25.04.2016
Gewalt gegen Pflegebedürftige: Fakten und Hilfe
Patrick Schnapp, Zentrum für Qualität in der Pflege
Schlagwörter:Gewalt, Pflege, sexuelle Gesundheit
Was ist Gewalt gegen Pflegebedürftige?
Gewalt ist ein wichtiges Thema in Öffentlichkeit und Forschung - doch Gewalt in der Pflege spielt dabei kaum eine Rolle. Der geringe Stellenwert des Themas Gewalt in der Pflege in der Öffentlichkeit lässt sich an den Ergebnissen einer Bevölkerungsumfrage ablesen, die das Zentrum für Qualität in der Pflege 2014 in Auftrag gegeben hat: Danach gefragt, in welchen Bereichen von Seiten des Staates „zu wenig getan“ wird, nannten die Teilnehmenden die Themen Gewalt gegen alte Menschen, gegen Menschen mit Behinderung und gegen Demenzkranke deutlich seltener als Gewalt gegen Kinder oder Frauen [1]. Wissenschaftliche Forschung zum Thema gibt es kaum. Doch in den letzten Jahren sind immerhin einige Arbeiten hierzu erschienen.
Wenn dabei von Gewalt in der Pflege die Rede ist, geht es nicht nur um Schläge oder andere Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit: Psychische wie körperliche Misshandlung (auch in Form sexuellen Missbrauchs), Vernachlässigung, freiheitsentziehende Maßnahmen wie Gurte, missbräuchliche Gabe von Medikamenten und finanzielle Ausbeutung - all das ist gemeint, wenn von Gewalt in der Pflege die Rede ist [2].
Wie häufig kommt Gewalt gegen Pflegebedürftige vor?
Die Frage nach der Häufigkeit von Gewalt in der Pflege ist schwer zu beantworten. Weder polizeiliche Kriminalstatistiken noch Opferwerdungsbefragungen geben hier verlässlich Auskunft. Wie viele Pflegebedürftige in Deutschland Opfer von Gewalt werden, ist deshalb unklar [3]. Es gibt aber einige nicht repräsentative Studien mit zwei- bis dreistelligen Fallzahlen, die Hinweise auf den Umfang des Problems geben.
Laut einer Untersuchung privater Pflegearrangements wurde in ca. 40% der Fälle die pflegebedürftige Person zum Opfer von „Misshandlung oder Vernachlässigung“ [4]. In einer anderen Studie, für die Pflegebedürftige und ihre pflegenden Partner/-innen befragt wurden, sagten 79% der Teilnehmenden, dass es mindestens einmal pro Monat zu Gewalt von Seiten des Pflegenden kommt, 11% berichteten von körperlicher Gewalt [5].
In einer Befragung pflegender Angehöriger gab über die Hälfte der Teilnehmenden zu, in den letzten 12 Monaten ein Verhalten gezeigt zu haben, das von den Forschenden als problematisch eingestuft wurde. Immerhin 19% berichteten körperliche Aggressionen (z. B. grob anfassen, schubsen oder stoßen), 5% davon, die Freiheit der zu pflegenden Person eingeschränkt zu haben [6].
In einer weiteren Untersuchung wurden Angehörige demenziell Erkrankter nach problematischem Verhalten innerhalb der letzten zwei Wochen befragt. 68% der Befragten gaben Verhaltensweisen zu, die die Autorinnen und Autoren der Studie als Gewalt einordnen. So sagten fast 39% der Angehörigen, sie hätten den Erkrankten „schon mal härter“ angefasst; fast ein Viertel gab zu, die demente Person in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu haben [7].
In privaten Pflegeverhältnissen scheint Gewalt also recht häufig vorzukommen. Zu missbräuchlichem Verhalten durch professionelle Pflegekräfte gibt es lediglich eine deutsche Studie. Für diese wurden die Mitarbeitenden ambulanter Dienste befragt. Insgesamt 40% der Befragten gaben an, gegenüber Pflegebedürftigen in den letzten zwölf Monaten Verhaltensweisen gezeigt zu haben, die von den Forschenden als Misshandlung oder Vernachlässigung eingeordnet wurden. 9% gaben zu, gegenüber einem Pflegebedürftigen körperlich aggressiv geworden zu sein (z. B. „grob anfassen“, schubsen oder stoßen). 10% der Befragten berichteten von freiheitseinschränkenden Maßnahmen mit mechanischen Mitteln (z. B. einsperren, fixieren) [8].
Insgesamt zeigen sich also nennenswerte Unterschiede zwischen den Ergebnissen der Studien. Dies dürfte neben tatsächlichen Unterschieden zwischen den befragten Gruppen auch daran liegen, dass mit unterschiedlichen Fragebögen unterschiedliche Kombinationen von Verhaltensweisen in unterschiedlich langen Zeiträumen erfragt wurden. Es wird aber deutlich: Pflegebedürftige Menschen werden in wesentlichem Maße Opfer von Gewalt.
Unter welchen Bedingungen kommt Gewalt gegen Pflegebedürftige besonders häufig vor?
Insgesamt legt die Forschung den Schluss nahe: Viele Pflegende werden durch ihre Aufgaben und das als frustrierend empfundene Verhalten des Pflegebedürftigen (wie Impulsivität oder Inkontinenz) so stark belastet, dass sie aggressiv reagieren [9]. Eine weitere Gemeinsamkeit vieler Studien ist das Ergebnis, dass Gewalt vor allem von solchen Pflegenden ausgeht, die problematischen Alkoholkonsum zeigen [10]. Nur wenig ist bekannt zum Zusammenhang von sozialem Status und Gewalt gegen Pflegebedürftige. Eine Untersuchung kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Pflegende mit höherem Bildungsabschluss häufiger Gewalt ausüben [11]. Die Autorinnen und Autoren einer anderen Untersuchung ziehen den Schluss, dass schwierige wirtschaftliche Verhältnisse Gewalt gegen Pflegebedürftige begünstigen, weil sie „eine ausreichende Nutzung professioneller Pflege oder alternative Lösungen wie eine Pflegeheimübersiedlung verhindern“ [12]. Dieser Befund steht im Einklang mit den Ergebnissen internationaler Forschung zur Misshandlung älterer Menschen (unabhängig von deren Pflegebedürftigkeit) [13]. Das Thema hätte deshalb mehr Aufmerksamkeit verdient.
Was können Betroffene tun?
Damit sich die Probleme durch stressintensive Pflegeverhältnisse nicht aufschaukeln, ist es wichtig früh gegenzusteuern. Es gibt zahlreiche Hilfsangebote - doch sie sind nicht immer leicht zu finden. Zur Unterstützung Hilfesuchender hat das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) deshalb ein Portal zur Gewaltprävention in der Pflege zur Verfügung gestellt (www.pflege-gewalt.de). Auf der Startseite wird die Nummer eines Krisentelefons angezeigt: Personen, die akut Hilfe brauchen, finden dort sofort Ansprechpartner/-innen. Zusätzlich steht eine Liste weiterer Krisentelefone zur Verfügung. Außerdem finden Pflegebedürftige, professionell Pflegende und pflegende Angehörige viele Informationen, die auf ihre Rolle zugeschnitten sind. So erhalten z. B. Angehörige Tipps, wie sie mit akuten Stresssituationen umgehen können, damit diese nicht aus dem Ruder laufen, und wie man - langfristig - grundsätzliche Entlastung bei der Pflege erhält. Um Betroffene dabei zu unterstützen, hat das ZQP außerdem das Portal Beratung zur Pflege aufgebaut (www.bdb.zqp.de). Hier können Interessenten ein ortsnahes Beratungsangebot finden, das ihren Bedürfnissen entspricht - zum Beispiel Beratung speziell zur Finanzierung der Pflege oder zum Thema Demenz. Der ZQP-Themenreport Gewaltprävention in der Pflege bietet übersichtlich Hintergrundwissen, Empfehlungen, Stellungnahmen und einen Serviceteil.
Wo kann man mehr erfahren?
- www.pflege-gewalt.de Portal des Zentrums für Qualität in der Pflege. Umfangreiche Informationen zum Thema, z. B. zu Hilfsangeboten, Daten und Fakten. ZQP-Themenreport Gewaltprävention in der Pflege zum kostenlosen Download.
- www.bdb.zqp.de Portal des Zentrums für Qualität in der Pflege, über das sich ortsnahe Beratungsangebote rund um die Pflege finden lassen.
- Projektseite „Gewaltprävention in der Pflege“ Seite mit umfassenden Informationen zu einem Forschungsprojekt zum Thema „Gewaltprävention in der Pflege“
- Görgen, T., Herbst, S., Kotlenga, S., Nägele, B., Rabold, S. (2012). " target="_blank">eich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf%5E%3E%3Cspan%20style=" target="_blank">Kriminalitäts-und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen. Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse eines Forschungsvorhabens zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen.
Literatur
[1] Zentrum für Qualität in der Pflege (2015). Welche Rolle das Thema Gewalt in der Bevölkerung spielt. In Zentrum für Qualität in der Pflege (Hg.), Gewaltprävention in der Pflege (16-19). Berlin: Zentrum für Qualität in der Pflege.
[2] Suhr, R. (2015). Pflege ohne Gewalt. Gesundheit und Gesellschaft, 18(7-8), 22-28; Zentrum für Qualität in der Pflege (2015). Was Gewalt in der Pflege ist. In Zentrum für Qualität in der Pflege (Hg.), Gewaltprävention in der Pflege (10-11). Berlin: Zentrum für Qualität in der Pflege; Görgen, T. (2015). Wo Gewalt in der Pflege vorkommt. In Zentrum für Qualität in der Pflege (Hg.), Gewaltprävention in der Pflege (12-15). Berlin: Zentrum für Qualität in der Pflege.
[3] Görgen, T. (2015). Literaturangabe s. oben.
[4] Nägele, B., Kotlenga, S., Görgen, T., & Mauder, B. (2009). Ambivalente Nähe: eine qualitative Interviewstudie zur Viktimisierung Pflegebedürftiger in häuslichen Pflegearrangements. In T. Görgen (Hg.), „Sicherer Hafen“ oder „gefahrvolle Zone“? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen: Ergebnisse einer multimethodalen Studie zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen (208-480). Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
[5] Karrasch, R. M. (2005). Gewalt im Rahmen der Pflege eines Partners im höheren Lebensalter - eine Analyse der Ursachen und daraus abzuleitender Interventionsmaßnahmen. Dortmund: Universität Dortmund.
[6] Görgen, T., Bauer, R., & Schröder, M. (2009). Wenn Pflege in der Familie zum Risiko wird: Befunde einer schriftlichen Befragung pflegender Angehöriger. In T. Görgen (Hg.), „Sicherer Hafen“ oder „gefahrvolle Zone“? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen: Ergebnisse einer multimethodalen Studie zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen (196-207). Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
[7] Thoma, J., Zank, S., & Schacke, C. (2004). Gewalt gegen demenziell Erkrankte in der Familie: Datenerhebung in einem schwer zugänglichen Forschungsgebiet. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 37, 349-350; Zank, S., & Schacke, C. (o. J.). Weitere Skalen aus der Leanderstudie. Köln: Universität zu Köln.
[8] Rabold, S., & Görgen, T. (2009). Professionelle Pflege und ihre Schattenseiten: Befunde einer schriftlichen Befragung ambulanter Pflegekräfte. In T. Görgen (Hg.), „Sicherer Hafen“ oder „gefahrvolle Zone“? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen: Ergebnisse einer multimethodalen Studie zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen (176-195). Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Rabold, S. & Görgen, T. (2007). Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen durch ambulante Pflegekräfte: Ergebnisse einer Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ambulanter Dienste. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 40:366-374.
[9] Karrasch (2005); Rabold & Görgen (2009); Görgen, Bauer & Schröder (2009); Nägele u. a. (2009), Literaturangaben s. oben.
[10] Görgen, Bauer & Schröder (2009); Rabold & Görgen (2009), Literaturangaben s. oben.
[11] Karrasch (2005), Literaturangabe s. oben, hier insbesondere S. 191.
[12] Görgen, T., Herbst, S., Kotlenga, S., Nägele, B., & Rabold, S. (2012). Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen: Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse einer Studie zu Gefährdungen älterer Menschen. 5. Aufl. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.; s. auch Nägele u. a., Literaturangabe s. oben, hier insbesondere S. 304-306.
[13] Zusammenfassend: Sethi, D., Wood, S., Mitis, F., Bellis, M., Penhale, B., Marmolejo, I. I., Lowenstein, A., Manthorpe, G., & Kärki, F. U. (Hg.). (2011). European report on preventing elder maltreatment. Kopenhagen: WHO Regional Office for Europe, S. 33.