04.09.2019
Hauptsache gesund und kompetent!?
Bettina Schmidt, Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe
Schlagwörter:Gesundheit, Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsbildung, Gesundheitskompetenz, Gesundheitspolitik
Gesundheitskompetenz ist populär. In Deutschland gibt es zurzeit u.a. eine „Allianz für Gesundheitskompetenz“, ein „Deutsches Netzwerk Gesundheitskompetenz“, einen „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“, und im SGB V ist das Ziel „Gesundheitliche Kompetenz erhöhen“ festgeschrieben. Der großen Popularität von Gesundheitskompetenz steht die geringe Verbreitung in der Bevölkerung gegenüber: Rund die Hälfte der Menschen hierzulande gelten als unzureichend gesundheitskompetent (Jordan; Hoebel 2015, S. 945).
Die Zustimmung zur Gesundheitskompetenz basiert auf der Hoffnung, dass mehr Gesundheitskompetenz zu mehr Gesundheit führt. Diese Hoffnung ist plausibel, jedoch zu schön, um wahr zu sein. Ein Blick auf das Gesundheitsdeterminanten-Modell der WHO (nach Lampert 2018, S.14) genügt, um sich die komplexe Gemengelage zwischen Gesundheitsdeterminanten und Gesundheit zu vergegenwärtigen (Abb. 1): Nicht vornehmlich Gesundheitskompetenzen, sondern sozioökonomische, gesellschafts- und gesundheitspolitische sowie kulturell-biographische Lebensbedingungen sind entscheidend für Gesundheit und Wohlbefinden (Lampert et al. 2018, S. 17).
Dennoch existieren viele Gesundheitsbefähigungs-Programme, die namentlich z.B. unter den Begriffen Gesundheitsaufklärung, Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsedukation - und neuerdings Gesundheitskompetenz - firmieren. Diese Programme unterscheiden sich im Hinblick auf ihre konzeptionelle Fundierung, doch in der praktischen Umsetzung zielen sie meist auf den Erwerb von gesundheitsdienlichem Wissen und Verhalten ab. Dass Gesundheitskompetenz sinnvoll ist, soll nicht bestritten werden. Bestritten werden soll jedoch, dass Gesundheit mit Hilfe von Gesundheitskompetenz spürbar verbessert werden kann. Jahrzehntelange Erfahrungen mit entsprechenden Programmen haben ihre Erfolgsarmut hinlänglich bezeugt (Rosenbrock 2017, S. 14).
Gesundheitskompetenz - funktional, interaktiv und kritisch
Folgt man der gängigen Definition des European Health Literacy Consortiums (HLS), dann ist Gesundheitskompetenz „das Wissen, die Motivation und die Fähigkeit von Menschen, relevante Gesundheitsinformationen in unterschiedlicher Form zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um im Alltag in den Bereichen der Krankheitsbewältigung, Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung Urteile fällen und Entscheidungen treffen zu können, die die Lebensqualität während des gesamten Lebensverlaufs erhalten und verbessern“ (Übersetzung nach Schaeffer et al. 2018, S. 13).
Das ist anspruchsvoll, und Heinz-Harald Abholz (2019, S. 88) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Kompetenz der Kompetenz guter Hausärzte und Hausärztinnen ähnelt, aber offenbar auch bei Laien für erforderlich und erreichbar gehalten wird.
Die meisten Kompetenzprogramme adressieren die funktionale Gesundheitskompetenz, also die kognitive Fähigkeit, mit Gesundheitsinformationen produktiv umzugehen. Funktional gesundheitskompetente Menschen sind z.B. in der Lage, evidenzbasiertes Krankheitswissen zu sammeln oder statistische Daten zu verstehen (Visscher et al. 2018, S. 8ff). Beispielsweise wird einem Menschen funktionale Gesundheitskompetenz attestiert, wenn er den Beipackzettel eines Arzneimittels verstehen kann. Dabei wäre es womöglich kompetenter, zu wissen, wie man sich gegen die Zulassung von Arzneimitteln, die extrem teuer sind und keinen messbaren Zusatznutzen für Patientinnen und Patienten haben, stellen kann (Ludwig; Schildmann 2015, S. 5).
Menschen benötigen außerdem interaktive Gesundheitskompetenz, um das Versorgungssystem gut nutzen zu können (Schaeffer et al. 2018, S. 10). Zielgruppe sind neben Patientinnen und Patienten auch Gesundheitsprofis und -einrichtungen (Bitzer; Sørensen 2018, S. 756). Die interaktive Gesundheitskompetenz ist ebenfalls funktional ausgerichtet, allerdings werden nicht Patientinnen und Patienten, sondern Profis dazu befähigt, variierende Patientenkompetenz zu unterstützen, z.B. durch verständliche Informationsvermittlung (Bitzer; Sørensen 2018, S. 758). Konzeptionell ist interaktive Gesundheitskompetenz jedoch weitreichender gedacht, so verweist die aktuelle WHO-Gesundheitsförderungs-Charta von Shanghai dezidiert auf die Notwendigkeit von „high health literacy of decision-makers and investors“ (WHO 2016, S. 2).
Funktionale und interaktive Gesundheitskompetenz befähigen Menschen zu gesundheitsförderndem Wissen und Verhalten, sie tragen jedoch nicht dazu bei, Menschen dazu zu befähigen, ungesunde Lebensverhältnisse zu verändern (Paakkari; George 2018, S. 7).
Dazu benötigt man kritische Gesundheitskompetenz (Sykes et al. 2013, S. 1). Die Differenzierung zwischen funktionaler, interaktiver und kritischer Gesundheitskompetenz geht auf Don Nutbeam zurück (2000, S. 263f). Kritische Gesundheitskompetenz ist das Vermögen zu verstehen, wie soziale Risiken die Gesundheit negativ beeinflussen, sowie das Vermögen, diese sozialen Risiken strukturell zu verändern (Mogford; Gould; Devoght 2010, S. 4). Ungesunde Wohn- und Arbeitsbedingungen, ungünstige Spiel- und Erholungsbedingungen und ungleichheitsförderliche Sozialpolitik sind Themen kritischer Gesundheitskompetenz. Ziel ist, die Gesundheitschancen von Bevölkerungen im Ganzen zu verbessern, nicht, individuelle Gesundheitsfertigkeiten zu erhöhen (Abel; Sommerhalder 2015, S. 927).
Die aktuelle Deutung von Gesundheitskompetenz folgt praktisch einem engen Kompetenzverständnis, das präziser mit Gesundheitsinformationsverarbeitungskompetenz beschrieben wäre. Wünschenswert wäre, das dann auch so zu nennen, um dem „im Wort ‚Gesundheitskompetenz‘ mitschwingenden Größenwahn“ (Rosenbrock 2017, S. 15) Einhalt zu gebieten.
Risiken von Gesundheitskompetenz
Dass Gesundheitskompetenz in niedrigen Soziallagen geringer ausgeprägt ist als in hohen, wundert offenbar niemanden: „Weltweit und auch in Deutschland ist Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft ungleich verteilt und folgt in etwa anderen sozialen Gradienten: Je höher der Bildungsgrad, das verfügbare Einkommen und die soziale Stellung, desto wahrscheinlicher berichten Menschen über gering ausgeprägte Schwierigkeiten im Umgang mit gesundheitlichen Problemstellungen“ (Bitzer; Sørensen 2018, S. 758).
Überraschenderweise folgen daraus keine Maßnahmen, die dazu beitragen würden, Ursachen der Ungleichverteilung von Gesundheitskompetenz zu vermindern. Die zunehmende Gleichsetzung von Gesundheit mit individuell produzierbarer Gesundheit sowie von Krankheit mit individuell vermeidbarer Krankheit führt dazu, dass gesunden und kranken Menschen immer mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit und eventuelle Krankheit aufgebürdet wird. Davon betroffen sind insbesondere sozial benachteiligte Menschen, denn sie tragen neben einer überdurchschnittlichen Krankheitslast auch eine überdurchschnittliche Verantwortungslast für Gesundheitserhalt und Krankheitsvermeidung.
„Durchwursteln“ als praktische Kompetenz
Löst man den Begriff der Gesundheitskompetenz aus dem engen Verständnis von Gesundheitsinformationsverarbeitungskompetenz, dann ist es eine “Lebenskunst, die es ihren Träger*innen ermöglicht, mit den Zumutungen, Herausforderungen und Chancen des Lebens so achtsam und erfolgreich umzugehen, dass die Balance zwischen Gesundheitsressourcen und Gesundheitsbelastungen immer wieder hergestellt wird“ (Rosenbrock 2017, S. 15). Die Vorstellung von Gesundheitskompetenz als Lebenskunst erinnert an die Idee des Durchwurstelns von Ulrich Bröckling (2012, S. 142). Bröckling zufolge ist das Durchwursteln die passende Antwort des modernen Menschen auf seine allgegenwärtige Pflicht, sich als Selbstunternehmerin und -unternehmer zu betätigen: Dabei soll der Mensch sein gesamtes Selbst profitabel bewirtschaften, um im Wettbewerb auf dem Arbeits-, Heirats- oder Fitnessmarkt mithalten zu können. Das ewige Ringen um Selbstoptimierung erschöpft Menschen, und sie brauchen Atempausen und Durchwursteln (Bröckling 2012, S. 138).
Ein sich durchwurstelnder Mensch akzeptiert die gängigen Regeln einer gesundheitskompetenten Lebensführung, etwa das Nichtrauchen, den maßvollen Alkoholkonsum, die ausgewogene Ernährung und die regelmäßige Bewegung, akzeptiert jedoch gleichzeitig, dass die Regeln nicht immer einzuhalten sind (Grauel 2013, S. 65). Gesundheitliches Durchwursteln ist eine praktische Kompetenz leibhaftiger Menschen: Nur 30 Prozent der Bevölkerung halten sich gewissenhaft an die Regeln einer gesunden Lebensweise (Braun; Marstedt 2015, S. 99). Die übrigen kümmern sich mal mehr und mal weniger um die eigene Gesundheit (Koch; Waltering 2012, S. 9). Meist genügt das auch. Die eigene Gesundheit ist robuster, als es die detailreiche Risikofaktorenforschung glauben macht. Rauschhafte Feste, träge Tage an sonnigen Stränden, Verletzungsmomente bei Arbeit, Sport und Spiel stehen die meisten Menschen durch, ohne nachhaltig Schaden zu nehmen. Ein lebendiges Leben kann nur führen, wer Abstriche machen kann beim Richtigen, Guten und Gesunden und sich gelegentlich begnügt mit dem Halbrichtigen, Halbguten, Halbgesunden (Grauel 2013, S. 292). Das soll natürlich nicht heißen, Leiden zu suchen oder sich in Leiden zu schicken. Es geht nicht um Akzeptanz eines beschwerlichen Lebens, sondern darum anzuerkennen, dass zwar alle Menschen ein Recht auf größtmögliche Entfaltung ihrer Gesundheitspotenziale haben, aber nicht die Pflicht, beständig nach gesundheitskompetenter Optimierung zu streben.
Gesundheit kompetent fördern
Es ist Aufgabe von Politik, Menschen davon zu entlasten, sich beständig gesundheitsoptimal benehmen zu müssen. Politik ist dafür auch geeignet, wie die gute Tradition der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (z.B. Wasser-, Lebensmittelhygiene) bezeugt. Anfänglich stoßen politische Maßnahmen gelegentlich auf Widerstand, doch im Zeitverlauf werden sie meist akzeptiert - legendär ist die Gurtpflicht, die heute 95 Prozent der Bevölkerung sinnvoll finden (Kuhn et al. 2015, S. 156).
Vor allem in der Unfallverhütung sind gesundheitsprotektive Maßnahmen selbstverständlich, sie werden entwickelt für normale - d.h. „durchschnittlich informierte, aufmerksame und verständige Menschen“ (BDI 2014, S. 33). Für durchschnittskompetente Menschen werden Fahrbahnschwellen vor Schulen eingerichtet, damit Autofahrerinnen und Autofahrer auch in Eile davor bewahrt werden, ein unaufmerksames Kind anzufahren, das plötzlich auf die Straße läuft. Solche Schutzvorrichtungen werden als benutzerfreundlich bezeichnet, weil sie es Durchschnittsmenschen erlauben, alltagskompetent statt premiumklasse zu funktionieren. Eine „benutzerfreundliche Gesundheitsförderung“ (Schmidt 2017, S. 274) entlastet Menschen davon, unaufhörlich gesundheitskompetent sein zu müssen. Benutzerfreundliche Gesundheitsförderung folgt der bewährten gesundheitsförderlichen Devise „Making healthy choices the easy choices“ (Vallgårda 2012, S. 202) und ist unverzichtbarer Bestandteil einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik im Sinne von „Health in All Policies“ (WHO 2013, S. 7).
Literatur
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Bitzer, Eva Maria; Sørensen, Kristine (2018): Gesundheitskompetenz - Health Literacy. In: Gesundheitswesen 80, S. 745-766
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WHO - World Health Organization (2013): Health in all policies -Helsinki statement. Geneva. WHO
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