich dringend ändern!

Zur Förderung psychischen Alterns halten Sie eine Überwindung der kulturell tief verankerten Auffas­sung notwendig, wonach das Leben im Alter weniger wertvoll ist. Wie kann dies gesamt­gesellschaftlich gelingen?

Das fängt damit an, dass wir generationen­übergreifend eine Kultur des gemeinsamen Sprechens, des gemeinsamen Austausches über das Alter und Altern entwickeln, über unsere positiven Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Ängste, Befürchtungen. Wenn dieser Austausch zu Zukunfts­fragen angestoßen wird, löst er Ängste und macht neugierig und verdeutlicht jedem, dass Altern nicht Verlust ist, nicht Abbau. Sondern dass Altern Leben und Entwicklung ist, mit all seinen Heraus­forderungen und all seinen Potenzialen.
Zu einer Kultur des Alterns gehört auch, dass alte und sehr alte Menschen selbstver­ständlicher Teil des öffentlichen Diskurses sind. Wir haben in unserem Projekt IM/AGE-19: Altersdar­stellungen in deutschen Medien während der Corona-Pandemie herausgefunden, dass hochaltrige Menschen, vor allem Frauen, in Politik-Talkshows im letzten Jahr quasi nicht vorkamen, vor allem nicht in denen zur Corona-Pandemie. Gleichzeitig wurde sehr viel über sie als vulnerable Gruppe gesprochen. Ihre Perspektiven, Erfahrungen und Handlungs­empfehlungen wurden nicht gehört. Hätte man dies getan, hätte man damit den Wert des hohen Lebens­alters demonstriert. Und womöglich wären wir besser durch die Krise gekommen.

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