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24.07.2012

Integriertes Handlungskonzept zur Gesundheitsförderung in niedersächsischen Schulen

Gesund Leben Lernen

Irmtraut Windel, Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.

Schlagwörter:Bildung, Gesundheitsbewusstsein, Good Practice, GP-Projekte, Krankenkassen, Setting, Teilhabe

Mit Beginn des Schuljahrs 2012/13 geht Gesund Leben Lernen (GLL) in die 8. Run­de. Dann wer­den sich ca. 180 Schulen in Nie­der­sach­sen - von sehr kleinen Grund­schu­len (weniger als 100 Schü­le­rin­nen und Schü­ler, 6 Lehrkräfte) bis zu gro­ßen Be­rufs­bil­den­den Schu­len (über 4000 Schü­le­rin­nen und Schü­ler, ca. 250 Lehr­kräf­te) - mit dem Auf­bau ei­nes schul­in­ter­nen Ge­sund­heits­ma­na­ge­ments befasst haben bzw. ge­ra­de da­ran ar­bei­ten.

Im An­schluss an die drei­jähri­ge Modell­phase wird seit 2006 jede GLL-Schule zwei Jahre lang von einer Viel­zahl von Ko­ope­ra­tions­part­nern - „in­di­vi­du­ell“ und auf die je­wei­li­gen Wün­sche und Be­dürf­nis­se zu­ge­schnit­ten - un­ter­stützt:

  • Das Niedersächsische Kul­tus­mi­nis­te­ri­um stellt ei­ne Lehrerstelle für die Projektleitung zur Verfügung.
  • Von der Landesvereinigung für Ge­sund­heit und Aka­de­mie für Sozialmedizin Nie­der­sach­sen e.V. (LVG&AfS) aus wird das Pro­gramm lan­des­weit gesteuert und koordiniert.
  • Die AOK stellt 23 Präventionsfachkräfte für die Be­treu­ung der GLL-Schulen zur Verfügung.
  • Die IKK classic finanziert zwei weitere Präventionsfachkräfte und jähr­lich zwei Fachforen für die Ar­beit in und mit Berufsbildenden Schulen.
  • Die BKK stellt die finanziellen Mit­tel für die zentralen Workshops für die Steuerkreissprecherinnen und -sprecher so­wie für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler be­reit.
  • Der Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover finanziert die Auftakt- und Abschlussveranstaltung der zweijährigen Projektlaufzeit; zu­sätz­lich be­zahlt er die zentrale Schulleitungsfortbildung.
  • Die Landwirtschaftliche Kran­ken­kas­se Nie­der­sach­sen-Bremen gibt Schulen für ausgewählte Projekte ei­ne Anschubfinanzierung.
  • Der Landesverband Nie­der­sach­sen der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Ge­sund­heitsdienstes e.V. informiert in den Grund­schu­len über die Mög­lich­keit, GLL durchzuführen.
  • Das Niedersächsische Mi­nis­te­ri­um für Soziales, Frauen, Fa­mi­lie, Ge­sund­heit und In­te­gra­ti­on ist als Träger der LVG&AfS in GLL eingebunden.

Gesund Leben Lernen will nicht vorwiegend Ge­sund­heitswissen vermitteln, son­dern betrachtet die Schule als soziales Sys­tem mit seinen positiven wie negativen Aus­wir­kung­en auf die Ge­sund­heit aller dort lernenden und arbeitenden Menschen. Zentrales Ziel ist es, den Schulalltag un­ter Par­ti­zi­pa­ti­on aller am Schulleben beteiligten Grup­pen gesundheitsförderlich so umzuge­stal­ten, dass Lern-, Erziehungs- und Le­bens­qua­li­tät verbessert wer­den.

Der Lern- und Le­bens­raum (das Setting) Schule hat - ne­ben Fa­mi­lie und Privatleben - so­wohl bei Schü­le­rin­nen und Schü­lern wie bei Lehrkräften einen erheblichen Ein­fluss auf die Ge­sund­heit; die­ser Ein­fluss wird durch die Ent­wick­lung zur Ganz­tags­schu­le noch zu­neh­men. Der Umgestaltungsprozess der Lebenswelt Schule orien­tiert sich in GLL an der Schulentwicklung. Diese ge­sund­heits­för­der­lich zu ge­stal­ten, ist ein Lern­pro­zess für die Schulen, der sys­te­ma­tisch durchgeführt wer­den muss. Für das Ma­nage­ment die­ses Prozesses rich­ten die Schulen Steuergruppen ein. Aus dem Betrieblichen Ge­sund­heitsmanagement wer­den weitere In­stru­men­te und Modelle (Ge­sund­heitszirkel, schulinterne Be­fra­gung­en der Lehrkräfte so­wie Schü­le­rin­nen und Schü­ler), an­ge­passt an Bedürfnisse und Bedarfe des Schulsystems, übernommen. Inhalte, Themen, Schwerpunkte und Tem­po der Ar­beit legt aber jede Schule selb­stän­dig fest.

Nach Ab­schluss der Modellphase 2006 wurde GLL im Auf­trag der Spitzenverbände der Gesetzlichen Kran­ken­kas­sen und zu­sätz­lich LVG&AfS-intern in der Masterarbeit ei­ner Prak­ti­kan­tin evaluiert. Die positiven Ergebnisse beider Untersuchungen führten da­zu, dass GLL seit­dem als landesweites Pro­jekt allen niedersächsischen Schulen angeboten wird. Gegenüber der Modellphase hat sich ver­ständ­licher­weise ei­ni­ges verändert, so­wohl in­halt­lich als auch durch die Zahl der teilnehmenden Schulen und die in­zwi­schen z. T. aufgebauten regionalen Netzwerke. Deshalb wird GLL seit 2009 zu­sam­men mit der Medizinischen Hochschule Hannover im Rahmen der "Ko­o­pe­ra­ti­on für nach­hal­tige Präventionsforschung" (KNP) mit Fördermitteln des BMBF er­neut evaluiert.

Die explorative Stu­die soll Auf­schluss ge­ben, in­wie­weit die organisationsbezogene In­ter­ven­ti­on GLL Schulen nach­hal­tig zu ei­ner gesundheitsförderlichen Aus­rich­tung füh­ren kann und wel­che Kosten ent­ste­hen. Evaluiert wird die Eig­nung der Balanced Scorecard (BSC) als Management- und Eva­lua­tions­in­stru­ment in der Schule. Ziel ist zu­dem die Er­stel­lung ei­ner Kennzahlentoolbox, die den Schulen ei­ne eigenständige Über­prü­fung der Zielerreichung ihrer Aktivitäten und organisatorischen Ver­än­de­run­gen er­mög­licht. So sollen Instrumente und Verfahren entwickelt und bewertet wer­den, die die Schulen im Rahmen ihres Gesundheitsmanagements zur Schulentwicklung nut­zen kön­nen.

Die Verminderung so­zi­al bedingter Un­gleich­heit von Gesundheitschancen und -risiken war von An­fang an ein wesentliches Ziel von GLL. Das implizierte ei­ne Aus­rich­tung des Pro­gramms auf die Schü­lergesundheit und auf Schulformen, in de­nen ei­ne so­zi­al benachteiligte Schü­lerklientel vermutet wer­den kann. Um diese Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu er­rei­chen, wurden in der Modellphase nur Förder-, Haupt- und Grund­schu­len aus be­nach­tei­lig­ten Stadtteilen bzw. strukturschwachen Regionen angesprochen. Inzwischen neh­men Schulen aus allen Schulformen an GLL teil, die genannten Schularten wer­den aber bevorzugt in das Pro­gramm aufgenommen. So wird mehr Chan­cen­gleich­heit im Bildungssystem geschaffen, weil mit GLL Schulen erreicht wer­den, in de­nen traditionelle wissensbasierte Präventionsprogramme kei­nen Er­folg haben.

Die Par­ti­zi­pa­ti­on von Schü­le­rin­nen und Schü­lern ist - ge­ra­de auch un­ter dem Ge­sichts­punkt der so­zi­alen Be­nach­tei­li­gung - ein wichtiges Ziel von GLL. Die Schü­lertagungen „Wir re­den mit!“ sind da­bei ein ganz besonderer Bau­stein. Den Kin­dern und Ju­gend­li­chen wird in der Work­shop - Ar­beit ihr eigenes Handlungsvermögen deut­lich gemacht. Sie kön­nen die Bereiche iden­ti­fi­zie­ren, die sie vorrangig für pro­ble­ma­tisch halten, und ih­re Lösungsvorschläge ent­wi­ckeln. Die Schulen sind da­zu verpflichtet, min­des­tens ei­nen Vorschlag umzusetzen. Sie er­le­ben, dass die Ein­be­zie­hung der Schü­lerperspektive zu ei­ner Res­sour­ce im schulischen Umgestaltungsprozess wer­den kann.

Nach den Prinzipien des Be­trieblichen Ge­sund­heitsmanagements sind al­le relevanten Grup­pen in einem Be­trieb das Ziel von Veränderung. Bei der Über­tra­gung auf die Schule heißt das al­so, dass auch die Ge­sund­heit der Lehrkräfte und der anderen Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter im Fo­kus steht. Anfangs drehte sich in den Schulen aber al­les um die Schü­lergesundheit („Lehrkräfte sind für die Schü­le­rin­nen und Schü­ler da!“), selbst wenn die Schulen aus­drück­lich da­zu ermuntert wurden, sich auch um die Lehrergesundheit zu kümmern.

Das hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die deutliche Mehr­zahl al­ler Schulen nennt in­zwi­schen bei ihrer Be­wer­bung das The­ma Lehrergesundheit als Schwer­punkt der künftigen Ar­beit. Das ist bei der ständig gewachsenen Be­las­tung der Schulen nicht verwunderlich. In der Zeit­schrift Schul­ver­wal­tung Nie­der­sach­sen (5/2011) schreibt Heinz Hundeloh (Unfallkasse Nordrhein-Westfalen) da­zu auf S. 114:

Der Gesundheitsstatus der Schü­le­rin­nen und Schü­ler so­wie der Leh­re­rin­nen und Leh­rer be­le­gen deut­lich, dass viele Schulen eher hoch geforderte, wenn nicht so­gar überforderte Stressgemeinschaften als fördernde Lehr- und Lerngemeinschaften bil­den. Wie soll aber ei­ne solche „Stressgemeinschaft“ ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag er­fül­len? Wie sollen Schü­le­rin­nen und Schü­ler, die sich in der Schule nicht wohl füh­len, und Lehrkräfte, die sich über­las­tet und ausgebrannt füh­len, ei­ne gute Unterrichts- und Schulqualität re­a­li­sie­ren?

Ge­sund­heit im Sinne von zur Verfügung stehenden körperlichen, psychischen und sozialen Res­sour­cen kann als Voraussetzung von Arbeits- und Leis­tungs­fä­hig­keit, Pro­duk­ti­vi­tät und Motiviertheit nicht hoch ge­nug eingeschätzt wer­den. Das trifft auf Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu, ge­nau­so aber auch auf die Lehrkräfte. Schü­ler- und Lehrergesundheit hängen häufig zu­sam­men bzw. be­din­gen sich ge­gen­sei­tig. Die Er­fah­rung in GLL zeigt, dass es meis­tens kei­ne Rol­le spielt, ob ei­ne Schule mit Projekten im Be­reich der Schü­ler- oder der Lehrergesundheit beginnt - fast im­mer fol­gen Maß­nah­men im je­weils an­de­ren Be­reich oder die durchführten Teilprojekte wer­den als Verbesserung für beide Grup­pen er­lebt. Die Verbesserung der Schü­lergesundheit ist oh­ne Stär­kung der Lehrergesundheit auf Dau­er nicht mög­lich.

Diese Einsicht hat - nach anfänglichen Diskussionen - die Gesetzlichen Kran­ken­kas­sen, ob­wohl die meisten Lehrkräfte in Nie­der­sach­sen nicht bei ih­nen versichert sind, da­zu bewogen, sich in GLL zu en­ga­gie­ren, oh­ne zu dif­fe­ren­zie­ren, wel­che Maß­nah­men für wel­che Grup­pen in ei­ner Schule durchgeführt wer­den. Zu die­ser veränderten Sichtweise haben in besonderem Maße die Präventionsfachkräfte beigetragen, die als Prozessbegleiter und Be­ra­te­rin­nen in den Schulen ar­bei­ten. Ihr Erleben des Alltags in den o.g. „Stressgemeinschaften“ und die Berichte da­rü­ber haben bei den Kooperationspartnern auf allen Ebe­nen ei­ne an­de­re Sichtweise auf das Setting Schule und sei­ne Probleme bewirkt.

Der Ein­satz der Fachkräfte für schulisches Gesundheitsmanagement „vor Ort“ unterscheidet GLL von vielen an­de­ren Programmen zur Ge­sund­heits­för­de­rung in Schulen. Die Präventionsfachkräfte un­ter­stüt­zen diese u. a. beim Projektstart (Work­shop zur Interessenklärung, Zielentwicklung, Projektplanung, Or­ga­ni­sa­ti­on von Beteiligungsformen), be­glei­ten die Steuergruppen, mo­de­rie­ren Gesundheitszirkel, wenn Schulen da­mit ar­bei­ten, vermitteln regionale Kooperationen und Unterstützungsangebote. Von den Schulen, die „ih­re“ Fach­kraft nach den zwei Jahren intensiver Be­treu­ung am liebsten nicht mehr herge­ben wol­len, wird in besonderem Maße hervorgehoben, wie wich­tig deren externer Blick auf die Or­ga­ni­sa­ti­on Schule ist. Als Schulfremde kön­nen sie da­durch die professionelle Be­triebs­blind­heit in­fra­ge stel­len und Impulse für ei­ne an­de­re Herangehensweise an schon lange vorhandene Probleme ge­ben. Die befristete Be­glei­tung von Schulen beim Pro­zess der gesundheitsförderlichen Um­ge­stal­tung ist ein wesentliches Ele­ment für den Er­folg von GLL.

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