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08.07.2021

Gesund + gewaltfrei

Gesundheitsförderung und Gewaltprävention in bayerischen Pflegeheimen

Pablo Rischard, AGP Sozialforschung
Hannah Nebel, AGP Sozialforschung

Schlagwörter:Gewalt, Pflege, Ältere

Pflegende wie auch Pflegebedürftige in der stationären Langzeitpflege weisen ein hohes Risiko für gesundheitliche Benachteiligung auf: Die Arbeit im Pflegeheim ist für Pflegekräfte häufig physisch wie psychisch fordernd und Pflegebedürftige stehen wiederum als vulnerable Gruppe in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis von den Pflegenden und der Einrichtung. Beide sind Leidtragende von Zeitdruck oder Überforderungen.
Im Januar 2020 startete vor diesem Hintergrund ein Projekt zur Gesundheitsförderung und Gewaltprävention in Pflegeheimen unter dem Motto: „Pflege in Bayern - Gesund und gewaltfrei“. Gute Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in der stationären Langzeitpflege sollen gefördert und ein Leben ohne Demütigung und Gewalt für die Bewohner*innen ermöglicht werden.

Ein multiperspektivischer Blick auf Gewalt und Gesundheit

Das Ziel des Präventionsprojektes ist es, gesundheitsfördernde und gewaltfreie Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende sowie gesundheitsfördernde und gewaltfreie Lebensbedingungen für Bewohnerinnen und Bewohner in den Projekteinrichtungen zu fördern und zu etablieren. Für die Mitarbeitenden sollen Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die ihre Gesundheit fördern, sie vor Überforderung schützen, aber auch vor entwürdigendem Verhalten und Demütigungen am Arbeitsplatz. Bewohnerinnen und Bewohner sollen in ihrem Pflegeheim gleichermaßen vor entwürdigenden Handlungen und Gewalterfahrungen bewahrt werden.
Dem Projekt liegt ein weiter Gewaltbegriff zugrunde, der neben körperlicher Gewalt auch Formen der psychischen Gewalt, von Vernachlässigung, finanzieller Ausbeutung sowie intimen Übergriffen umfasst (Abbildung 1). Die Definition des Gewaltbegriffs im Projekt orientiert sich an Görgen (Görgen 2017), der WHO (2002; Sethi et al. 2011) und dem ZQP (Schnapp 2016).

Zugleich wird im Projekt nicht nur Gewalt gegen Bewohner*innen in den Blick genommen, sondern ebenso gegen Mitarbeitende. Auch gewaltfördernde Rahmenbedingungen und Formen der strukturellen Gewalt werden einbezogen, da nicht nur Einzelmaßnahmen durchgeführt, sondern die Einrichtungen in ihrer Organisationsentwicklung begleitet werden.

Begleitung in der Organisationsentwicklung

Die 40 teilnehmenden Pflegeeinrichtungen wurden in zwei Kohorten aufgeteilt, welche einem zeitversetzten, aber ansonsten identischen Projektverlauf folgen. Die erste Gruppe startete im Oktober 2020, die zweite Gruppe wird im Oktober 2021 mit der Sensibilisierungsphase beginnen. Externe Prozessbegleiter*innen und Fokusgruppen aus den Einrichtungen steuern den Prozess; zudem werden Regionalgruppentreffen für den Erfahrungsaustausch zwischen den teilnehmenden Einrichtungen durchgeführt.
Eine zentrale Grundlage für Gewaltprävention stellt die Sensibilisierung für unterschiedliche Formen von Gewalt dar - gegen Mitarbeiter*innen gleichermaßen wie gegen Bewohner*innen. In den Auftaktveranstaltungen der ersten Kohorte wurde deutlich: Das Projektthema trifft auf viel Resonanz. Die teilnehmenden Fokusgruppen-Mitglieder tauschten sich über gewaltnahe Vorkommnisse und Umstände, sowie Vernachlässigungen in ihren Einrichtungen aus. Dies geschah überraschend offen und reflektiert.

Im weiteren Projektverlauf entwickelt jede Fokusgruppe, gemeinsam mit einem verantwortlichen Einrichtungscoach, ein auf die Einrichtung abgestimmtes Vorgehen zur Weiterentwicklung der eigenen Qualitätsbemühungen im Sinne der Projektziele. Dabei kann auf einen Methodenkoffer zurückgegriffen werden, der in einer umfassenden Literaturrecherche erarbeitet wurde. Der Koffer umfasst vielfältige Methoden, Konzepte und Instrumente, die unterschiedlichen Interventionsbereichen zugeordnet wurden und die zielgerichtete Identifizierung geeigneter Maßnahmen ermöglicht. Die Prozessbegleiter*innen und die Fokusgruppen prüfen gemeinsam, welche Instrumente aus dem Methodenkoffer der Einrichtung helfen, sich dem Ideal einer gewaltfreien und gesundheitsfördernden Einrichtung weiter anzunähern. Fachtrainer*innen führen anschließend Schulungen zu den gewählten Methoden durch, während die Prozessbegleiter*innen die schrittweise Umsetzung in der Organisationsentwicklung begleiten.

Begleitforschung

Die Begleitforschung sieht insgesamt vier quantitative Befragungen, teilnehmende Beobachtungen in und Telefoninterviews mit den Projekteinrichtungen vor. Die erhobenen Daten bieten die Möglichkeit, Erfahrungen zu reflektieren und zu prüfen, wie die im Methodenkoffer zusammengestellten Tools, Maßnahmen und Interventionen einen Beitrag dazu leisten, Gewaltprävention und Gesundheitsschutz in den Pflegeeinrichtungen zu befördern. Die Ergebnisse und kondensierten Erfahrungen der Einrichtungen, werden zum Ende des Projekts in einem Good-Practice-Katalog zusammengefasst. Dieser wird allen interessierten Pflegeheimen und der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Ergebnisse der ersten Befragung unter den Mitarbeitenden heben die Relevanz des Themas Gewalt und Gesundheit für die Mitarbeitenden in Pflegeheimen deutlich hervor. Sie zeigen, dass über die Hälfte der befragten Mitarbeitenden (51%) im betrachteten Zeitraum von zwei Monaten persönliche Erfahrungen mit Gewalt am Arbeitsplatz gemacht haben (Abbildung 3). Im gleichen Zeitraum beobachteten ebenfalls knapp über die Hälfte der Befragten (51%) Gewalthandlungen und Vernachlässigungen gegenüber Bewohner*innen (Abbildung 4).

Besondere Bedeutsamkeit des Themas in der Corona-Pandemie

Unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie hat das Thema Gewalt in der stationären Pflege an Relevanz zugenommen. Kontaktbeschränkungen, Hygieneregeln und behördliche Auflagen sorgten für immense Belastungen, sowohl bei Pflege- und Betreuungskräften als auch bei den Bewohnern und Bewohnerinnen. Dies spiegelte sich auch in der Befragung der Mitarbeitenden wider. 58% der Befragten gaben an, dass die Corona-Pandemie ihre psychische Gesundheit negativ bis stark negativ beeinflusst habe (Abbildung 5).

Um Verantwortlichen und Mitarbeitenden in den teilnehmenden Pflegeheimen in der Pandemie akute Unterstützung anzubieten, sowie zugleich im Rahmen der Pandemie auftauchende Dilemmasituationen und Fragestellungen in das Projekt aufzunehmen, wurde im Rahmen des Projektes in Kooperation mit der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) ein Rechtscoaching angeboten.

Kranken- und Pflegekassen fördern das Modellprojekt gemeinsam als Präventionsmaßnahmen

Das Projekt wird in Kooperation von AGP Sozialforschung, der Hans-Weinberger-Akademie sowie der Hochschule München durchgeführt und von folgenden Kranken- und Pflegekassen gefördert: AOK Bayern; BKK Landesverband Bayern; KNAPPSCHAFT; Techniker Krankenkasse (TK); BARMER; DAK-Gesundheit; KKH Kaufmännische Krankenkasse; Handelskrankenkasse (hkk); HEK - Hanseatische Krankenkasse; sowie der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) als Landwirtschaftliche Pflegekasse.
Die Förderung erfolgt kassenartenübergreifend zur Umsetzung von Präventionsleistungen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung nach § 20b SGB V für die Beschäftigten in Verbindung mit § 5 SGB XI (Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen) für die pflegebedürftigen Bewohnerinnen und Bewohner. Die fördernden Kranken- und Pflegekassen begleiten die Durchführung des Projektes seit Beginn und stehen den Kooperationspartnern beratend zur Seite.
Begleitet wird das Projekt zudem von einem Fachbeirat, der fachlichen Input leistet und in dem regelmäßig die Projektergebnisse diskutiert werden.
 

Literaturverzeichnis

  • Görgen, Thomas (2017): Wissen über das Phänomen Gewalt in der Pflege. In: Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) (Hg.): Gewaltprävention in der Pflege. ZQP-Report. Unter Mitarbeit von Simon Eggert, Katharina Lux, Daniela Sulmann und Daniela Väthjunker. Berlin, S. 8-12.
  • Schnapp, Patrick (2016): Gewalt gegen Pflegebedürftige: Fakten und Hilfe. Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP).
  • Sethi, Dinesh; Wood, Sara; Mitis, Francesco; Bellis, Mark; Penhale, Bridget; Marmolejo, Isabell Iborra et al. (2011): European report on preventing elder maltreatment. Hg. v. World Health Organization (WHO) Europe. Kopenhagen. Online verfügbar unter https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0010/144676/e95110.pdf, zuletzt geprüft am 17.02.2021.
  • World Health Organization (WHO) (Hg.) (2002): The Toronto Declaration on the Global Prevention of Elder Abuse. University of Toronto and Ryerson University Ontario, Canada; International Network for the Prevention of Elder Abuse (INPEA). Online verfügbar unter https://www.who.int/ageing/projects/elder_abuse/alc_toronto_declaration_en.pdf?ua=1, zuletzt geprüft am 17.02.2021.

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