21.03.2012
Gut und gesund leben mit Demenz?
Peter Wißmann, Demenz Support Stuttgart gGmbH, demenz.DAS MAGAZIN
Schlagwörter:Behinderung, Demenz, Familie, Kommentar, psychische Gesundheit, Teilhabe
Wir wissen es: In unserer Gesellschaft wächst kontinuierlich der Anteil derjenigen, die mit kognitiven Veränderungen leben. Bei knapp 1,2 Millionen Menschen - so jedenfalls die Schätzungen - werden diese kognitiven Veränderungen mit dem Begriff Demenz belegt.
Wie mit dieser Erkenntnis umgegangen wird, unterscheidet sich jedoch durchaus. Nach wie vor beliebt ist es, sie zu zitieren, um sich anschließend in ein mantrahaftes Beschwören der Notwendigkeit intensivierter pharmakologischer Forschung zu flüchten. Die einen, so die Pharmaforschung und Industrie, weil sehr konkrete materielle Interessen im Hintergrund wirken, die anderen, weil die Hoffnung auf eine Problemlösung aus dem Labor eben seit vielen Jahrzehnten ein unhinterfragtes Ritual darstellt. Doch es besteht begründeter Anlass, den Glauben an eine solch einfache Form der Problemlösung in Zweifel zu ziehen. „Das Scheitern der Alzheimerforschung“ titelte die Süddeutsche im vergangenen Jahr und rekapitulierte die Geschichte dieser (primär biomedizinischen) Forschung als eine Geschichte des permanenten Scheiterns und der Erfolglosigkeit.
Es gibt auch die andere Seite: Fachleute und Forscher beispielsweise, die zu einem realistischeren Blick übergegangen sind und daraus Konsequenzen ziehen. Und eine dieser Konsequenzen lautet: Unsere Gesellschaft wird mit der Tatsache leben müssen, dass immer mehr ihrer Bürgerinnen und Bürger mit demenziellen Veränderungen leben: Alzheimer und Demenz als Begleiterscheinung der alternden Gesellschaft. In der Folge verändert sich auch die Fragestellung. Sie lautet nicht mehr primär: Wie viele Milliarden Euro müssen wir noch in die Mäuselabors stecken, um Alzheimer zu besiegen, sondern: Wie ist ein gutes Leben mit Demenz in der Mitte unserer Gesellschaft möglich?
Soziale Benachteiligung und gesundes Leben
Wie lebt es sich mit Demenz unter dem Aspekt von Gesundheit? Manch einem mag allein die gleichzeitige Verwendung von ‚Demenz‘ und ‚Gesundheit‘ in einem Satz als Anachronismus erscheinen, gleichwohl lohnt der Blick auf das Thema genau aus diesem Blickwinkel. Beispiel Prävention: Was kann man vorbeugend gegen Alzheimer tun? Der „state of the art“ entspricht im Wesentlichen dem, was auch schon vor Urzeiten Menschen mit Gesundheitsproblemen geraten wurde und was problemlos auf viele andere Erkrankungen übertragen werden kann: Ernähre dich gesund und ausgewogen, bewege dich viel, bleibe neugierig und mit anderen Menschen in Kontakt, halte dich geistig fit. Das mag ernüchternd wirken: Mehr kann man nach jahrzehntelanger millionenschwerer Demenzforschung nicht zu diesem Thema sagen? Es spiegelt andererseits jedoch authentisch wieder, was immer mehr Forscher bereit sind anzuerkennen: Es gibt - und hier ist die Rede von Alzheimer als der nach gängigem Sprachgebrauch häufigsten Form einer Demenz - keinen eindeutigen identifizierbaren Biomarker als Ursache, sondern Alzheimerprozesse haben multifaktorielle Hintergründe.
Der amerikanische Neurologe Peter J. Whitehouse hält die Diagnose Alzheimerdemenz sogar für wissenschaftlich nicht haltbar und spricht vom Prozess der Gehirnalterung, dem alle Menschen ein Leben lang unterliegen und der unterschiedliche Verläufe zeigen kann. Dieser Prozess der Gehirnalterung wird dabei in besonderer Weise von Umweltfaktoren und von den Lebensumständen der Individuen beeinflusst. Spätestens hier ist man beim Thema soziale Benachteiligung und Gesundheit angelangt. Ungünstige soziale Rahmenbedingungen und schwierige Lebenslagen führen zu schlechteren Gesundheitschancen und das setzt sich über die ganze Lebensspanne bis ins Alter fort. Alzheimer trifft zwar Menschen aus allen sozialen Schichten und es kann letztendlich bei einem Phänomen, dessen Ursachen man bis heute gar nicht eindeutig benennen kann, auch keinen zuverlässigen Schutz geben. Doch bleibt die Aussage gültig, dass nach aktuellem Wissensstand eine gesunde Lebensführung zumindest die Chance für ein Alter ohne Alzheimer erhöht und dass bestimmten Menschen bessere und anderen schlechtere Möglichkeiten eines solchen Gesundheitsverhaltens zur Verfügung stehen.
Soziale Benachteiligung wirkt sich schließlich auch im Leben mit einer Demenz fort. Ob der Betroffene in einem mehr oder weniger verständnislosen Umfeld nur verwahrt oder in einer sensiblen Umgebung als Person gefördert und individuell begleitet wird, hat eine erhebliche Wirkung auf sein Wohlbefinden und seine Lebensqualität sowie auch auf den Verlauf des demenziellen Prozesses. Während sich aber der besser Situierte bei Bedarf seine persönliche Rund-um-die-Uhr-Betreuung(sperson) im häuslichen Umfeld leisten kann, muss der andere aus finanziellen Gründen unter Umständen in eine Einrichtung, die ihm kein förderliches Milieu bietet. In der Pflegeheimbranche wird schon formuliert, dass sich der Markt zukünftig noch stärker in Angebote für die zahlungskräftige und in ‚Discounter-Angebote‘ für die immer schon benachteiligte Kundschaft differenzieren müsse. In letzteren dürften die Chancen sowohl für die seelische als auch für die körperliche Gesundheit deutlich geringer sein.
Soziale Teilhabe, aktiv sein
Man muss nicht immer Neues erfinden. Die folgende Formulierung lässt sich nahezu 1 zu 1 auf die Situation von Menschen mit Demenz übertragen: „Ein gutes Leben im Alter lässt sich mit gesundheitsfördernden Lebensweisen und Lebensverhältnissen unterstützen. Die Wohnqualität, die Versorgung im Quartier, Möglichkeiten für Partizipation und Teilhabe, Angebote der Gesundheitsförderung und die nachbarschaftliche Gemeinschaft beeinflussen die Chancen auf ein gesundes Altwerden (http://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/gesundheitsfoerderung-bei-aelteren/hintergruende-daten-materialien/). Vor allem führt eine solche Formulierung aus der üblichen Verengung der Demenzfrage auf Aspekte der Versorgung und der Pflege hinaus. Wichtig für das Erleben und den Verlauf der Demenz, für das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen sind nämlich vor allem die Möglichkeiten sozialer Aktivität und Teilhabe sowie die soziale Qualität des Umfeldes: Können sich Demenzbetroffene noch als Personen oder nur noch als Pflegebedürftige erleben? Können Sie Aufgaben, Funktionen und von ihnen als sinnvoll erachtete Aktivitäten ausführen oder werden sie zu passiven, gelegentlich mit veralbernden Beschäftigungsangeboten bespielten ‚Kranken‘? Leben sie integriert und in lebendiger Beziehung zu ihrem sozialen Umfeld oder in abgeschotteten Parallelwelten, die das Versorgungssystem für sie konstruiert und betreibt?
Das allgemein dominante Bild von Demenzbetroffenen, das sich an Phasen schwerer demenzieller Prozesse und Beeinträchtigungen orientiert, hat bis vor kurzer Zeit den Blick auf die Tatsache verstellt, dass hunderttausende Menschen diesem Bild so gar nicht entsprechen und für sie nicht Pflege und Versorgung, sondern Aktivität, „dran bleiben am Leben“, mitreden und sich als selbstwirksam erleben können zentrale Kategorien darstellen. Mittlerweile gibt es viele beeindruckende Beispiele dafür, wie Menschen mit Demenz die übliche Opferrolle ablegen, sich in diesem Sinne zu Wort melden und den Anschluss an das soziale Geschehen um sie herum halten oder neu knüpfen. Da sprechen Demenzbetroffene in der Öffentlichkeit über ihre Anliegen oder melden sich gar per Buch zu Wort. Andere engagieren sich kulturell in ihrer Stadt oder erobern sich den Sport als Möglichkeit aktiven Tuns und als Quelle von Lebensfreude. Abgerundet wird diese Aufzählung eines neu erstarkten Selbstbewusstseins von Demenzbetroffenen durch die langsam beginnende Ausbreitung von Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz.
Es geht um gesellschaftliche Teilhabe einer wachsenden Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern. Und die Leitidee der Teilhabe hat sogar eine robuste (menschen)rechtliche Grundlage: die Behindertenrechtskonvention (BRK). Diese gilt auch für alle Menschen mit einer demenziellen Behinderung und hier keineswegs nur für so genannte Frühdemente, sondern auch für alle, die man gerne als Schwerdemente tituliert. Wie ermöglichen wir gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz: So lautet die Frage, an der sich zukünftig die Bemühungen aller Beteiligten - so beispielsweise der Profis, der Betroffenen, der Angehörigen - orientieren müssen.
Angehörige
Apropos Angehörige. Wir alle kennen den Satz von der Familie als dem größten Pflegebetrieb der Nation und wissen, wie die Situation vieler pflegender Angehöriger aussieht: Betreuung an der Grenze der Überforderung oder darüber hinaus, soziale Isolation, oft auch finanzieller Abstieg, schwere seelische und körperliche Gesundheitseinbußen. Für pflegende Angehörige wurde in den zurückliegenden Jahren manches auf den Weg gebracht, aber es bleibt viel zu tun. Entlastungsangebote durch Betreuungsgruppen, Anleitung zur individuellen Burn-Out-Prävention und eine verbesserte finanzielle Unterstützung durch Leistungen der Pflegeversicherung sind sicherlich gut und ausbaufähig, reichen aber nicht aus, um grundsätzlich Entlastung zu bieten. Dazu bedarf es nämlich mehr: eines demenzfreundlichen Umfeldes und Klimas, das Verständnis, Akzeptanz und Unterstützung bietet. Wenn pflegende Angehörige und Betroffene sich nicht sozial isolieren sollen, muss es eben auch möglich sein, sich mit einem sich ‚komisch‘ verhaltenden Familienmitglied in der Öffentlichkeit sehen lassen, Restaurants oder einen Gottesdienst besuchen zu können. Das Gemeinwesen zu einem in diesem Sinne ‚demenzfreundlichen‘ zu sensibilisieren, war die Intention der von der Aktion Demenz in Deutschland ausgerufenen Kampagne „Demenzfreundliche Kommunen“. Mittlerweile ist daraus eine Bewegung geworden, die hunderte oder mehr Gemeinden umfasst. Eine wirklich demenzfreundliche Kommune mag es zwar immer noch nicht geben. Was es aber gibt, ist eine Fülle überzeugender Beispiele für Maßnahmen auf dem Weg dorthin.
Wenn Demenzbetroffene und ihre Angehörigen gemeinsam in Kooperation mit Sportverbänden Rad- und Kanutouren unternehmen oder sich über das bisher für beide ‚fremde‘ künstlerische Tun eine neue gemeinsame Interaktionsbasis schaffen, sind das wirkungsvolle Beiträge für mehr Wohlbefinden, Lebensqualität und Gesundheit - für beide! Wenn auch Nachbarn und bürgerschaftlich engagierte Personen ihre spezifische Kompetenz und Unterstützung einbringen, hilft das allen Beteiligten. Und wenn all dies nicht (nur) in Spezialwelten für Demenzbetroffene, sondern mitten in und in direkter Verbindung mit dem ‚normalen‘ sozialen Umfeld geschieht, dann ermöglichen wir unserer Gesellschaft einen Lernprozess hin zu einer inklusiven im Sinne der Behindertenrechtskonvention. Auch hier gilt: Nutznießer sind nicht allein die Menschen mit Demenz, sondern wir alle.
Zum Weiterlesen, An- und Nachschauen
Christian Zimmermann, Peter Wißmann: Auf dem Weg mit Alzheimer. Wie sich mit einer Demenz leben lässt. 2011 Frankfurt am Main
Peter Wißmann, Reimer Gronemeyer: Demenz und Zivilgesellschaft. Eine Streitschrift. 2008 Frankfurt am Main
Demenz Support Stuttgart (Hrsg.): Ich spreche für mich selbst. Menschen mit Demenz melden sich zu Wort, 2010 Frankfurt am Main
Demenz Support Stuttgart (Hrsg.): Wege zum Leben. Menschen mit Demenz melden sich zu Wort (3 DVD), 2010 Frankfurt am Main
Michaela Kaplaneck: Unterstützte Selbsthilfegruppen von Menschen mit Demenz. Anregungen für die Praxis. Frankfurt am Main 2012
Demenz Support Stuttgart (Hrsg.):Gemeinsam bewegen wir uns lieber als allein. Sport und Demenz (DVD). 2012 Frankfurt am Main
Demenz.DAS MAGAZIN (Zeitschrift für den Dialog zwischen Menschen mit Demenz, beruflichen Helfern, Angehörigen, engagierten Bürgern und Kommunen) www.demenz-magazin.de