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09.03.2018

Gesundheitliche Chancengleichheit in Organisationen

Nadine Pieck, Hochschule Magdeburg-Stendal
Ronja Bölsch M. Sc., Hochschule Magdeburg-Stendal
Adeline Wissel B.A., Hochschule Magdeburg-Stendal

Schlagwörter:Betriebliche Gesundheitsförderung, Gender

Im Sommer 2015 wurde das Präventionsgesetz durch den Bun­des­tag verabschiedet. Das Ge­setz fordert u. a. ei­ne Verminderung geschlechtsbezogener Ungleichheiten von Gesundheitschancen (vgl. § 20 (1) SGB V). Damit erhält der Dis­kurs um ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit Ein­zug in die betriebliche Ge­sund­heits­för­de­rung. Organisationen sind nun angehalten diesen aufzugreifen und ei­ne adäquate Im­ple­men­tie­rung in den betrieblichen Kon­text zu ent­wi­ckeln.

Der Genderbegriff als Diversitykategorie:
Gender bezeichnet im Eng­li­schen das so­zi­ale Ge­schlecht. («Sex» hingegen weißt auf das biologische Ge­schlecht hin.) Was Frauen und Männer sind, wol­len, kön­nen und sollen, ist vor allem kul­tu­rell und so­zi­al geprägt. Sich an­ge­mes­sen als Frau oder Mann darzustellen bzw. zu verhalten, ist Teil des «doing gender». Ge­schlecht ist zu­gleich ei­ne Ordnungs- und Strukturkategorie von Gesellschaften. Soziale Prozesse beziehen sich auf die Un­ter­schei­dung der Ge­schlechter und er­zeu­gen zum Teil erhebliche Be­nach­tei­li­gung­en, et­wa durch ehe­mals den Aus­schluss von Frauen aus Berufen, Nachtarbeit etc. Diversity knüpft an solchen gesellschaftlichen Un­ter­schei­dungen und Prozessen so­wie an der Un­ter­schied­lich­keit von Individuen an und zielt da­rauf ab, Personengruppen zu in­te­grie­ren, die bis­her benachteiligt waren.

In der Pra­xis hat sich gezeigt, dass sich betriebliche Akteur*innen oft mit einer sachgerechten Um­set­zung ei­nes Genderansatzes schwertun. In der Regeln wird an­ge­nom­men, das eigene Vorgehen sei ge­schlechts­neu­tral: das eigenen Vorgehen, die Wahl der In­stru­ment und An­ge­bo­te gel­ten für al­le und wir­ken auch für al­le glei­cher­ma­ßen. Problematisch hierbei ist je­doch, dass diese Vorgehensweise den „männlichen Durchschnittsarbeitnehmer“ in den Mit­tel­punkt stellt. Pro­mi­nen­te Beispiele sind z.B. unterschiedliche Herzinfarktsymptome bei Frauen und Männern. Ein „neutraler“ An­satz erkennt Herzinfarkte bei Männer bes­ser als bei Frauen - mit fatalen Fol­gen für die rechtzeitige Versorgung. Folglich wer­den Risiken und Be­las­tung­en bei einem genderunsensiblen An­satz nicht für al­le Beschäftigtengruppen ad­äquat berücksichtigt und in­te­griert, so­dass z. B. entsprechende Schutzmaßnahmen in der Ge­stal­tung des Arbeitsschutzes und der betrieblichen Ge­sund­heits­för­de­rung keine Be­rück­sich­ti­gung fin­den1. Mit dem iga.Re­port Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit2 wird betrieblichen Akteur*innen ei­ne systematische Grund­la­ge geboten, mit deren Hilfe sie das The­ma Gender ins Gesundheitsmanagement in­te­grie­ren kön­nen. Durch die Dar­stel­lung mehrerer Fallbeispiele und wissenschaftlicher Grund­la­gen bietet der Re­port ei­nen umfassenden Ein­blick in Pra­xis und The­o­rie. Mit diesem Ar­ti­kel wird ein Ab­riss zu den Grund­la­gen des Re­ports ge­ge­ben und es wer­den folgende Fra­gen geklärt:

  • Wie kann Diversity mit dem Schwer­punkt Gender im betrieblichen Gesundheitsmanagement in­te­griert und umgesetzt wer­den?
  • Welche Schritte, Pha­sen und Prozesse braucht es, um das The­ma ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit in Organisationen ge­lun­gen zu in­te­grie­ren?

Als Ein­stieg in die The­ma­tik die­nen die rechtlichen Grund­la­gen.

Gleich­stel­lung als recht­lich vorgeschriebenes Ziel

Im § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) wird herausgestellt, dass Menschen auf­grund folgender Merkmale nicht benachteiligt wer­den dür­fen:

  • Rasse/ethnische Herkunft
  • Geschlecht
  • Religion und Weltanschauung
  • Behinderung
  • Alter
  • sexuelle Identität

Dabei unterscheidet das Ge­setz zwi­schen ei­ner un- und ei­ner mittelbaren Be­nach­tei­li­gung so­wie Be­läs­ti­gung. Eine unmittelbare Be­nach­tei­li­gung liegt vor, wenn et­wa Frauen von bestimmten Tä­tig­keit­en oder Leis­tung­en aus­ge­schlos­sen sind (Berufsverbote von Frauen). Um ei­ne mittelbare Be­nach­tei­li­gung handelt es sich, wenn schein­bar neutrale Verfahren und Re­ge­lung­en zu ei­ner Be­nach­tei­li­gung von Frauen oder Männern füh­ren. Etwa wenn Teilzeitkräfte von der Betriebsrente aus­ge­schlos­sen sind. Diese Re­ge­lung benachteiligt über­pro­por­ti­o­nal Frauen. Alle Formen sind ex­pli­zit durch das Ge­setz verboten und es gilt ein Gleichstellungsgebot.

De­fi­ni­ti­on Geschlechterkompetenz:
Kutzner3 versteht un­ter Geschlechterkompetenz „die Fä­hig­keit und die Mo­ti­va­ti­on […], Geschlechterzuschreibungen auf Grund­la­ge des Wissens über ih­re Ent­ste­hung und ih­re Aus­wir­kung­en auf gesellschaftliche Machtverhältnisse kri­tisch zu re­flek­tie­ren. Geschlechterkompetenz beinhaltet da­rü­ber hinaus die Fä­hig­keit, das eigene Handeln auf die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit auszurichten, und hat so­mit im­mer auch ei­ne persönliche und ei­ne politische Di­men­si­on. Wol­len, Wissen und Können sind dem­nach zentrale Ele­men­te ei­ner Geschlechterkompetenz“.

Prinzipien

Zur Herstellung von Chan­cen­gleich­heit gilt es, mit Blick auf mittelbare und unmittelbare Diskriminierung, bestehende Re­ge­lung­en, Strukturen und Verfahren da­rauf­hin zu prü­fen, ob sie im Er­geb­nis zu einer Be­nach­tei­li­gung von Frauen oder Männern füh­ren. Diese Verfahren und Strukturen sind ent­spre­chend zu verändern. Bestehende Be­nach­tei­li­gung­en - z. B. am Ar­beits­markt durch schlechte Vereinbarkeit von Be­ruf und Fa­mi­lie - dür­fen und sollen aktiv durch Fördermaßnahmen abgebaut wer­den. Dies dient dem Aus­gleich struk­tu­rell erzeugter Differenzen zwi­schen den Geschlechtern. Grundsätzlich sollte da­rauf geachtet wer­den Frauen und Männer nicht zu stereotypisieren, et­wa wenn an­ge­nom­men wird, Männer interessierten sich nicht für Ge­sund­heit oder Frauen seien be­son­ders kommunikativ. Also wenn im­pli­zit an­ge­nom­men wird, beobachtbare Unterschiede im Verhalten las­sen sich auf Eigenschaften von Personen zu­rück­füh­ren. Hilfreich ist es, stattdessen die jeweiligen Situationen zu un­ter­su­chen und wel­che Faktoren das jeweilige Verhalten be­ein­flus­sen.  Die Prinzipien Beteiligung und Empowerment sind auch für Gleichstellungsaspekte zen­tral. Im Diversity Ma­nage­ment ist es zen­tral, die unterschiedlichen Per­spek­ti­ven der jeweiligen Be­tei­lig­ten durch deren aktive Beteiligung einzubeziehen. So las­sen sich die verschiedenen Lebensrealitäten und ggf. unterschiedliche Aus­wir­kung­en geplanter Maß­nah­men an­ge­mes­sener ein­schät­zen und Zuschreibungen auf­grund der eigenen An­nah­men über Andere vermeiden. Projektgremien sollten da­her mög­lichst heterogen besetzt sein. Frauen und Männer sollten an­ge­mes­sen repräsentiert sein. Werden diese Prinzipien berücksichtigt und auch re­gel­mä­ßig reflektiert, wird die In­te­gra­ti­on von gesundheitlicher Chan­cen­gleich­heit im betrieblichen Kon­text er­leich­tert und nach­hal­tig gestärkt.

In­te­gra­ti­on von ge­sund­heit­licher Chan­cen­gleich­heit in die  Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on im Betrieb

Bei der Im­ple­men­tie­rung ei­nes Projektes für ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit sollten im ersten Schritt Gleichstellungsziele formuliert wer­den. Beispiele für mögliche For­mu­lie­rung­en sind in Abb. 1 aufgeführt. Hierbei kön­nen die Ziele nicht losgelöst von der Or­ga­ni­sa­ti­on und ihrer Unternehmenskultur betrachtet wer­den. Als hilfreich hat sich er­wie­sen an bestehende Wertorientierungen anzuknüpfen und herauszuarbeiten, wo ggf. betriebliche Praktiken, Strukturen und Ausdrucksformen in Kon­flikt zu den Gleichstellungszielen ge­ra­ten.

Um den Pro­jektverlauf wei­ter sys­te­ma­tisch fortzuführen, sollte ein regelbasiertes Vorge­hen er­fol­gen. Das Grundmodell des regelkreisförmigen Vorge­hens ist der PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act). In diesem sind ei­ne sys­te­ma­tisch und fach­lich fundierte Pla­nung  und  der Abgleich des erreichten Er­geb­nisses mit den Er­war­tung­en und Zielen vorgesehen. Entsprechende An­pas­sung­en wer­den vorgenommen, wenn das Er­geb­nis nicht zufriedenstellend ist. Das Vorge­hen gibt dem Pro­jekt ei­ne entsprechende Struk­tur, die von den Pro­jektakteur*innen in­halt­lich wie z.B. durch die For­mu­lie­rung von Gleichstellungszielen und der Ana­ly­se der bestehenden Struk­turen in der Or­ga­ni­sa­ti­on untermauert wer­den müs­sen. Eine entscheidende Fä­hig­keit ist hierbei die Geschlechterkompetenz, um das fach­lich fundierte Kon­zept er­ar­bei­ten zu kön­nen, wel­ches auf ei­nem begründeten, theoriebasierten Vorge­hen beruht. Die Herausforderung besteht da­rin, meh­re­re Disziplinen und thematische Erkenntnisgebiete sinn­voll mit­ei­nan­der zu verknüpfen. Ein zentraler in­halt­licher An­satz­punkt für ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit im Be­trieb ist die Ge­stal­tung von Ar­beit. Unter Gender-Aspekten gilt es hier, so­wohl die Erwerbsarbeit als auch die unentgeltliche Sorgearbeit in der Fa­mi­lie in den Blick zu neh­men. Mit den jeweiligen Tä­tig­keit­en ge­hen unterschiedliche Be­las­tung­en und Res­sour­cen einher. Diese sollten im Zu­sam­men­spiel gesundheitsförderlich gestaltet wer­den.

Für ei­ne ganzheitliche Ana­ly­se empfiehlt es sich, die konkreten Belastungs- und Res­sour­cenkonstellationen der Be­trof­fe­nen in Be­ruf und Fa­mi­lie in den Blick zu neh­men, um der bestehenden ungleichen Aufgabenverteilung zwi­schen Frauen und Männern ge­recht zu wer­den. Dazu sind in der Ana­ly­se und Maßnahmenentwicklung die je­weils Be­trof­fe­nen zu be­tei­li­gen - z.B. in moderierten Workshops. Phasenweise kön­nen hier homogene Grup­pen die Problematiken aus ihrer Per­spek­ti­ve er­ar­bei­ten. Die verschieden Per­spek­ti­ven sollten im Pro­zess je­doch in ei­nem moderierten Verfahren wie­der zusammengebracht wer­den. Alle Beteiligtengruppen sollen Be­ach­tung fin­den und ge­mein­sam in den Aus­tausch kom­men.
Zu der Eva­lu­a­ti­on der Er­geb­nisse ist abschließend zu sa­gen, dass sich an die­ser Stel­le zeigt, ob das Pro­jekt auf ei­nem soliden Kon­zept basiert. Sind in den ersten Schritten kei­ne entsprechenden For­mu­lie­rung­en von (Gleichstellungs-)Zielen erfolgt, wird es den Akteur*innen schwer fallen, ihr Pro­jekt an­ge­mes­sen zu eva­lu­ie­ren.

Fazit

Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit lässt sich im Be­trieb durch ein systematisches und beteiligungsorientiertes Vorgehen verbessern. Die Gesundheitsziele im Unternehmen auch mit Blick auf Chan­cen­gleich­heit zu for­mu­lie­ren und zu verfolgen, unterstützt die An­er­ken­nung und Wert­schät­zung des Einzelnen und auf lange Sicht ei­ne gerechte Verteilung von Be­las­tung­en und Res­sour­cen zwi­schen Frauen und Männern und so­mit ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit auf der Ebe­ne der Unternehmen.

Quellen:

Dobusch, L. (2015). Diversity (Ma­nage­ment)-Diskurse in Deutsch­land und Ös­ter­reich: Zwischen organisationaler Kontingenz und Sagbarkeitsspielräumen. In E. Egger & R. Bendl (Hrsg.), Di­ver­si­tät, Diversizierung und (Ent-)So­li­da­ri­sie­rung (S. 55-72). Wies­ba­den: Sprin­ger Fachmedien. doi: 10.1007/978- 3-658-08606-0_3.

Knapp, G.-A. (2011). Gleich­heit, Dif­fe­renz, Dekonstruktion und Intersektionalität: Vom Nutzen theoretischer Ansätze der Frauen- und Ge­schlechterforschung für die gleichstellungspolitische Pra­xis. In G. Krell, R. Ort­lieb & B. Sieben (Hrsg.), Chan­cen­gleich­heit durch Per­so­nal­po­li­tik (S. 71-84). Wies­ba­den: Gab­ler. doi:10.1007/978-3-8349-6838-8_6.

Kutzner, E. (2014). Zum Um­gang mit Vielfalt in Organisationen - Innovationsprozesse jen­seits traditionellen Ma­nage­ments. In M. Jostmeier, A. Ge­org & H. Jacobsen (Hrsg.), Sozialen Wan­del ge­stal­ten (S. 397-413). Wies­ba­den: VS Verlag für So­zi­al­wis­sen­schaf­ten. doi:10.1007/978-3-531-19298-7_27.

3 Kutzner, E. (2017). Ar­beit und Ge­schlecht. Die Ge­schlechter- perspektive in der Aus­ei­nan­der­set­zung mit Ar­beit - aktuelle Fra­gen und Herausforderungen. Forschungsförderung Working Pa­per Nr. 30. Düs­sel­dorf: Hans-Böckler-Stiftung.

Lorber, J. (1999). Gender-Paradoxien. Wies­ba­den: VS Verlag für So­zi­al­wis­sen­schaf­ten. doi:10.1007/978-3-663-01483-6.

1 Pieck, N., Schinkovits, G. & Braun, A. (2017). Von der Handlungshilfe zur Um­set­zung - Gender
Mainstreaming im Ar­beite und Ge­sund­heits­schutz. In Braun, A., Kutzner, E., Pieck, N. & Schröder
(Hrsg.), Ar­beit und Ge­sund­heit - Stand­ort­be­stim­mung­en & Per­spek­ti­ven (S. 106-119). Mün­chen: Rai­ner Camp Verlag.

2 Pieck, N. (2017). iga.Re­port 35. Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit im Be­trieb: Schwer­punkt Gender. Dres­den: iga.

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