29.02.2012
Gesundheitsfördernde Stadtteilentwicklung: Mehr Gesundheit im Quartier
Leseprobe aus dem Handbuch Stadtplanung und Gesundheit
Christa Böhme, Difu - Deutsches Institut für Urbanistik
Bettina Reimann, Difu - Deutsches Institut für Urbanistik
Schlagwörter:Setting, Sozialraum, Stadtentwicklung
Das Handbuch Stadtplanung und Gesundheit wird zum 17. Kongress Armut und Gesundheit im Hans Huber Verlag erscheinen und kann während des Kongresses vor Ort erworben werden. Hier können Sie sich den ersten Eindruck über den Inhalt des Bandes verschaffen (PDF-Dokument, 88 KB).
Das Handbuch präsentiert die Sicht verschiedener Disziplinen auf die Zusammenhänge von Stadtplanung und Gesundheit. Hierbei werden sowohl einzelne Schwerpunktthemen aufgegriffen als auch Strategien und Instrumente für Stadtplanung und Gesundheitsförderung dargestellt. Die Autorinnen und Autoren des Buches weisen sich entweder durch wissenschaftliche oder durch praxisbezogene Expertise aus. Ihre Erkenntnisse tragen zu einer Stadtplanung bei, die zukünftig verstärkt die Gesundheit der Bürger zum Ziel hat, und stimulieren Forschung und Erkenntnisgewinn auf dem Gebiet der Gesundheitsrelevanz von stadtplanerischen Entscheidungen.
Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus dem Aufsatz "Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung: Mehr Gesundheit im Quartier", der in dem Handbuch Stadtplanung und Gesundheit veröffentlicht wird. Den vollständigen Aufsatz können Sie hier als PDF-Dokument (129 KB) herunterladen.
Sozialräumliche Segregation und gesundheitliche Ungleichheit in unseren Städten
Kleinräumige Segregation führt seit den 1990er Jahren in vielen deutschen Städten zu selektiven Auf- und Abwertungen von Wohngebieten und damit zur Herausbildung benachteiligter Stadtteile, die im Vergleich zur Gesamtstadt besonders komplexe soziale, ökonomische, infrastrukturelle und bauliche Problemlagen aufweisen. In diesen Quartieren leben in der Regel überdurchschnittlich viele sozioökonomisch benachteiligte und arme Haushalte: Arbeitslose, Migranten, Alleinerziehende, kinderreiche Familien.
Die sozioökonomischen Benachteiligungen der Quartiersbevölkerung gehen einher mit gesundheitlichen Problemen. Denn Armut stellt ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar: Menschen mit geringem Einkommen, niedriger beruflicher Stellung oder Bildung, sterben in der Regel früher und leiden zudem häufiger an gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Richter/Hurrelmann 2006, S. 11). Dieser Befund sozialbedingter gesundheitlicher Ungleichheiten ist durch Ergebnisse der Gesundheitsberichterstattung des Bundes und des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys 2003-2006 (RKI 2010; RKI 2006, S. 83ff.) erneut bestätigt worden:
- Krankheitsleiden wie Schlaganfall, chronische Bronchitis, Schwindel, Rückenschmerzen und Depressionen werden durch eine sozial benachteiligte Lage begünstigt.
- Knapp 50 Prozent der 20- bis 59-jährigen Arbeitslosen leiden unter gesundheitlichen Beschwerden, bei den Erwerbstätigen der gleichen Altersgruppe sind es rund 30 Prozent.
- Alleinerziehende Mütter leiden vermehrt unter Bronchitis, Leber- und Nierenleiden sowie psychischen Erkrankungen.
- Essstörungen kommen bei 11- bis 17-Jährigen in der unteren Sozialschicht und in der Hauptschule fast doppelt so häufig vor wie in der oberen Sozialschicht bzw. im Gymnasium.
- Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus und Migrationshintergrund üben zwei- bis dreimal seltener Sport in oder außerhalb eines Vereins aus.
Dabei sind neben sozialbedingten Gesundheitsproblemen (ungesunde Ernährung, Bewegungsarmut, starker Alkoholkonsum, Vernachlässigung von Kindern u.a.) in benachteiligten Stadtteilen auch vermehrt umweltbedingte Gesundheitsrisiken und -belastungen festzustellen. Hierzu zählen ein hohes Verkehrsaufkommen und damit verbundene erhöhte Lärm- und Schadstoffemissionen sowie Unfallrisiken. Aber auch quantitative und qualitative Defizite in der Grün- und Freiflächenausstattung verschlechtern in vielen benachteiligten Quartieren die gesundheitliche Lage, da sie mit einem Mangel an Erholungs-, Spiel- und Bewegungsflächen, an Aufenthalts- und Treffmöglichkeiten sowie einem ungünstigen Mikroklima einhergehen.
Angesichts des Zusammenhangs zwischen Armut und Gesundheit und der hieraus resultierenden Konzentration entsprechender Probleme in benachteiligten Stadtteilen muss die Förderung der Gesundheit in benachteiligten Quartieren ein zentrales Handlungsfeld der Stadtteilentwicklung sein.
Der Stadtteil - eine besondere Herausforderung und Chance für die Gesundheitsförderung
Allerdings birgt das Setting Stadtteil - im Vergleich zu anderen Settings wie Kita, Schule oder Betrieb - einige besondere Herausforderungen, die die Umsetzung gesundheitsfördernder Strategien in benachteiligten Quartieren erschweren können (vgl. Reimann et al. 2010; Bär et al. 2009a; Bär et al. 2004):
- Der Stadtteil ist keine Organisationseinheit, sondern eine räumliche Einheit von ganz unterschiedlicher Größe.
- Innerhalb des Stadtteils überlagern sich häufig unterschiedliche Zuschnitte von Schulbezirken, Fördergebieten, politischen Zuständigkeitsbereichen, Wahlkreisen und statistischen Gebieten.
- Jeder Stadtteil hat seine eigene komplexe Ausgangs- und Problemlage, die auf die Gesundheit seiner Bewohnerschaft Einfluss nimmt.
- Im Vergleich zu anderen Settings wie Kita, Schule oder Betrieb ist der Stadtteil vor allem hinsichtlich des Akteursspektrums und der Kooperationsstrukturen vielschichtiger.
- Der Stadtteil ist gegenüber anderen Settings heterogener, zum Teil diffuser; Strukturen, Verantwortlichkeiten und Angebote im Stadtteil sind vielfältig, nicht immer bekannt bzw. manchmal nicht klar definiert.
Gleichzeitig bietet der Stadtteil aber trotz oder zum Teil gerade wegen seiner Komplexität erhebliche Chancen für die Gesundheitsförderung, denn die kommunale Lebenswelt ist von hoher gesundheitlicher Relevanz für die dort lebenden Menschen: Jüngere Untersuchungen belegen, dass das Wohnquartier als eigenständiger Einflussfaktor auf die Gesundheit wirkt (Bertelsmann Stiftung 2010). Zugleich können die Menschen im Wohnquartier in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen erreicht werden (GKV-Spitzenverband 2010, S. 31ff.). Der Setting-Ansatz kann daher in benachteiligten Stadtteilen auf vielfältige Weise dazu beitragen, sozialraumorientiert und soziallagenbezogen die gesundheitliche Lage zu verbessern:
- Insbesondere stärkt er die Gesundheitsförderung bei Zielgruppen, die über die traditionellen Settings (Kita, Schule, Betrieb) in der Regel nicht erreicht werden. Denn durch die quartiersbezogene und damit organisationsunspezifische Herangehensweise können „vergessene Zielgruppen“ (Altgeld/Leykamm 2003) in den Blick genommen werden, die sonst gar nicht oder kaum zu erreichen sind. Hierzu zählen insbesondere Arbeitslose und ältere Menschen.
- Zudem kann der Stadtteil für die Quartiersbewohner und damit auch für Menschen aus prekären Verhältnissen stabilisierend wirken, insbesondere dann, wenn es durch Maßnahmen im Bereich der (gesundheitsfördernden) Stadtteilentwicklung gelingt, das Wohnumfeld mit seinen Grün- und Freiflächen sowie (halb-)öffentlichen Räumen derart zu gestalten, dass es soziale Kontakte, Bewegung und sportliche Betätigung befördert.
- Schließlich ist es im Setting Stadtteil möglich, die verschiedenen Teilsettings im Gebiet, insbesondere Schulen, Kitas und Betriebe, zu koordinieren und ihre Aktivitäten im Sinne einer Präventionskette aufeinander abzustimmen. Auf diese Weise befördern die aktiven Teilsettings im Stadtteil nicht nur die Gesundheit in ihrer Organisation, sondern qualifizieren gleichzeitig die übergreifende Setting-Arbeit im Stadtteil.
Wegen der besonderen Herausforderungen, aber auch wegen der vielfältigen Chancen, die mit dem quartiersbezogenen Setting-Ansatz verbunden sind, erscheint die Orientierung an erprobten und bewährten Qualitätsstandards sinnvoll, wenn Gesundheitsförderung im Stadtteil nachhaltig und ressourcensensibel verankert werden soll.