Zum Hauptinhalt springen
Logo vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit und Site-Slogan: Aktiv für Gesundheit und Chancengleichheit (Link zur Startseite)

28.06.2012

Gesundheitsförderung für alle?

Antwort der Bundesregierung auf die "Kleine Anfrage" der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Antje Richter-Kornweitz, ehem. Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V.

Schlagwörter:Erwerbslosigkeit, Kommentar, Prävention

Wie steht es um die ge­sund­heit­liche Si­tu­a­ti­on von Ar­beits­lo­sen? Inwieweit wer­den sie von Angeboten zur Ge­sund­heits­för­de­rung erreicht? Welche Maß­nah­men gibt es, um die Si­tu­a­ti­on zu verbessern?

Dies sind ei­ni­ge der Fra­gen, de­nen sich die Bun­des­re­gie­rung auf ei­ne „Klei­ne An­fra­ge“ der Ab­ge­ord­ne­ten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hin stellte.

Die gesundheitliche Situation Arbeitsloser

Einig sind sich die Bun­des­re­gie­rung und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN da­rin, dass die ge­sund­heit­liche Si­tu­a­ti­on arbeitsloser Menschen ein gravierendes Problem darstellt, das bearbeitet wer­den muss. Auch bestätigt die Bun­des­re­gie­rung, dass chronische Er­kran­kung­en und ge­sund­heit­liche Ein­schrän­kung­en bei Ar­beits­lo­sen häufiger als bei Er­werbs­lo­sen auf­tre­ten und dass Ar­beits­lo­se deut­lich häufiger und länger arbeitsunfähig sind als al­le anderen Versichertengruppen:

  • Ar­beits­lo­se Frauen sind mit 22,8 Tagen deut­lich länger arbeitsunfähig als weibliche Er­werbs­tä­ti­ge mit 12,4 Tagen.
  • Ar­beits­lo­se Männer sind mit 19,5 Tagen eben­falls deut­lich länger arbeitsunfähig als männliche Er­werbs­tä­ti­ge mit 9,7 Tagen.

Ar­beits­lo­se sind im Vergleich zu Er­werbs­tä­ti­gen häufiger von Depressionen und Schlafproblemen be­trof­fen, haben ein verringertes psychisches Wohl­be­fin­den und ma­chen sich häufiger Sor­gen um die eigene wirtschaftliche La­ge. Insgesamt neh­men Be­ein­träch­ti­gung­en der körperlichen Ge­sund­heit und des seelischen Befindens mit Dau­er der Ar­beits­lo­sig­keit suk­zes­si­ve zu, was die gesundheitsbelastende Wir­kung von Ar­beits­lo­sig­keit mehr als deut­lich be­legt. Verschärfend kommt hinzu, dass in Deutsch­land der An­teil Langzeiterwerbsloser an den Ar­beits­lo­sen mit 47,3 Pro­zent be­son­ders hoch ist und so­gar über dem EU-Durchschnitt von 42 Pro­zent liegt. Ein Groß­teil die­ser Lang­zeit­ar­beits­lo­sen weist ver­mitt­lungs­re­le­van­te ge­sund­heit­liche Ein­schrän­kung­en auf.

Positive Ansätze aus Sicht der Bundesregierung

Die Bun­des­re­gie­rung verweist in ihrer Ant­wort auf die vielen be­reits bestehenden Maß­nah­men und Prog­ram­me, die die Verbesserung der gesundheitlichen Si­tu­a­ti­on zum Ziel haben. Insbesondere wer­den positive Evaluationsergebnisse aus den bun­des­weit bekannten Programmen AmigA und JobFit wie­der­ge­ge­ben. Positive Impulse ge­hen in diesem Handlungsfeld laut Bun­des­re­gie­rung auch vom Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bund „Ge­sund­heits­för­de­rung bei so­zi­al Be­nach­tei­lig­ten“ und von der Praxisdatenbank auf www.gesundheitliche-chancengleichheit.de aus, die einen Über­blick über An­ge­bo­te und Maß­nah­men der so­zi­al­la­gen­be­zo­ge­nen Ge­sund­heits­för­de­rung liefert, die (un­ter anderem) auf die Ziel­grup­pe der Ar­beits­lo­sen gerichtet sind.

Nach An­sicht der Bun­des­re­gie­rung wer­den im Eck­punk­te­pa­pier „Ge­mein­sam han­deln“ des Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bun­des (PDF-Dokument, 442 KB), das von der BZgA und der Bundesagentur für Ar­beit mit erarbeitet wurde, ei­ni­ge wichtige Impulse und An­re­gung­en ge­ge­ben. Die im Ap­ril 2012 von der Bundesagentur für Ar­beit mit dem GKV-Spit­zen­ver­band und den Verbänden der Kran­ken­kas­sen beschlossene „Emp­feh­lung zur Zu­sam­men­ar­beit“ (PDF-Dokument, 23,9 KB) sieht die Bun­des­re­gie­rung eben­so wie die Dachkampagne der Bundesagentur „Ge­sund­heits­orien­tie­rung zur För­de­rung der Beschäftigungsfähigkeit“ als ge­eig­ne­te Steu­erungs­mög­lich­kei­ten zur Ge­sund­heits­för­de­rung bei Ar­beits­lo­sen an.

Blinde Flecken und mehr

In ihrer Ant­wort kann die Bun­des­re­gie­rung zwar de­tail­reich auf mögliche pri­mär­prä­ventive An­ge­bo­te und Maß­nah­men verweisen, die auch von Ar­beits­lo­sen in An­spruch genommen wer­den könn­ten. Sie kann aber auf­grund der mangelnden Datengrundlage kei­ne Aus­sa­gen über die An­zahl der Ar­beits­lo­sen ma­chen, die von Prä­ven­tions­maßnahmen tat­säch­lich erreicht wer­den. Bestätigen kann sie le­dig­lich auf Ba­sis ei­ner gemeinsamen Veröffentlichung des Ro­bert Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2006 (!), dass die In­an­spruch­nah­me der pri­mär­prä­ven­ti­ven Kursangebote durch Ar­beits­lo­se im Vergleich zu be­schäf­ti­gen Versicherten un­ter­durch­schnitt­lich ist. Sie muss da­rü­ber hinaus kon­sta­tie­ren, dass diese Ziel­grup­pe auch in der settingorientierten Ge­sund­heits­för­de­rung durch gesetzliche Kran­ken­kas­sen nach §20 SGB V weit­ge­hend vernachlässigt wird. Nur 4 Pro­zent der GKV-An­ge­bo­te rich­ten sich an Ar­beits­lo­se. Zieht man in Betracht, dass Ar­beits­lo­se ins­be­son­de­re in ihrer Lebenswelt, das heißt in Stadt­teil und Quar­tier erreicht wer­den könnten, zeigt sich auch hier die Vernachlässigung: Nur 14 Pro­zent der gelisteten An­ge­bo­te im Stadt­teil bzw. Ort be­nen­nen Ar­beits­lo­se als Ziel­grup­pe. Nur in 31 Projekten der Kran­ken­kas­sen in nichtbetrieblichen Settings wurden Ar­beits­lo­se als spezielle Ziel­grup­pe adressiert! Da sich diesbezügliche Aktivitäten meist in Ge­sund­heits­för­de­rungsprojekten auf kommunaler Ebe­ne fin­den und wir in Deutsch­land mehr als 11.500 Gebietskörperschaften kommunalen Typs haben, erübrigt sich hier tat­säch­lich ei­ne gesamtgesellschaftliche Be­wer­tung der An­stren­gung­en (was die An­er­ken­nung für die gelungene Ar­beit in den 31 Projekten auf kei­nen Fall schmä­lern soll!).

Wer im Text konkretere Hinweise zu Umsetzungsstrategien bei­spiels­wei­se zu den genannten Eck­punk­ten „Gemeinsam handeln“ und der Kooperationsvereinbarung sucht, wird eben­falls enttäuscht.

Trotzdem gibt sich die Bun­des­re­gie­rung zu­frie­den mit den bis­her gesetzten Impulsen und verweist op­ti­mis­tisch auf ei­ne zukünftige Verbesserung der Si­tu­a­ti­on durch zwei be­reits häufiger erwähnte große Unbekannte: a) das Präventionsgesetz und b) den demografischen Wan­del.

Unübersichtlichkeit bietet genug Möglichkeiten, nichts zu tun

Schnell wird deut­lich, dass hier zum ei­nen ei­ne neue Form der alten Un­über­sicht­lich­keit vorliegt. Sätze wie „statistische An­ga­ben über entsprechende An­ge­bo­te lie­gen man­gels Er­fas­sung nicht vor“ sind der kennzeichnende Te­nor die­ser Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung. Deutlich wird zum anderen, dass die bisherigen Re­ge­lung­en eher Beliebigkeit und viel zu we­nig Handlungsdruck auf regionalen und kommunalen Ebe­nen er­zeu­gen. Das Er­geb­nis zeigt sich zum Bei­spiel in der geringen Zahl der Projekte, die seit dem Bei­tritt der Bundesagentur für Ar­beit zum Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bund im Jahr 2009 tat­säch­lich zu­stan­de gekommen sind. Dabei ist von umfassenden Projekten wie JobFit (in NRW) oder AmigA (in ei­nem Landkreis in Bran­den­burg) abzusehen, wo das große und kontinuierliche En­ga­ge­ment ei­ner Kran­ken­kas­se auf günstige regionale Be­din­gung­en und ei­ne aktive Un­ter­stüt­zung durch die Lan­des­re­gie­rung gestoßen ist. Doch was passiert in anderen Bundesländern? Die diesbezügliche Landschaft vermittelt eher den Ein­druck, dass die all­ge­mein gefassten Emp­feh­lung­en zur Vernetzung und Zu­sam­men­ar­beit die Ge­fahr in sich ber­gen, sich hinter Kooperationszusagen zu verstecken und abzuwarten.

Auf kommunaler Ebe­ne, das heißt dort, wo Ar­beits­lo­se erreicht wer­den müs­sen, kommt in der Re­gel nicht viel an. Was nutzt die Auf­for­de­rung zu Ko­o­pe­ra­ti­on und Vernetzung, wenn vor Ort zu we­nig Be­ra­tungs­ka­pazität vorhanden ist, an die überwiesen wer­den könnte? Wie soll sich die kommunale An­ge­bots­landschaft, die so­gar für viele Fachkräfte des Sozial- und Jugendhilfebereichs kaum zu über­bli­cken ist, für end­los mit Ar­beit eingedeckte Fallmanager/in­nen erschließen? Wer ist au­to­ri­siert und wem wer­den die Res­sour­cen zur Verfügung gestellt, hier Koordinationsaufgaben zu über­neh­men?

Mehr Aufmerksamkeit, bitte!

Von al­lein und oh­ne kompetente Be­ra­tung und Un­ter­stüt­zung auf kommunaler Ebe­ne kann und wird nicht viel pas­sie­ren. Vernetzung kann in diesem Fall nur er­folg­reich sein, wenn sie hochrangig besetzt und von Entscheiderebene gelenkt wird und pro­fes­si­o­nell koordiniert wird. Andernfalls entsteht nur „wie­der ein neues Netzwerk…“, aber keine gesteuerte Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen unterschiedlichen Fach-, Handlungs- und Politikebenen zu­guns­ten von Ar­beits­lo­sen.

Verhältnis- statt Verhaltensorientierung

Der zwei­te wichtige und bis­her nicht erwähnte As­pekt ist die in diesem Kon­text üb­liche Kon­zen­tra­ti­on gesundheitsfördernder Maß­nah­men auf Verhaltensaspekte. Die Verhaltensorientierung in den Kurs­mo­dulen der Bildungsträger wie der Kran­ken­kas­sen öffnet nicht nur der In­di­vi­du­a­li­sie­rung der Pro­ble­ma­tik so­wie der Schuld­zu­wei­sung an die betroffenen Personen Tür und Tor, sie geht auch zu Lasten der Nach­hal­tig­keit der Maß­nah­men. Die Be­to­nung verhaltensorientierter Maß­nah­men, wie sie in den ge­sund­heits­för­dern­den Angeboten für Ar­beits­lo­se im­mer noch üb­lich ist, ignoriert, dass nachhaltige Veränderungen nur durch ei­ne anhaltende ge­sund­heits­för­der­liche An­pas­sung der Lebenssituation bewirkt wer­den kön­nen. Sie übersieht, dass ein enges Ge­flecht aus sozioökonomischen Faktoren und umweltbedingten Verhältnissen, aus Le­bens­wei­sen und Lebensstilen und aus individuellen Faktoren die menschliche Ge­sund­heit be­stimmt.

Wie be­reits mehr­fach vom Sachverständigenrat zur Be­gut­ach­tung der Ent­wick­lung im Gesund­heits­wesen (SVR) be­tont, besteht auch un­ab­hän­gig von gesundheitsrelevantem Verhalten ein hoher Zu­sam­men­hang zwi­schen sozioökonomischer Si­tu­a­ti­on und Ge­sund­heits­sta­tus. Wirksam kön­nen die ge­sund­heit­li­chen Fol­gen von Ar­beits­lo­sig­keit al­so nur durch ei­ne Kom­bi­na­ti­on von Ver­hal­tens- und Ver­hält­nis­prä­ven­tion, ei­nem cha­rak­te­ris­ti­schen Merkmal des Set­ting­an­sat­zes, bekämpft wer­den.

Diese Er­in­ne­rung geht an die Ad­res­se der gesetzlichen Kran­ken­kas­sen, die ein settingorientiertes Vorgehen zur Ge­sund­heits­för­de­rung bei Ar­beits­lo­sen, bei­spiels­wei­se in Stadt­teil und Nach­bar­schaft als der unmittelbaren Lebenswelt von Ar­beits­lo­sen, energischer för­dern sollten. Ebenso geht sie an die verschiedenen ministeriellen Ad­res­sen und an die Politik und ist als Auf­for­de­rung zu verstehen, so­zi­al bedingte ge­sund­heit­liche Un­gleich­heit über Lippenbekenntnisse hinaus endlich wirk­sam abzubauen.

Die Regionalen Kno­ten als die Kompetenz- und Vermittlungsstel­len des Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bun­des in den Bundesländern stel­len ei­ne entscheidende Struk­tur für den Auf­bau von Kooperationen zwi­schen Ar­beitsförderung und der Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on dar. Die An­zahl der Regionalen Kno­ten, die sich in ihrem Land aktiv um die­ses Handlungsfeld kümmern, ist in den letzten drei Jahren von vier auf elf angestiegen. In diesen Ländern ar­bei­ten die Regionalen Kno­ten als ei­ner ihrer Schwer­punk­te zu diesem The­ma: Bay­ern, Ber­lin, Bran­den­burg, Hamburg, Hessen, Nie­der­sach­sen, Meck­len­burg-Vor­pommern, Nordrhein-Westfalen, Sach­sen, Schleswig-Holstein, Thü­rin­gen.

Neben Fachveranstaltungen, regelmäßigen Ar­beitskreisen und vielfältigen weiteren Aktivitäten zum Auf­bau von Struk­turen der Zu­sam­men­ar­beit in den Ländern sind in diesem Zu­sam­men­hang zwei wert­vol­le Leitfäden für die Pra­xis zu nen­nen, die 2011 durch den Regionalen Kno­ten NRW he­raus­ge­ge­ben wer­den konnten:

  • Förderung der psychischen Ge­sund­heit bei Er­werbs­lo­sen. Ein Leit­fa­den. LIGA. Pra­xis 4 (2011). Düs­sel­dorf: Landesinstitut für Ge­sund­heit und Ar­beit des Landes Nordrhein-Westfalen (LIGA.NRW), (PDF-Dokument, 1,9 MB)
  • Ge­sund­heits­för­de­rung in der Zeit­ar­beit. Argumente und Umsetzungsstrategien. LIGA. Pra­xis 5 (2011). Düs­sel­dorf: Landesinstitut für Ge­sund­heit und Ar­beit des Landes Nordrhein-Westfalen (LIGA.NRW), (PDF-Dokument, 1,9 MB)

Die vollständige Ant­wort der Bun­des­re­gie­rung auf die „Klei­ne An­fra­ge“ der Frak­ti­on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum The­ma Ge­sund­heits­för­de­rung bei Ar­beits­lo­sen fin­den Sie hier (PDF-Dokument, 110 KB).

Zurück zur Übersicht