03.02.2015
Gesundheit und Familie
Gesundheitssozialisation in der Familie: Chancen und Risiken
Heike Ohlbrecht, Otto-von-Guericke Universität Magdeburg
Nach wie vor sind Familien in ihren gegenwärtig vielfältigen Konstellationen entscheidend an der Sozialisation und Reproduktion der Gesundheit ihrer Mitglieder beteiligt: hier wird nicht nur Gesundheitsverhalten und Gesundheitshandeln alltäglich vermittelt und eingeübt, Familien erbringen als größtes medizinisches Laienhilfesystem1 auch den größten Teil der Pflege- und Versorgungsleistungen im Falle chronischer Krankheit, Behinderung oder altersbedingter Pflegebedürftigkeit in einem Umfang, der anders nicht zu finanzieren wäre.
Familiales Gesundheitshandeln - Gesundheitssozialisation
Die „Familie als das soziale Netz des Lebens“ (Bertram und Bertram 2009: 85) ist in besonderer Weise für die Gesundheitssozialisation wichtig. Die Familie ist ganz selbstverständlich auch der Ort, an dem Krankheitsepisoden aufgefangen werden und Eltern weitreichende Entscheidungen für die Gesundheitsbiografie ihrer Kinder treffen. Dies sind ganz alltagspraktische Entscheidungen, wie z.B. wann der Arzt aufgesucht wird, welche Krankheiten ohne ärztliches Zutun auskuriert werden, wie mit dem medizinischen Personal kommuniziert und interagiert wird etc.. Das Gesundheitshandeln in Familien ist weniger ein bewusstes und geplantes Handeln als vielmehr ein natürlicher Bestandteil des Familienlebens. Gesundheit entsteht in Familien zumeist „als sekundäre Zweckmäßigkeit von Alltagsroutinen“ (Bauch 2010: 176), als Nebenprodukt der Sozialisation. Die Gesundheitssozialisation von Kindern wird durch die alltägliche Praxis des Gesundheitsverhaltens der Eltern vorgelebt und geprägt als „quasi intergenerationelle Vererbung von Gesundheitsverhaltensmustern“ (Klocke und Becker 2003: 185). Dabei haben wir es - wie es für alle Sozialisationsprozesse gilt - nicht mit einfachen Übertragungsmechanismen zu tun, sondern es handelt sich um variable Aneignungsprozesse, um ein Wechselspiel zwischen Aneignung und Gestaltung. Die Leistungen von Familien für den Bereich der Gesundheit sind vielfältig: die familieninterne Sozialisation umfasst den Umgang mit Krankheiten und Auffälligkeiten, das Bewältigungshandeln, das Inanspruchnahmeverhalten von Vorsorgeuntersuchungen und medizinischen Leistungen (bei der Verhütung, Entstehung, Entwicklung und Bewältigung von Krankheiten spielt die Familie eine zentrale Rolle), den Umgang und die Kommunikation mit Experten, die Stärkung von Resilienz bis hin zu den Alltagspraktiken von Ernährung, Bewegung und Körperwahrnehmung etc.. Letztendlich bleibt die familiale Sozialisation lebenslang entscheidend dafür, welche Bedeutung der Gesundheit im alltäglichen Leben eingeräumt wird (Ohlbrecht 2011). Die Leistungen von Familien im Rahmen der Gesundheitssorge als „Hort traditionellen Heilswissens, als Selbsthilfeagentur und als Träger und Vermittler krankheitsbezogener Kompetenzen“ (Schnabel 2010: 28) werden hoch anerkannt und von der Medizin fraglos vorausgesetzt. Wichtiger jedoch als das engere familiale Handeln in Bezug auf Krankheit und Gesundheit sind die allgemeinen Familienstrategien und -haltungen, die sich in Zukunftsaspirationen, Bildungsbemühungen, Kohärenzgefühl und Selbstwirksamkeitserfahrungen niederschlagen (Ohlbrecht 2011). Kurz, die Grundlage für die gesundheitliche Entwicklung von Kindern wird sehr früh und entscheidend in den Familien gebahnt. Selbst dann, wenn Gesundheitshandeln vordergründig keine Rolle spielt, kaum in Familien thematisiert wird oder gar abgelehnt wird, entsteht all das, was an krankheits- und gesundheitsbezogenen Erfahrungen für das weitere Leben von Bedeutung sein wird und als „Gesundheitsfähigkeit“ (Schnabel 2001) bezeichnet werden kann. Gesundheit bedeutet dabei nicht nur das Einhalten oder Anstreben einer Idealnorm, es umfasst nicht nur die Praktiken von Ernährung, Bewegung und Krankheitshandeln, sondern bedeutet in unterschiedlichen Milieus auch Unterschiedliches. Gesundheit ist eben, wie die WHO frühzeitig bereits 1948 definiert hat, mehr als das Freisein von Krankheit. Gesundheit wird heute verstanden als ein Zustand des Wohlbefindens einer Person, „der gegeben ist, wenn diese Person sich körperlich, psychisch und sozial in Einklang mit den jeweils gegebenen inneren und äußeren Lebensbedingungen befindet. Gesundheit ist nach diesem Verständnis ein … durchaus nicht selbstverständliches Gleichgewichtsstadium von Risiko- und Schutzfaktoren, das zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer neu hergestellt werden muss“ (Hurrelmann 2006: 7). Dies verweist auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Familien, ihren zahlreichen Aufgaben nachzukommen und beispielsweise Gesundheitskompetenzen zu vermitteln. So führen diese Rahmenbedingungen eher zu einer erschwerten Work-Life-Balance in der „Rush hour of Life“ (Bertram 2007), wobei sich Familien stark unter Druck geraten fühlen (Henry-Huthmacher et.al. 2013), was durch viele Studien belegt ist.
Familie als Chancen- und Risikostruktur
Gesundheit wird in Familien hergestellt, sie wird aber auch genau hier u.U. verpasst, so dass die jeweiligen Familienstrukturen Chance und Risiko zugleich darstellen. Die Entwicklung und die Chancen des Einzelnen in der Gesellschaft hängen vom emotionalen Klima in der Familie, dem milieuabhängig vermittelten sozialen und kulturellen Kapital, der finanziellen Ausstattung und der gesellschaftlichen Statusposition der Eltern sowie von der Zugehörigkeit zu den gesellschaftlich bestimmenden oder eher marginal(isiert)en Gruppen oder zu den besonders auf Hilfen angewiesenen Familien ab. Kinder und Jugendliche, die in Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status aufwachsen, haben die meisten gesundheitlichen Probleme zu verzeichnen.2 So zeigen die KiGGS-Ergebnisse „seit Jahren recht eindrücklich, dass Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Lebenslagen deutlich schlechtere Gesundheitschancen aufweisen als ihre gleichaltrigen Peers aus den privilegierten Herkunftsmilieus.“ (Kolip, Bauer 2010: 229).
Gesundheitliche Ungleichheit
Die Ausgangsbedingungen und Ressourcenausstattung in Familien hinsichtlich des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals erweisen sich gerade auch in Bezug auf psychische Auffälligkeiten, Ernährung, Bewegung, das Verständnis von Gesundheit/Krankheit usw. entweder als Chance für gelingende Anpassungen oder als Blockaden für den Umgang mit neuen Risiken und gesellschaftlichen Paradigmen. Familie ist als ein „ambivalent funktionales System“ (Schnabel 1988) zu verstehen, welches sowohl gesund als auch krank machen kann. Das Hauptrisiko für gesundheitliche Belastungen stellen chronische Erfahrungen von sozialer Benachteiligung und Armut dar. Familien aus diesen Milieus, in denen die meisten Gesundheitsprobleme auftreten, können, so die Forschungslage, den Veränderungen der Lebenswelt oft weniger entgegensetzen, sie verfügen über geringere Ressourcen und viele Präventionsstrategien erreichen diese Familien nicht. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Chancen auf ein gesundes Leben zentral von der sozioökonomischen Lage von Familien abhängen (Richter/Hurrelmann 2006). Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten von Familien, einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu betreiben, und der Schichtzugehörigkeit. Darüber hinaus bedeutet Gesundheit nicht in allen sozialen Milieus das Gleiche. Für die einen ist Gesundheit eine Funktionsaussage, d.h. so lange der Körper funktioniert, ist Gesundheit gegeben. Für andere ist Gesundheit viel stärker mit dem eigenen psychosozialen Wohlbefinden und mit den eigenen Körperstrategien verbunden. Gesundheit wird nicht in allen sozialen Milieus - auch wenn das viele Präventionsstrategien unterstellen - als aktiv herzustellendes „Gut“ wahrgenommen. Vielmehr haben wir es mit milieuspezifischen und familial tradierten Gesundheitsvorstellungen zu tun. Selbstsorge und Resilienzpotentiale als instrumentelles Selbstverhältnis, das sich als präventives Verhalten deuten lässt, können so genannte Risikofamilien seltener entwickeln als diejenigen aus bildungsnahen Mittelschichten. Familien müssen daher viel stärker als bisher unter einer sozialökologischen Perspektive als Ansatzpunkt der Gesundheitsförderung erkannt und unterstützt werden.
Gesundheit als neues Leitdispositiv
Familien stehen heute - gerade in ihrem Gesundheitshandeln - viel stärker unter Beobachtung, die Entwicklung der Kinder wird akribisch von Eltern und Experten verfolgt und betrachtet. Gesundheit ist zum neuen gesellschaftlichen Leitdispositiv geworden (Ohlbrecht/Schönberger 2010) und die Erwartungen an die selbstverantwortliche Herstellung gesunder Lebensführung sind hoch. Gesundheit hat sich zu einer Schlüsselkategorie im gesellschaftlichen Diskurs transformiert, sie ist Indikator für Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit. Erfolgsgängigkeit und die „Pflicht zur Gesundheit“ sind implizit handlungsleitende Maxime in einer Gesellschaft, in der die Menschen für ihren Gesundheitszustand immer stärker haftbar gemacht werden und in der man ihnen die individuelle Verantwortungsübernahme dafür verordnet. Familien als die primären Gesundheitsproduzenten stehen nicht nur vor der Aufgabe, Gesundheit als wertvolles gesellschaftliches „Gut“, als individuelles und gesellschaftliches Gesundheitskapital hervorzubringen, sondern sie stehen auch im (unberechtigten) Verdacht, dass sie dies oft in ungenügender Weise oder mit falschen Akzentsetzungen vollziehen. Der Blick von Politik und Gesundheitsförderung sollte sich stärker auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen richten, die es ermöglichen, dass Familien eine zufriedenstellende Work-Life-Balance finden, beispielsweise ihre Zeitregime auf die Kinder abstellen können und somit Gesundheitssorge betreiben können, um damit Wohlbefinden (Well-being) erreichen zu können.
1So werden „zwischen geschätzten siebzig bis achtzig Prozent aller krankheitsförmigen, z. T. auch -wertigen Ereignisse im Laiensystem unter maßgeblichem Einfluss der Familie bewältigt und entlasten damit das Versorgungssystem auf eine Weise und in einem Ausmaß, das anderweitig nicht zu erbringen bzw. nicht zu bezahlen wäre.“ (Schnabel 2010: 28).
2Einige empirische Trends (Hackauf/Ohlbrecht 2013): Essstörungen der Kinder treten in Familien mit einem niedrigen sozialen Status fast doppelt so häufig auf, wie in Familien mit einem höheren sozialen Status. Bei einem niedrigen sozialen Status, ist die Wahrscheinlichkeit für psychische Auffälligkeiten und Erkrankungen um ein 4-faches erhöht. Die subjektive Gesundheit (Selbsteinschätzung der Gesundheit) fällt bei Kindern und Jugendlichen mit niedrigen sozialen Status deutlich schlechter aus als bei Befragten aus höheren sozialen Milieus.
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Bauch, Jost (2010): Gesundheit als sekundäre Zweckmäßigkeit von familialen Alltagsroutinen. In: Ohlbrecht, Heike; Schönberger, Christine (Hrsg.): Gesundheit als Familienaufgabe. Zum Verhältnis von Autonomie und staatlicher Intervention. Juventa, Weinheim und München, S. 176-190.
Bertram, Hans: Keine Zeit für Liebe: die Rushhour des Lebens. In: Familiendynamik 2007; 32: S. 108-116.
Bertram, Hans; Bertram, Birgit (2009): Familie, Sozialisation und die Zukunft der Kinder. Verlag Barbara Budrich, Opladen.
Burkart, Günter (2008): Familiensoziologie. UVK-Verl.-Ges., Konstanz.
Hackauf, Horst; Ohlbrecht, Heike (2013): Wie gesund bzw. krank sind Kinder und Jugendliche heute? In: ajs Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz, 1/49. Jahrgang, S. 4-14.
Henry-Huthmacher, Christine; Hoffman, Elisabeth; Borchard, Michael (Hrsg.) (2013): Eltern - Lehrer - Schulerfolg. Lucius Lucius, Stuttgart.
Hurrelmann, Klaus (2006): Gesundheitssoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Theorien von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. Juventa, Weinheim und München.
Klocke, Andreas; Becker, Ulrich: (2003): Die Lebenswelt Familie und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit von Jugendlichen. In: Hurrelmann, Klaus; Klocke, Andreas; Melzer; Wolfgang; Ravens-Sieberer, Ulrike (Hrsg.): Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisati WHO. Juventa, Weinheim und München, S 183-241.
Kolip, Petra; Bauer, Ullrich (2010): Gesundheit in schwierigen Lebenslagen. Einführung in den Themenschwerpunkt. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 3/2010, Juventa, Weinheim und München, S 228-230.
Ohlbrecht, Heike (2011): Wenn die Zeit aus den Fugen gerät. Familien in prekären Lebenslagen erzählen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: Kroh, Jens; Neuenkirch, Sophie (Hrsg.): Erzählte Zukunft. Zur inter- und intragenerationalen Aushandlung von Erwartungen. Wallstein Verlag, Göttingen, S. 134 - 150.
Ohlbrecht, Heike; Schönberger, Christine (Hrsg.) (2010): Gesundheit als Familienaufgabe. Zum Verhältnis von Autonomie und staatlicher Intervention. Juventa, Weinheim und München.
Richter, Matthias; Hurrelmann, Klaus (2006): Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.
Schnabel, Peter-Ernst (1998): Krankheit und Sozialisation. Vergesellschaftung als pathogener Prozess. Westdeutscher Verlag, Opladen.
Schnabel, Peter-Ernst (2001): Familie und Gesundheit. Juventa, Weinheim und München.
Schnabel, Peter-Ernst (2010): Gesundheit(s)-Sozialisation in der Familie, In: Ohlbrecht, Heike; Schönberger, Christine (Hrsg.): Gesundheit als Familienaufgabe. Zum Verhältnis von Autonomie und staatlicher Intervention, Juventa, Weinheim und München, S. 25-46.