24.11.2011
Gesundheit als Diskriminierungsfaktor
Einteilung in unterschiedliche Risikogruppen hat immer einen diskriminierenden und entwürdigenden Effekt für die Betroffenen
Klaus D. Plümer, Health Promotion & Public Health Consultant
Schlagwörter:Diskriminierung, Zielgruppe, Kommentar
"Die Einteilung in unterschiedliche Risikogruppen hat immer einen diskriminierenden und entwürdigenden Effekt für die Betroffenen." (SZ vom 29.12.10)1) Diese Bemerkung des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar sollte mindestens alle zielgruppenfixierte Gesundheitsförderer sehr nachdenklich machen. Diskriminierung bedeutet laut Duden unterschiedliche Behandlung; Herabsetzung. Noch weiter ging der Arbeits- und Umweltmediziner Dennis Nowak von der Ludwig-Maximilians-Universität München mit seinem Statement "Übergewicht und Rauchen sind zum sichtbaren Makel sozialer Diskriminierung geworden." (SZ vom 21.02.2009).2)
Die Einteilung in Risiko- und Hochrisikogruppen ist in der Prävention und Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten ein gängiges zielgruppenspezifisches Such- und Zuordnungskriterium. Ob dies unter dem Aspekt der zumindest impliziten Diskriminierung von den handlungsleitenden Experten und Akteuren im Feld hinreichend (selbst)kritisch reflektiert wird, ist mehr als fraglich. So werden etwa Alleinerziehende als Hochrisikogruppe eingestuft, obwohl nicht sie das Hochrisiko ausmachen, sondern die Bedingungen unter denen sie in unserer Gesellschaft ihr Leben für sich und ihre Kinder organisieren müssen. Oder wenn Arbeitslose als 'erwerbsfähige Hilfebedürftige mit erhöhtem Betreuungsbedarf' bezeichnet werden. Oder wenn ethnischen Gruppen ein gesundheitsschädliches Verhalten pauschal wegen ihrer Zugehörigkeit zugeschrieben wird.
Dass Nikotin, Bewegungsmangel und Alkohol ungesund sind, ist jedem bekannt. Aber nicht als ungesund qualifizierte Verhaltensweisen sind das Kernproblem, sondern "dass es sozial Schwächeren an Handlungsspielräumen mangele, mache sie krank" (Nowak). Der britische Epidemiologe Michael Marmot liefert dafür in seinem Buch »Status Syndrome« zahlreiche empirische Beispiele. Mit der Figur Patty illustriert er sehr anschaulich, worauf es ankommt:
"If smoking, being overweight and lack of exercise are the causes of ill-health, then we have to look at the causes of the causes" (Marmot 2005, S. 69f).3) Wenn Rauchen, Übergewicht und mangelnde Bewegung Ursachen für schlechte Gesundheit sind, dann müssen wir nach den Gründen für die Ursachen suchen (frei übersetzt, KDP).
Dabei sollte die Fixierung auf einen ungesunden Lebensstil als Krankheitsursache aus guten Gründen vermieden werden wie jüngst im Scandinavian Journal of Public Health plädiert wurde.
"The concept lifestyle disease gives a too narrow picture of causes death and should be abandoned and give place for a broader understanding of causes and preventive options."4) Das Konzept der Lebensstilerkrankungen (gelegentlich auch als Zivilisations- oder Wohlstandserkrankungen bezeichnet) gibt ein zu enges Bild von den Todesursachen, es sollte aufgegeben und einem breiteren Verständnis der Ursachen und Optionen für Prävention Platz machen (frei übersetzt, KDP).
Nowak entlarvte das Motto "Fordern und Fördern" als repressive Floskel: Gesundheit fördern hieße doch, dass man sich als gut situierter Akademiebesucher überlegen kann, ob man drei- oder viermal am Tag Salat isst und 45 statt 30 Minuten Sport treibt. "Fordern hingegen bedeutet, unwillige Gesunde und unfähige Kranke mit Sanktionen zu belegen", so Nowak. Er zeigte damit die "Crux von Eigen- und Fremdverantwortung" auf, die mit dazu beiträgt, dass viele Präventionsbemühungen nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Wissen erzeuge nun mal keine Verhaltensänderung.
Sind Diskriminierungen unvermeidlich oder müssen sie sozialverträglich formuliert werden? Nein! Wer so denkt, sollte sich einmal gründlich die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen durchlesen. Und wer Partizipation und Empowerment als Kernprämissen und Qualitätskriterien der Gesundheitsförderung versteht, weiß, dass man Menschen nicht als Zielgruppe, sondern nur als Mit-Menschen mit diesen hehren Prinzipien gerecht werden kann. Zielgruppen sind per definitionem Objekte der Begierde, aber Menschen sind „Subjekte von Geschehen, nicht Objekte von Hilfsbereitschaft“ (Christian Pfeiffer, ehemaliger Justizminister von Niedersachsen).
Nur wenn wir uns für die Lebenslagen der Menschen interessieren, ihnen nicht Lebensuntüchtigkeit unterstellen, wenn wir ihre Sicht der Dinge wahrnehmen und mit ihnen gemeinsam nach machbaren Alternativen suchen, sie zum Mitgestalten ermutigen und dabei unterstützen, ihre vorhandenen Ressourcen und Potenziale zu entfalten, kann Gesundheitsförderung gelingen und Diskriminierung vermieden werden. Der Habitus eines fürsorglichen Staates ist genauso obsolet wie die hartz-IV-gesteuerten Attitüden von Behördenmitarbeitern, die davon betroffene Menschen zu administrativen Vorgängen machen und im Regelvollzug willentlich oder unwillentlich zu deren Diskriminierung beitragen. Respect must come!
1) SZ vom 29.12.2010: Profiling an Flughäfen - Justizministerin warnt vor "Stigmatisierung" von Passagieren, von Daniela Kuhr und Peter Blechschmidt
2) SZ vom 21.02.2009: Krankmacher - Die vergebliche Suche nach der Gesundheit, von Werner Bartens
3) Michael Marmot: Status Syndrom - How Your Social Standing Directly Affects Your Health, Bloomsbury Publishing, 1., Aufl. (15. August 2005)
4) Signild Vallgårda: Why the concept 'lifestyle diseases' should be avoided, Scandinavian Journal of Public Health, November 2011, vol. 39 no. 7 (773-775)