02.04.2012
Gesundheitliche Lage der Gefangenen in Deutschland
Mehrteilige Reihe: Gesundheitsförderung in Justizvollzugsanstalten, Teil 1
Heino Stöver, Fachhochschule Frankfurt, Institut für Suchtforschung
Schlagwörter:Gesundheitsversorgung, Inhaftierung, Kommentar, Prävention, Setting, Ärzt*innen
Die Gesundheitsrisiken in Justizvollzugsanstalten sind andere als außerhalb der Einrichtungen. Überproportional viele Infektionserkrankungen und ein hohes Suchtpotenzial lassen sich bei den Insassen finden. Dass die Umsetzung einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung für Inhaftierte gelingen kann, zeigt das kürzlich als Good Practice-Beispiel ausgezeichnete Projekt SPRINT. Gesundheitsfördernde Justizvollzugsanstalten können einen wesentlichen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit leisten.
Welche Probleme sich in Justizvollzugsanstalten zeigen und was im Hinblick der Etablierung gesundheitsfördernder Strukturen in Justizvollzugsanstalten getan werden muss, zeigt die fünfteilige Artikelserie von Prof. Dr. Heino Stöver (Fachhochschule Frankfurt am Main) zum Thema „Gesundheitsförderung in Haft“. Die einzelnen Teile der Serie erscheinen im zweiwöchentlichen Rhythmus.
Gesundheitliche Lage der Gefangenen in Deutschland
Über die gesundheitliche Lage von Menschen in Deutschlands Haftanstalten existieren (außer ansatzweise in Baden-Württemberg, siehe Meissner 2011) keine zusammenfassenden Erkenntnisse - lediglich über Teilbereiche liegen vereinzelte Informationen vor (vgl. Lehmann 2010, S. 205). Auch unabhängige Berichte, wie bspw. die des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) können während ihrer Besuche nur Teilbereiche beleuchten, die allerdings von großer Bedeutung sind (vgl. CPT 2005; Bundesregierung 2005). Dieses Defizit resultiert daraus, dass es im Strafvollzug keine systematisierende Forschung und Dokumentation zur gesundheitlichen Lage der Gefangenen (etwa im Rahmen einer umfassenden Gesundheitsberichterstattung oder eines Gesundheitssurveys) existiert, die ggf. noch bundesländerübergreifende Sichtweisen und Vergleiche einbezieht, und die zur Planungssicherheit von Gesundheitsversorgung genutzt werden könnte (wie etwa in der Schweiz: Koller u. a., oder beispielhaft für Australien: Butler/Milner 2003).
Insbesondere an Längsschnittstudien zur Erfassung von gesundheitlichen Veränderungsprozessen während der und durch die Haft mangelt es, obwohl die Institution Strafvollzug einen weitgehend konstanten Zugang zu den Forschungssubjekten über längere Zeiteinheiten und Messzeitpunkte gewährleisten könnte. Naheliegend wäre etwa eine Erforschung der Zusammenhänge von Gesundheitsrisiken und Mehrfachbelegungen der Hafträume. Zahlenmäßig erfasst werden nur außergewöhnliche Vorfälle: Mortalität, Suizidalität, und bestimmte meldepflichtige Krankheiten. Aufgrund dieses fehlenden systematisierten Überblicks über die gesundheitliche Lage der Gefangenen (aber auch über die der Bediensteten, z. B. ihr Krankenstand; siehe Ombudsmann 2010) erwächst der Eindruck fehlender Vergleichbarkeit mit der ‚Normalbevölkerung‘, hoher Intransparenz und Unklarheit über gesundheitliche Versorgungspotenziale, -qualitäten und -notwendigkeiten. Insbesondere ist hier zu nennen die Kooperation mit Gesundheitsdiensten in Freiheit (z. B. Beginn und Fortführung von Therapien, wie z. B. HIV-/Hepatitis- und Substitutionstherapien), denn je eher die Behandlung einer Krankheit beginnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit ihrer Heilung.
Oftmals wird ein Gefangener dem Arzt erst dann vorgestellt, wenn er vorher den zuständigen Bediensteten von der Notwendigkeit seines Anliegens überzeugt hat. Der Arzt wird regelmäßig dann hinzugezogen, wenn die Anstalt für den Betroffenen unangenehme Sicherungs- oder Disziplinarmaßnahmen durchführen will (§§ 21 S. 1, 91 Abs. 2, 92, 106 Abs. 2 S. 2, 107 Abs. 1). Solche Erfahrungen können dazu führen, dass der Gefangene den Arzt verstärkt als Interessenvertreter der Vollzugsbehörde ansieht. Andererseits ist der Arzt hinsichtlich medizinischer Fragen autonom, seine Autorität leitet sich aus seinem Beruf ab und nicht aus der Position in der Personalhierarchie.
Der Patient erwartet vom Arzt unmittelbare Hilfe, da er in der Regel einem naturwissenschaftlichen Verständnis der Symptomatik verhaftet ist. Diese symptomorientierte Therapieerwartung wird vom Allgemeinmediziner in Freiheit oftmals befriedigt. Auch die Verschreibung von Psychopharmaka, (hier v. a. Tranquilizer der Benzodiazepin-Gruppe) findet in Freiheit eine weite Verbreitung. Inwieweit dies auch allgemeine Praxis innerhalb der Vollzugseinrichtungen ist, lässt sich aufgrund fehlenden Datenmaterials nicht sagen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Mittel häufig Gegenstände von Verhandlungen zwischen Patient und Arzt bilden. Nicht-medikamentengestützte Behandlungsformen im Vollzug (wie mehr und zielgerichtetere Bewegung, insgesamt gesündere Ernährung, Einschränkung des Rauchens) besitzen oftmals nur appellativen Charakter, weil viele dieser Bereiche entweder fremdbestimmt, nicht zugänglich oder unter Vollzugsbedingungen unrealistisch sind (z. B. völlige Aufgabe des Drogenkonsums). Die Folge dieser Bedingungen ist Verstärkung des Misstrauens, der Angst und ein negatives Image der Gesundheitsfürsorge.
Literatur
- Bundesregierung (2005): Stellungnahme der Bundesregierung zu den Empfehlungen, Kommentaren und Auskunftsersuchen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) anlässlich seines Besuchs vom 20. November bis 2. Dezember 2005.
- Butler T, Milner L. 2001 Inmate Health Survey. (2003) Corrections Health Service. ISBN 073473560-X. Corrections Health Service. Sydney.
- CPT (2005): Bericht an die Deutsche Regierung über den Besuch des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe in Deutschland (CPT) vom 20. November bis 2. Dezember 2005.
- Konrad, N. (2009): Psychiatrie. In: Keppler, K., Stöver, H. (Hrsg.): Gefängnismedizin. Medizinische Versorgung unter Haftbedingungen. Stuttgart: Thieme, S. 208-222.
- Lehmann, M. (2010): Medizinische Dokumentation im deutschen Justizvollzug. Bögemann, H.; Keppler, K.; Stöver, H. (Hrsg.; 2010): Gesundheit im Gefängnis. Ansätze und Erfahrungen mit Gesundheitsförderung in totalen Institutionen. Weinheim: Juventa Verlag, S. 205-210.
- Meissner, K. (2011): Gesundheitsberichterstattung in Baden-Württemberg. In: akzept et al. (Hrsg.): Fünfte Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft, Dokumentation der Konferenz in Hamburg, September 2010, Berlin (www.gesundinhaft.eu).
- Ombudsmann für den Justizvollzug Nordrhein-Westfalen (2009): Jahresbericht 2009/2010, www.justizvollzugsbeauftragter.nrw.de/service/Infomaterial/Taetigkeitsbericht_2010.pdf, letztmalig aufgerufen am 28.4.2011.