08.02.2013
Gesund aufwachsen - was brauchen Kinder, um sich gesund zu ernähren?
Von der Wissenschaft in die Praxis
Mathilde Kersting, Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE)
Schlagwörter:Bewegungsförderung, Ernährung, Familie
Entscheidende Weichen für gesundheitsförderliche Verhaltensweisen werden bereits im Kindes- und Jugendalter gestellt. Hier haben die Bereiche Ernährung, Bewegung und Stress eine große Bedeutung für ein gesundes Aufwachsen. Die vielfältigen wechselseitigen Berührungspunkte legen es nahe, diese Bereiche als Bausteine eines gesundheitsförderlichen Verhaltens miteinander zu verknüpfen. Diese Bausteine zu betrachten wird nochmal umso wichtiger, wenn man sich die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen anschaut. Wie zahlreiche Untersuchungen (z.B. KiGGS-Studie) bestätigen, sind sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche häufiger krank, ernähren sich weniger gesund und treiben weniger Sport als sozial besser gestellte Kinder. Es ist eine zentrale Zielsetzung von Initiativen zur Verbesserung gesundheitlicher Chancengleichheit, gesunde Lebensführung auch unter belastenden Lebensumständen zu ermöglichen. Der Beitrag von Frau Dr. Kersting (Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund) stellt einen Ansatz für die Gestaltung einer gesunden und ausgewogenen Ernährung als wichtigen Bestandteil eines gesunden Alltags vor.
Das Redaktionsteam des Kooperationsverbundes
Eine gesunde Ernährung für Kinder deckt den Bedarf an Energie und Nährstoffen, um Wachstum, Entwicklung und volle Ausschöpfung der Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. Zusätzlich sollte auch das präventive Potential der Ernährung genutzt werden, je früher umso wirkungsvoller. Das Motto der Arbeiten des Forschungsinstituts für Kinderernährung Dortmund (FKE) lautet deshalb: Gesunde Ernährung von Anfang an.
Hierbei liegt der Fokus auf lebensmittelbasierten Empfehlungen, um den komplexen und noch längst nicht im einzelnen verstandenen Zusammenhängen und Wechselwirkungen der vielfältigen Nahrungssubstanzen bei der Entstehung weit verbreiteter Krankheiten wie Adipositas (Fettleibigkeit), Herzkreislaufkrankheiten und Diabetes Rechnung zu tragen. Zu diesem Zwecke wurde unter anderem das Konzept der Optimierten Mischkost - kurz optiMIX - für Kinder und Jugendliche entwickelt. Mit diesem Konzept werden die aktuellen wissenschaftlichen Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr und die Prävention in praktische, lebensmittelbezogene Richtlinien für die Lebensmittelauswahl umgesetzt. Dabei fließen Forschungserkenntnisse aus eigenen Studien und Kooperationsprojekten, z.B. DONALD, trinkfit, DINO, laufend mit ein. Die Ernährungskonzepte des FKE sind das Original für die Ernährungsberatung zur Kinderernährung in Deutschland.
Die Optimierte Mischkost für Kinder, Jugendliche und Familien
Der Optimierten Mischkost liegt ein 7-Tage-Speiseplan zugrunde, der die hiesigen Ernährungsgewohnheiten berücksichtigt und exemplarisch aus herkömmlichen Lebensmitteln zusammengestellt wurde. Aus diesem Speiseplan wurden Anhaltswerte für altersgemäße Verzehrsmengen für 11 Lebensmittelgruppen abgeleitet.
Dabei sind die Anteile der Lebensmittelgruppen an der Gesamternährung für alle Altersgruppen von Kindern gleich, nur die Mengen ändern sich in Abhängigkeit vom Energiebedarf: ältere Kinder benötigen mehr als jüngere, Jungen mehr als gleichaltrige Mädchen, körperlich aktive Kinder mehr als Kinder mit geringer körperlicher Aktivität, die z.B. viel Zeit vor dem PC oder Fernseher verbringen.
Für die Anwendung in der Praxis wurden die Empfehlungen der Optimierten Mischkost in 3 Kernbotschaften zusammengefasst, die sich durch die Ampelfarben vermitteln lassen:
- Reichlich pflanzliche Lebensmittel und Getränke grüne Ampel
- Mäßig tierische Lebensmittel gelbe Ampel
- Sparsam: fett- und zuckerreiche Lebensmittel rote Ampel
Wer sich an den Kernbotschaften für die Lebensmittelauswahl orientiert, ist bereits auf dem Weg zur Optimierten Mischkost.
Hinweise zur Lebensmittelauswahl
Als Getränk ist Trinkwasser/Leitungswasser die erste Wahl. In attraktiver Form angeboten, z. B. aus leitungsgebundenen Wasserspendern und bunten Trinkflaschen in Schulen, wird es bei Kindern akzeptiert, wie die trinkfit Studie des FKE zeigt.
Pflanzliche Lebensmittel, insbesondere Obst und Gemüse, haben vielfältige Vorzüge: die niedrige Energiedichte (kcal/g) aufgrund des hohen Wassergehaltes erleichtert die Hunger-Sättigungs-Regulation. Obst, Gemüse und (Vollkorn-)Getreide sind reich an Vitaminen, Mineralstoffen und Ballaststoffen. Von zusätzlicher Bedeutung sind die sogenannten sekundären Pflanzenstoffe und Antioxidantien, denen unter anderem anti-entzündliche und anti-cancerogene Wirkungen zugesprochen werden.
Tierische Lebensmittel sind Träger spezieller Nährstoffe, wie Calcium und Jod in Milch(produkten), Eisen und Zink in Fleisch, Jod und omega-3 LC-PUFA in (fettreichem) Seefisch. Aufgrund ihres Energiegehaltes sollten tierische Lebensmittel in mäßigen Mengen verzehrt werden, und Milch und Fleisch in fettarmen Varianten.
Fett- und zuckerreiche Lebensmittel sind reich an Energie und relativ arm an Nährstoffen. Sie werden in der Optimierten Mischkost sparsam verwendet. Als Speisefett ist Rapsöl aufgrund seines ausgewogenen Fettsäuremusters empfehlenswert.
Die Lebensmittelauswahl in der Optimierten Mischkost bietet einen Spielraum von maximal 10 % der Energiezufuhr für Produkte wie Süßigkeiten, Gebäck, Knabberartikel, Fast food, ohne dass die Nährstoffzufuhr beeinträchtigt wird. Diese Flexibilität erleichtert die Ernährungserziehung. Verknappung oder Verbote machen Nahrungsmittel bei Kindern erst recht attraktiv.
Von Lebensmitteln zu Mahlzeiten
Die Betrachtung der Kinderernährung in Form von Mahlzeiten ist von wissenschaftlicher und praktischer Bedeutung:
Kinder und Jugendliche erleben ihre Ernährung in Form der täglichen Mahlzeiten. Konkrete mahlzeitenbasierte Empfehlungen sind deshalb besonders handlungsrelevant. Die Kombination verschiedener Lebensmittel(gruppen) in einer Mahlzeit wird der Komplexität einer Präventionsernährung eher gerecht als die Betrachtung einzelner Lebensmittel.
Ein regelmäßiger Mahlzeitenverzehr, vor allem die Einnahme eines Frühstücks, kann der Entstehung von Übergewicht vorbeugen. Verzicht auf das Frühstück scheint außerdem die kognitive Leistungsfähigkeit von Kindern in der Schule zu beeinträchtigen.
In der Optimierten Mischkost gibt es 5 Mahlzeiten über den Tag verteilt:
- 2 kalte Hauptmahlzeiten - Frühstück und Abendessen
- 1 warme Hauptmahlzeit - z.B. das Mittagessen
- 2 Zwischenmahlzeiten - am Vormittag und Nachmittag
Die Lebensmittelanteile innerhalb der Mahlzeit folgen jeweils den 3 Regeln für die Lebensmittelauswahl. Zur anschaulichen Vermittlung der Optimierten Mischkost und der zugehörigen Mahlzeiten in der Ernährungsberatung und im Ernährungsunterricht wurde die 3-dimensionale optiMIX Mahlzeitenpyramide entwickelt.
Praktische Empfehlungen für die Mahlzeitengestaltung:
- Mindestens 1 Mahlzeit am Tag sollte gemeinsam im Kreis der Familie und in entspannter Atmosphäre eingenommen werden, z.B. das Abendessen.
- Kinder sollten täglich eine warme Mahlzeit erhalten. Die warme Mahlzeit mit ihrem spezifischen Lebensmittel- und Nährstoffprofil kann durch die üblichen Kaltmahlzeiten (Brotmahlzeiten) nicht gleichwertig ersetzt werden. Gesundheitlich unerheblich ist es, ob die warme Mahlzeit mittags oder abends eingenommen wird.
- Zu jeder Mahlzeit gehört ein Getränk, vorzugsweise Wasser.
- Zu jeder Mahlzeit gehören Obst, Rohkost oder Gemüse.
Verpflegung in Kita und Schule
In Zeiten gesellschaftlichen Wandels mit Veränderungen familiärer Strukturen geht eine Verlagerung von der familiären in die institutionelle Betreuung und Verpflegung der Kinder einher. Dabei gilt es, die Ernährung in der Familie und in Kita oder Schule aufeinander abzustimmen.
Die mahlzeitenbezogenen Empfehlungen der Optimierten Mischkost sind in Familie und Gemeinschaftsverpflegung (GV) in gleicher Weise anwendbar. Mit den gängigen Verpflegungssystemen in der GV (Warmanlieferung, Frischküche, (Tiefkühl-)Mischküche, Kühlkost) ist eine Versorgung mit ausgewogenen warmen Mahlzeiten der Optimierten Mischkost möglich. Ein zusätzliches Angebot kalter (Brot-)Mahlzeiten oder Snacks könnte das nachlassende Interesse älterer Kinder und Jugendlicher an der üblichen Warmverpflegung kompensieren.
Eine gute Gemeinschaftsverpflegung ist ein wesentlicher Bestandteil der Verhältnisprävention durch erleichterten Zugang zu gesunden Nahrungsangeboten. Auf diese Weise werden Kinder aller sozialen Gruppen niederschwellig erreicht. Gerade Kinder mit ansonsten unausgewogener Ernährung können von einer optimierten Verpflegung in Kita und Schule profitieren. Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung bietet für Kinder aus bedürftigen Familien finanzielle Unterstützung für die Verpflegung.
Einrichtungen oder Essenanbieter, die Kindern in Schule und Kita Optimierte Mischkost anbieten möchten, können ihre Angebote (Rezepte) vom FKE prüfen lassen. Bei Erfüllung der Kriterien wird das optiMIX Siegel verliehen. Es kennzeichnet Mahlzeiten, die den Kriterien (Lebensmittel, Nährstoffe) der Optimierten Mischkost entsprechen.
Gesunde Ernährung für alle?
Vielfach wird behauptet, finanzielle Zwänge, z.B. bei Arbeitslosigkeit (Hartz IV) oder Ein-Eltern-Familien, seien eine Barriere für eine gesunde Ernährung. In der Tat gibt es einheitliche Hinweise darauf, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten seltener frühstücken, seltener Obst und Gemüse und häufiger Limonade verzehren und dass sie die Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr weniger erreichen als Kinder aus höheren sozialen Schichten. Gleichzeitig ist der Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder in unteren sozialen Schichten etwa drei mal so hoch wie in hohen sozialen Schichten.
Am FKE wurden Szenarien der Lebensmittelauswahl anhand der Ernährungspraxis bei Kindern und Jugendlichen in der DONALD Studie und im Vergleich zum aktuellen Hartz IV Regelsatz für Ernährung berechnet. Dabei zeigte es sich, dass die Lebensmittelkosten der Optimierten Mischkost niedriger sind als die Kosten der derzeitigen Ernährung, wenn nur preiswerte Grundlebensmittel eingesetzt werden, aber höher bei gleicher Lebensmittelauswahl (zusätzlich Marken- und Fertigprodukte). Bei Beschränkung auf Grundlebensmittel ist die Optimierte Mischkost mit dem aktuellen Hartz IV Regelsatz für Ernährung bei Kindern und Jugendlichen von 2-18Jahren (2,62 - 4,13 €/Tag) machbar, bei Einsatz der Lebensmittel wie in der derzeitigen Ernährung übersteigen die Kosten den Hartz IV Regelsatz in allen Altersgruppen mit Ausnahme der 2-3Jahre alten Kleinkinder; mit zunehmendem Alter vergrößert sich die Lücke auf bis zu 2 Euro/Tag bei 15-18jährigen Jugendlichen.
Bei knappen finanziellen Ressourcen können folgende Hinweise eine gesunde und preiswerte Ernährung erleichtern:
- Nach Speiseplan und Einkaufsliste einkaufen
- Auf Sonderangebote, Aktionsware achten
- Preisvergleiche anhand der Grundpreise (€ pro Liter, Kilogramm) vornehmen
- Rohwaren kaufen und selber kochen anstatt (Halb-)Fertigprodukte zu verwenden
Gesunde Ernährung - Schritt für Schritt
In der Praxis weicht die Ernährung der meisten Kinder und Jugendlichen trotz zahlreicher Projekte zur Ernährungsaufklärung nach wie vor von den präventiven Empfehlungen ab. Insbesondere liegt der Verzehr von Gemüse, Obst und Vollkornprodukten weit unter den Empfehlungen der Optimierten Mischkost, der Verzehr von Fleisch und Süßigkeiten darüber.
Fertigprodukte (Convenience-Produkte) wie Tiefkühl-Pizza, Tiefkühl-Baguette mit hoher Energiedichte sind heute ein fester Bestandteil der Ernährung der meisten Kinder und Jugendlichen. Bei richtigem Umgang können auch Fertigprodukte Bestandteil einer Präventionsernährung sein und die Umsetzung in der heutigen Lebenswirklichkeit erleichtern. Bei der Auswahl der Produkte helfen die 3 Regeln für die Lebensmittelauswahl.
Es hat sich gezeigt, dass Kinder ‚gesündere’ Produkte eher akzeptieren wenn diese Schritt für Schritt eingeführt werden. Geduld und Kompromisse sind also ein vielversprechender Weg zu einer Präventionsernährung.
Weiterführende Literatur
- Alexy U. Kersting M. Lebensmittelkosten der Kinderernährung und Hartz IV. Prävention Zeitschrift für Gesundheitsförderung, 2012; 35:71-74
- Clausen K, Kersting M. Gemeinschaftsverpflegung in Bildungseinrichtungen für Kinder. Strukturen - Ernährungskonzepte - Anwendung: Monatsschr Kinderheilkd 2012;160:1081-1088
- Forschungsinstitut für Kinderernährung. Empfehlungen für die Ernährung von Kindern und Jugendlichen. Die Optimierte Mischkost optiMIX. FKE, Dortmund, 2012.
- Kersting M, Clausen k. Alexy U. Kinderernährung heute - Grundlagen und lebensmittelbezogene Ernährungsrichtlinien. Kinder- und Jugendarzt 2012, 43:433-437
- Reinehr/Kersting/van Teeffelen-Heithoff/Widhalm. Pädiatrische Ernährungsmedizin.Grundlagen und praktische Anwendung. Schattauer, Stuttgart 2012
Weitere Informationen
www.fke-do.de Broschüren zur Kinderernährung, 3dimensionale optimiX Mahlzeitenpyramide, Fortbildungsprogramm zu Kinderernährung und Gemeinschaftsverpflegung
www.trinkfit-mach-mit.de Hinweise zur Förderung des Trinkwasserverzehrs in Schulen