16.07.2020
Interview mit Dr. Ute Teichert: Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt COVID-19
Beate Grossmann, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
Schlagwörter:Gesundheitliche Chancengleichheit, Gesundheitsförderung, Prävention
Die COVID-19-Pandemie wirkt sich auf alle Aspekte unseres Lebens aus und hat tiefgreifende sozioökonomische Folgen für die gesamte Bevölkerung - doch besonders trifft sie die Schwächsten und Vulnerabelsten der Gesellschaft. Welche Veränderungen ergeben sich durch die Pandemie im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung? Welche Maßnahmen sind notwendig? Diese Fragen beantwortet Dr. med. Ute Teichert, Direktorin der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf und Vorstandsmitglied der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. im Interview mit Dr. Beate Grossmann und Ulrike Meyer-Funke.
Welchen Beitrag kann Gesundheitsförderung leisten, um wirksam mit der COVID-19-Pandemie umzugehen?
Die Bedeutung der Gesundheitsförderung ist auch während der Pandemie groß und kann an verschiedenen Punkten ansetzen: Bei gesundheitsfördernden Angeboten ist zu berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung voraussichtlich noch länger in einer Ausnahmesituation befinden wird. Insbesondere das Thema soziale Isolation und deren Folgen sind dabei in den Fokus zu nehmen. Soziale Isolation trifft Menschen in sehr verschiedenen Situationen und Settings.
Zu dem Thema soziale Isolation sind von dem Kompetenznetz Public Health zu COVID-19 bereits verschiedene Policy Briefs und Fact Sheets veröffentlicht worden. Sie verweisen u.a. darauf, dass die soziale Isolation nicht nur durch die mittlerweile gelockerten Kontaktbeschränkungen zustande kommt, sondern beispielsweise auch für Personen im Homeoffice ein Risiko darstellt.
Durch die Pandemie ist derzeit die Durchführung der gesundheitsfördernden Angebote oft nicht möglich.
Genau - viele gesundheitsfördernde Angebote können aufgrund von Hygiene- und Abstandsregelungen nicht in gewohnter Art und Weise durchgeführt werden, beispielsweise sind gruppenbezogene Bewegungsangebote nur in eingeschränktem Maß möglich.
Gesundheitsförderung muss sich auf die veränderten Bedingungen einstellen und hierbei zu neuen Konzepten kommen, die digitale Angebotsformen mitberücksichtigen. Neben Beratungsangeboten sind auch Online-Schulungen zum Selbstmanagement in der Krise, zur gesundheitsförderlichen Gestaltung des Homeoffice etc. mit zu berücksichtigen. Zentrale Aspekte der Gesundheitsförderung wie Teilhabe/Partizipation, Capacity Building und Empowerment spielen auch bei digitalen Angebotsformen eine wichtige Rolle.
Über COVID-19 wird viel berichtet. Jeden Tag gibt es neue Informationen. Welche Bedeutung hat die Stärkung der Gesundheitskompetenz?
Die Gesundheitsförderung kann bei der Stärkung der Gesundheitskompetenz einen wichtigen Beitrag leisten. Die Bevölkerung ist in hohem Maße verunsichert. Dazu tragen zwei Aspekte bei. Menschen werden erstmals mit empirischer Forschung live konfrontiert. Die Prinzipien des empirischen Forschungsprozesses, also Hypothese, Antithese, Synthese, und des wissenschaftlichen Arbeitens sind in der Bevölkerung verständlicherweise kaum bekannt. Dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei einer unbekannten Situation im Umgang mit einem neuartigen Virus zu unterschiedlichen Aussagen und Forschungsergebnissen kommen können, ist für die Bevölkerung nur schwer verständlich. Hier kann die Gesundheitsförderung einen Beitrag zur Steigerung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung leisten.
Zusätzlich tragen Falschnachrichten in hohem Maße zur Verunsicherung bei. Zum Umgang mit Falschnachrichten in den Medien ist ebenfalls ein Fact Sheet des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 veröffentlicht worden. Einen wesentlichen Beitrag könnte hier beispielsweise die BZgA leisten, indem sie allgemeinverständliche und Informationen in leichter Sprache zu COVID-19 und zum Sars-CoV-2 bereitstellt.
Sozioökonomische Faktoren haben Einfluss darauf, ob man an COVID-19 erkrankt und wie die Krankheit verläuft. Was heißt das für die Gesundheitsförderung?
Gesundheitsfördernde Angebote müssen insbesondere Personen in den Blick nehmen, die aufgrund ihres sozioökonomischen Status in stärkerem Maße betroffen sind. Analysen aus USA und UK zeigen, dass es einen starken sozialen Gradienten in der Ausbreitung des Sars-CoV-2 gibt und die Mortalität um ein Vielfaches höher ist als bei nicht deprivierten Personen. Eine weitere Studie aus Schottland kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
Für Deutschland liegen hierzu noch keine gesicherten Erkenntnisse vor. In einem Hintergrundpapier des Kompetenznetzes Public Health zu COVID-19 über „Indirekte Gesundheitsfolgen der aktuellen Maßnahmen zum Infektionsschutz in Deutschland“ kommen die Autorinnen und Autoren zu dem Schluss, dass auch in Deutschland diese Menschen den „höchsten Preis“ zahlen werden. Ein kaum beachteter Personenkreis sind Wohnungs- und Obdachlose. Nicht nur, dass sie kein Zuhause haben, indem sie bleiben können, auch der größte Teil der Unterstützungsstrukturen wie Tafeln, Unterkünfte und Bahnhofsmissionen ist bzw. war weggebrochen.
Gesundheitsförderung für sozial Deprivierte muss auf einer anderen Ebene ansetzen. Hier stehen strukturelle und existenzsichernde Maßnahmen in wahrsten Sinne des Wortes im Vordergrund. Das heißt, Maßnahmen müssen hier direkt auf das Überleben der Personen abzielen. (…)
Wichtig ist auch der Fokus auf Familien und deren Lebensalltag. Durch den Wegfall der Betreuung der Kinder in Kindertagestätten und Schulen konzentriert sich das Zusammenleben im Setting „Familie“. Hier müssen ad hoc viele verschiedene Anforderungen erfüllt werden. Neben der Organisation des Alltags müssen auch die Aufgaben der Schule (…) gestemmt werden. Hier könnte die Gesundheitsförderung ansetzen, um Familien in der Krise zu stärken. Zu prüfen ist etwa, in welchem Rahmen erfolgreich aufgebaute Präventionsketten ihre Arbeit wieder aufnehmen können.
Das Konzept der Gesundheitsförderung baut auf Prinzipien wie Autonomie, Empowerment, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Intersektoralität auf. Müssen wir diese Prinzipien im Lichte von COVID-19 überdenken oder neu ausrichten?
Nein, meines Erachtens müssen diese Prinzipien nicht neu ausgerichtet werden. Sie sollten nur ihre konsequente Anwendung finden. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass Akteurinnen und Akteure der Gesundheitsförderung in einer Pandemie Berührungspunkte mit der Infektionsepidemiologie haben und sich diese wiederum mit den Auswirkungen sozialer Determinanten auf Gesundheit und Krankheit auseinandersetzen muss. In diesen Bereichen müssen dann Berührungsängste abgebaut werden. Das birgt die Chance neuer Netzwerke und Konstellationen, die wir unbedingt nutzen sollten.
Gesundheit muss in allen Politikbereichen eine Rolle spielen. Der Health in All Policies-Ansatz impliziert die Verankerung bzw. Berücksichtigung gesundheitlicher Belange in allen Politikbereichen. Hierbei geht es um ein sich gegenseitig ergänzendes und nicht widerstreitendes Miteinander.
Anmerkung:
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Originalinterviews, welches mit freundlicher Genehmigung der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. veröffentlicht werden durfte.
Das vollständige Interview mit weiteren Fragen und Informationen finden Sie hier.