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27.02.2025

„Geringere Ungleichheit führt auch zu einer höheren Lebenszufriedenheit“

Interview mit Martina Huth, Bundesärztekammer

Schlagwörter:Gesundheitliche Chancengleichheit

Die Fragen stellten Simone Köser und Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. (BVPG). Die Erstveröffentlichung dieses Interviews finden Sie hier.

Frau Huth, Sie haben sich als Mitglied und Fachexpertin in der BVPG-Arbeitsgruppe zum Schwerpunktthema „Gesundheitliche Chancengerechtigkeit“ engagiert. Warum ist dieses Thema für unsere Gesellschaft so relevant?

Die Chancen für ein langes und gesundes Leben sind in allen europäischen Ländern ungleich verteilt. Auch in Deutschland besteht ein enger Zusammenhang zwischen der sozialen Lage eines Menschen und dem Risiko frühzeitig im Leben zu erkranken oder früher zu sterben. Die Ursachen hierfür sind sicher vielfältig, an erster Stelle sind diese jedoch mit sozialen Determinanten verbunden. Kurz gesagt: Je weiter ein Mensch unten auf der sozialen Rangskala einer Gesellschaft steht, desto kürzer ist seine Lebenserwartung und desto größer seine Anfälligkeit für Krankheiten wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-, Diabetes-, Krebs- oder chronisch-obstruktive Atemwegserkrankungen.

Die Zusammenhänge zwischen sozioökonomischer Lage und Gesundheit werden seit Jahren umfänglich erforscht und sind in zahlreichen Studien belegt. Dennoch ist die Problematik nicht nur nach wie vor hochaktuell, sondern sie verschärft sich auch zunehmend.

Erst kürzlich wurde eine neue repräsentative Studie (PDF) vorgestellt, die von „Save the children“ initiiert wurde. Demnach leben in Deutschland fast drei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Armut. Das bedeutet, dass viele Heranwachsende in Familien aufwachsen, die sich den durchschnittlichen Lebensstandard nicht leisten können und häufig auf Sozialleistungen angewiesen sind. Konkret ist etwa jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Dies wirkt sich häufig auf die Ernährungssituation, die Wohnverhältnisse, die Nutzung von Freizeitangeboten und vor allem auch auf die Bildungschancen und damit auf die späteren Berufsaussichten aus. Hinzu kommen die daraus resultierenden enormen psychischen Belastungen, die durch gesellschaftliche Herausforderungen wie zuletzt durch die Coronapandemie, den Klimawandel, wirtschaftliche und soziale Unsicherheiten verstärkt werden.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssten von der Politik verhältnispräventive Maßnahmen in den Fokus gestellt werden. Um positive und nachhaltige Veränderungen zu erreichen, müssen die sozialen und wirtschaftlichen Determinanten von Gesundheit in einen Zusammenhang gebracht werden. Das bedeutet aber auch, dass Gesundheitspolitik umfassender gedacht werden muss und andere Politikfelder wie Arbeits-, Bildungs-, Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftsressorts ineinandergreifen müssen. Die konsequente Umsetzung einer Health-in-All-Policies-Strategie könnte viele der aktuellen Probleme zumindest abmildern. Dazu braucht es aber natürlich auch den politischen Willen.

Die Bundesärztekammer (BÄK) hat ihre Positionen zu der vorgezogenen Bundestagswahl veröffentlicht. Die Health-in-All-Policies-Strategie sowie die Forderung nach verstärkten Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen zählen zu den aktuellen und zentralen gesundheitspolitischen Forderungen der BÄK.

Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen gesundheitlicher Chancengerechtigkeit und Demokratie beziehungsweise demokratischen Werten?

Die Arbeitsgruppe Gesundheitliche Chancengerechtigkeit der BVPG hat sich auch mit dieser Frage eingehend befasst. In unseren Beratungen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass in einer demokratischen Gesellschaft gesundheitliche Chancengleichheit im Mittelpunkt der Politik stehen muss. Denn: Gesellschaften mit geringer Ungleichheit zeichnen sich durch eine höhere Lebenszufriedenheit und ein größeres Gerechtigkeitsempfinden aus. Um dies zu erreichen, ist es erforderlich, dass für jede und jeden in Deutschland lebenden Menschen ein gleichberechtigter Zugang zu Bildung und Arbeit, zu gesundheitlicher Versorgung und Prävention und Gesundheitsförderung gewährleistet wird. Dafür müssen die entsprechend notwendigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschaffen und zugleich alle Menschen dazu befähigt werden, ihre gesundheitlichen Potentiale zu erkennen und zu erreichen.

Auch aus Sicht der BÄK sollten entsprechende Maßnahmen bereits ab dem frühen Kindesalter einsetzen. Hierzu zählt beispielsweise, gute Ausgangsbedingungen für gesundes Aufwachsen zu schaffen und die Gesundheitskompetenz in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen zu vermitteln.

Zahlreiche Nationale Gesundheitsziele liegen bereits vor, die seit Jahren auf ihre Umsetzung warten. Diese könnten zumindest teilweise als Basis für künftiges gesundheitspolitisches Handeln herangezogen werden. Die Gesundheitsziele haben ihre grundsätzliche Gültigkeit meines Erachtens nicht eingebüßt, auch wenn sie an der ein oder anderen Stelle natürlich einer Aktualisierung bedürfen.

Wie müssen sich aus Ihrer Sicht die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verändern, um die Gerechtigkeit in Deutschland zu verbessern?

Im Grunde genommen gibt es fünf Hauptaspekte, mit denen soziale Gerechtigkeit beschrieben werden kann. Diese sind der Zugang zu Ressourcen, Gerechtigkeit, Teilhabe, Vielfalt und Menschenrechte. Soziale Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Menschen am kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können. Teilhabe hängt zu einem hohen Maße von Geld und Bildung ab, daher spielen die existenzsichernde Beschäftigung und der gleichberechtigte Zugang zu guter Bildung eine sehr wesentliche Rolle.

Communityorientierte, also gemeinwesenorientierte Ansätze gelten als besonders vielversprechend zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit. Können Sie erklären, warum das so ist?

Communities That Care (CTC) wurde bereits in den späten 1980er bzw. frühen 1990er Jahren von Akteuren aus Wissenschaft und Praxis aus dem Bereich „Community-Based Prevention of Adolescent Problem Behaviors“ in den USA entwickelt. Den inhaltlichen Schwerpunkt dieses Präventionsansatzes bildeten zunächst die Prävention von Drogenkonsum, Gewalt und Kriminalität im Kindes- und Jugendalter. Community wird hierbei als Kleinstadt, Stadtviertel oder Quartier verstanden. Der Ansatz zielt auf die Übertragung präventionswissenschaftlicher Grundlagen in die Praxis kommunaler Prävention und Gesundheitsförderung und gilt als evidenzbasiert.

Das Erfolgsrezept der Sozialraum- und Gemeindeorientierung in der Gesundheitsförderung und Prävention ist, dass dem Ansatz eine umfassende Rahmenstrategie unter Einbezug vieler Akteure vor Ort zugrunde liegt, um auf kommunaler Ebene eine nachhaltige Vermeidung bestimmter Verhaltens- oder Gesundheitsprobleme zu erzielen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Kinder und Jugendliche, die in sozial benachteiligten Quartieren aufwachsen, haben signifikant geringere Chancen gesund zu sein oder zu bleiben.

Um hier ein konkretes und erfolgreiches Beispiel zu nennen: Das Präventionsprogramm „Lenzgesund - Vernetzte frühe Hilfen rund um Schwangerschaft, Geburt und erste Lebensjahre“ wurde für die als sozialer Brennpunkt geltende „Lenzsiedlung“ im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel entwickelt. Es gilt bis heute als ein „Best Practice-Beispiel“. Das Gesundheitsamt vor Ort führte dort ein Präventionsprogramm für Kinder und ihre Eltern durch. Im Mittelpunkt tand dabei die nachhaltige Verbesserung von Entwicklungschancen von Kindern. Unter maßgeblicher Beteiligung des Gesundheitsamtes und unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure der Sozialen Arbeit konnten der Zugang zur Gesundheitsversorgung und das Gesundheitsbewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner nachhaltig verbessert werden. Darüber hinaus ist es gelungen, Ärztinnen und Ärzte sowie weitere Berufsgruppen medizinischer und sozialer Dienstleistungen erfolgreich miteinander zu vernetzen. Maßnahmen zur Geburtsvorbereitung, Versorgung nach der Geburt und im ersten Lebensjahr, Impfungen, Frühe Hilfen/Frühförderung, die Förderung der Zahn- und Mundgesundheit, Maßnahmen zur Verbesserung der Ernährung, zu Bewegung und gesundheitlicher Handlungskompetenz wurden angeboten und Strukturen aufgebaut, die zur Verbesserung der Gesundheits- und Lebensbedingungen von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern beitragen. Insgesamt also eine komplexe und sehr erfolgreiche Intervention, die über ein bloßes Angebot verhaltensorientierter Angebote weit hinausging.

Im Sinne der Nachhaltigkeit ist eine dauerhafte und langfristige Finanzierung dieser Community-Ansätze natürlich der Dreh- und Angelpunkt und somit zentral für deren Erfolge. Daran hapert es leider nach wie vor.

Übrigens: Das Konzept der gemeinwesenorientierten Prävention und Gesundheitsförderung basiert auf entwicklungsbezogener Prävention und ist dementsprechend auf alle Altersgruppen anwendbar. Entscheidend ist aber, wie gesagt, gerade für diesen wissenschaftlich gut dokumentierten, erfolgreichen Community-Ansatz, eine Regelfinanzierung und somit dauerhafte Implementierung zu erreichen.

Welche weiteren Maßnahmen halten Sie für notwendig, um die gesundheitliche Chancengerechtigkeit in Deutschland zu stärken?

Wer arm ist, stirbt früher. Deshalb ist es, wie bereits erwähnt, dringend erforderlich, die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen arm und reich zu verringern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die konsequente Umsetzung einer Health-in-All-Policies-Strategie ein wichtiger und notwendiger politischer Schritt. Elementar für den Erfolg ist natürlich die Bereitstellung ausreichender finanzieller Mittel für zum Beispiel konkret die Ausstattung von Schulen und Kitas und für gute Arbeits- und Lebensbedingungen allgemein.

Die Bundesärztekammer setzt sich darüber hinaus dafür ein, dass auch die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung nachhaltig verbessert wird. Auch hierfür bedarf es einer bundesweiten Strategie. Zum Beispiel lautet eine der Forderungen der BÄK, dass die Entwicklung von Gesundheitskompetenz ab dem Kindesalter auch in den Lehrplänen der Schule verbindlich verankert werden müsste. Hier wäre auch die Kultusministerkonferenz gefragt.

Zum Abschluss, welche konkreten Handlungsempfehlungen formuliert das Arbeitsgruppenpapier zum Schwerpunkt „Gesundheitliche Chancengerechtigkeit“? 

Die zentrale Botschaft der Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Chancengerechtigkeit“ der BVPG lautet: Alle Menschen in Deutschland sollten gleichermaßen einen einfachen und gleichberechtigten Zugang zu evidenzbasierter, qualitätsorientierter Prävention, Gesundheitsförderung und Gesundheitsversorgung haben. Um dies zu erreichen, müssen Partizipation und Teilhabe gewährleistet und weiter gestärkt werden. Als konkrete Rahmenbedingungen hat die BVPG-Arbeitsgruppe in ihrem Positionspapier „Gesundheitliche Chancengerechtigkeit“ (PDF) insgesamt zehn Empfehlungen ausgesprochen, von denen ich exemplarisch gern folgende als besonders relevant hervorheben möchte:

Übergeordnet ist die Stärkung der Demokratie und strukturellen Teilhabe eine wichtige Grundlage für eine gerechte Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des Erstarkens rechter Strömungen und Parteien sind die Förderung von Inklusion und Diversität ein ebenso wichtiger Baustein wie die soziale Absicherung. Aus diesem Grund sollten Gesundheitsfolgenabschätzungen für die Gesundheit der Bevölkerung möglichst bei allen relevanten Gesetzes- und Planungsvorhaben durchgeführt werden. Zudem muss die Regelfinanzierung für die Implementierung und Verstetigung evidenzbasierter Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung sichergestellt werden. Davon gibt es bereits zahlreiche. Das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden. Integrierte kommunale Strategien können zudem dabei helfen, bereits bestehende Angebote besser zu verknüpfen. In diesem Punkt besteht dringender Verbesserungsbedarf hinsichtlich Sichtbarkeit, Auffindbarkeit und der Verknüpfung bereits bestehender Angebote. Durch integrierte kommunale Strategien könnten die vorhandenen Ressourcen sehr viel effizienter genutzt und vor allem die Zielgruppen besser erreicht werden. Zentral ist auch, dass der Aufbau von Strukturen zur Stärkung gesundheitlicher Chancengerechtigkeit möglichst in der frühen Kindheit beginnen sollten. Durch die Entwicklung von Präventionsketten- auch in Verbindung mit digitalen Maßnahmen – kann die Gesundheitskompetenz in benachteiligten Gruppen gezielt gefördert werden und mit dazu beitragen, bestehende Ungleichheiten zu reduzieren.

Konkret fordert die Arbeitsgruppe, dass vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen und künftiger Gefahrenlagen der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) über das Jahr 2026 hinaus verlängert und verstetigt werden muss, um den ÖGD krisenfest und zukunftssicher aufzustellen. Darüber hinaus wird eine verbindliche Umsetzung und Verankerung einer länderübergreifenden Strategie zur Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die Bildungs- und Erziehungseinrichtungen gefordert.

Sollte allein diese Auswahl der AG-Forderungen politisches Gehör finden, wäre dies ein erfolgreicher Schritt für die Verbesserung der gesundheitlichen Chancengerechtigkeit in Deutschland!

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