03.09.2012
Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen
Erste Schritte der bedarfsorientierten Projektgestaltung
Julia Waldhauer, bis Mitte 2015: Gesundheit Berlin-Brandenburg
Maike Rühl, bis Ende Februar 2014: Gesundheit Berlin-Brandenburg
Schlagwörter:Erwerbslosigkeit, Gesundheitsbewusstsein, Soziallage
Der Integrationsverein ESTAruppin aus dem Raum Neuruppin möchte sich in Kooperation mit dem Regionalen Knoten Brandenburg perspektivisch der Entwicklung eines Projektes annehmen, das die Gesundheitsförderung Erwerbsloser fokussiert.
Soll die Entwicklung einer Maßnahme bedarfsgerecht und an den Lebenslagen erwerbsloser Menschen orientiert sein, ist zu allererst eines erforderlich: Kenntnisse über jene Bedarfe und Lebenslagen zu erlangen.
Im Herbst des vergangenen Jahres hat der Regionale Knoten daher in den brandenburgischen Kommunen Neuruppin und Lübbenau Erwerbslose bzw. MAE-Kräfte1 zu deren Lebenssituation, Perspektiven und Einschätzung zu Angeboten der Gesundheits- und Arbeitsförderung befragt. Ergänzt werden die Ergebnisse dieser Befragung durch Aussagen von Expertinnen und Experten, welche im selben Zeitraum interviewt wurden. Hierbei handelt es sich um Mitarbeiter/innen von ESTAruppin, die vor dem Hintergrund ihrer Arbeit mit Erwerbslosen einen dezidierten Einblick in deren Belange aufweisen.
Die im Rahmen der Fokusgruppen und Expert/inneninterviews gewonnen Aussagen wurden methodisch aufbereitet. Den zweiten Schritt stellten die gemeinsame Reflexion der Ergebnisse mit einer Vertreterin von ESTAruppin sowie die anschließende Verdichtung zu Erkenntnissen dar, die sich in zwei Schwerpunkten abbilden lassen:
1. Belastungen und Bedarfe von Erwerbslosen
- Es herrschen multiple Alltagsbelastungen, begleitet von Defizitgefühlen, Angst vor Stigmatisierung und Ausgeliefertsein.
- Gesundheitliche Belastungen sind insbesondere psychosozialer Art; eine als grundlegend empfundene Perspektivlosigkeit entmutigt, macht antriebslos und führt zu sozialem Rückzug. Allgemein ist das Wohlbefinden diffus beeinträchtigt. Daneben treten Rückenbeschwerden auf. Das Gesundheitsbewusstsein auf Seiten der befragten Erwerbslosen ist gering ausgeprägt.
- Es bedarf einer Kommunikation auf Augenhöhe, authentischer Chancen auf dem Arbeitsmarkt sowie klarer personeller wie institutioneller Strukturen.
2. Gestaltung von Maßnahmen
- Gesundheit ist im Kontext der Arbeitsförderung als Thema schwierig zu platzieren. Angebote, die sich explizit auf Gesundheit beziehen, werden bislang missverstanden oder als diskriminierend abgelehnt.
- Motivation und Kommunikation sind die zentralen Schaltstellen, an denen das Wirken von Fachkräften in der Arbeit mit Erwerbslosen ansetzen kann.
- Kontinuität und Institutionen übergreifende Kooperation in der Vermittlung und Förderung von Erwerbslosen sowie die Nachbetreuung von MAE-Kräften sind bisher unzureichend. Die Nachhaltigkeit von Maßnahmen der Arbeitsförderung wird hinterfragt.
Es besteht offenbar ein Handlungsspielraum, den es noch auszufüllen gilt. Ein wichtiger Gesichtspunkt wird sein, Fachkräfte im Bereich der Arbeitsförderung, auf Seiten der Kommune und bei Trägern von Maßnahmen verstärkt für die gesundheitlichen Belastungen und spezifischen Belange von Erwerbslosen ihrer Region zu sensibilisieren. Als Professionelle stehen sie in verschiedenen Arbeitsfeldern in direktem Kontakt zu Erwerbslosen und können als Schlüsselpersonen fungieren. Gleichsam tragen sie die Verantwortung beispielsweise für gelingende Kooperationen an Schnittstellen.
Nach Meinung der befragten Expert/innen und entsprechend der Diskussion der Untersuchungserkenntnisse sollten in diesem Kontext neben den oben genannten auch folgende Aspekte erörtert werden:
- Grundlegend fehlt es den Menschen an Arbeit - muss sich das Verhalten oder müssen sich die Verhältnisse ändern?
- Gesundheitsbegriff - in welchem Verhältnis stehen öffentliches Interesse und Privatsphäre?
- Vorherrschen einer Defizit- statt Ressourcenorientierung gegenüber Erwerbslosen - wie kann ein Umdenken angestoßen werden?
- Vorurteile und sprachliche Distanz - wie kann die Kommunikation auf beiden Seiten verändert und wertschätzend werden? Wie gestaltet sich vorurteilsbewusstes Arbeiten?
ESTAruppin und der Regionalen Knoten Brandenburg setzen sich angesichts der hier verdeutlichten Handlungspotenziale eine vertiefte Zusammenarbeit zum Ziel. In Kürze wird eine Fachrunde in Neuruppin initiiert, um die gewonnenen Erkenntnisse weiteren Verantwortlichen aus der Kommune und der Arbeitsförderung vorzustellen.
Der kontinuierliche Austausch mit den Institutionen und eine spezifizierte Befragung der erwerbslosen Personen vor Ort sollen längerfristig aufzeigen, wie das angedachte Projekt zur Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen unter Beachtung derer Bedarfe und kommunaler Begebenheiten konkret gestaltet werden kann.
1 MAE = [zusätzlich und im öffentlichen Interesse stehende Arbeitsgelegenheit mit] Mehraufwandsentschädigung, umgangssprachlich auch „Ein-Euro-Job“, für Bezieher des Arbeitslosengeldes II.