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01.10.2020

Interview mit Ilona Kickbusch: Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt Health in All Policies

Beate Grossmann, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

Schlagwörter:Corona, Gesundheitspolitik, Health in All Policies

Anmerkung:  
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version des Originalinterviews, welches mit freundlicher Genehmigung der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. veröffentlicht werden durfte.
Das vollständige Interview mit weiteren Fragen und Informationen finden Sie hier.

Das 5. Prä­ven­ti­onsforum, das am 23. September 2020 in Ber­lin stattfand, legte in diesem Jahr den Schwer­punkt auf „Ge­sund­heits­för­de­rung und Prä­ven­ti­on als gesamtgesellschaftliche und politikfeldübergreifende Herausforderungen“. Die welt­weit renommierte Pro­fes­so­rin im Feld der Ge­sund­heits­för­de­rung, Ilo­na Kickbusch, spricht in unserem Blogbeitrag zu Health in All Policies über die Re­le­vanz von Co-Produktionen, die internationale Be­deu­tung und Um­set­zung des Begriffes „Wellbeing“ und für wie be­deut­sam sie es erachtet, jetzt in Deutsch­land das modernste Öffentliche Ge­sund­heits­we­sen der Welt zu schaffen.

Frau Kickbusch, wir wissen seit Verabschiedung der Ottawa-Charta, also seit mehr als 30 Jahren: Gesundheit wird in den Lebenswelten der Menschen erzeugt und erhalten und ist vor allem von Faktoren abhängig, die nicht primär durch das Gesundheitssystem selbst beeinflussbar sind - weshalb „Health in All Policies“ ein wichtiger Grundsatz der Gesundheitsförderung ist. Dennoch haben sich gesundheitsfördernde Gesamtpolitiken bislang noch nicht so richtig durchsetzen können - zumindest in Deutschland nicht. Woran liegt das?

"Um dies zu be­ant­wor­ten, möchte ich zeit­lich noch et­was frü­her an­fan­gen. Die Ot­ta­wa-Char­ta hat ja ei­gent­lich „nur“ Wissen zusammengetragen, das schon sehr lange vorhanden war. In Deutsch­land hat bei­spiels­wei­se Rudolf Virchow an­läss­lich der Cholera-Epidemie in Schle­si­en ganz klar gesagt, dass es die Ar­mut und die sozialen Ungleichheiten sind, die zu den extremen Cholera-Ausbrüchen geführt haben.
Es ist al­so ein Wissen, das wir in Public Health schon sehr lange haben, das aber in der Politik nur sel­ten ernst genommen wurde und sel­ten be­wusst eingesetzt worden ist. Es war ei­ne unserer Auf­ga­ben, mit der Ot­ta­wa Char­ta ge­ra­de die­ses Public Health-Wissen wie­der in den Vordergrund zu brin­gen und zu zei­gen, was die­ses Wissen für die modernen Gesellschaften, al­so da­mals Mit­te der 1980er Jahre, bedeutet. So lautete dann auch der Un­ter­ti­tel „Towards a new public health“.
Zudem hat Health in All Policies ja zwei Dimensionen: Wenn ein Staat „gut regiert ist“, wenn es soziale Absicherung und weniger soziale Ungleichheiten gibt, dann ist von vornherein ei­ne bessere Ge­sund­heit „garantiert“. Andererseits geht es aber auch um das be­wusste Bemühen um Ge­sund­heit in mög­lichst allen Politikbereichen. Diese zwei Aspekte muss man im­mer mit­ei­nan­der verbinden. Also an­er­ken­nen, wenn in anderen Politikbereichen et­was gemacht wird, das der Ge­sund­heit dient und zum anderen proaktiv Co-Produktionen zu schaffen. [...]"

Wie gelingt die Umsetzung auf der nationalen Ebene?

"Auf nationaler Ebe­ne er­ge­ben sich zwei Anknüpfungspunkte: Zum einen gibt es die sogenannten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, die Sustainable Development Goals (SDG), die ganz klar in al­len Bereichen, auch in Be­zug auf Ge­sund­heit, ein Mo­dell entwickelt haben, mit dem Ziel, dass al­le Politikbereiche in Co-Produktion zu­sam­men­ar­bei­ten müs­sen, da­mit wir ei­ne nachhaltige Ge­sell­schaft schaffen kön­nen. Dadurch hat sich für Health in All Policies auf nationaler Ebe­ne mehr getan, wie wir in verschiedenen SDG-Analysen festgestellt haben.

Zum an­de­ren hat sich teil­wei­se un­ter ei­ner an­de­ren Ter­mi­no­lo­gie et­was getan - und das ist hier sehr wich­tig zu er­wäh­nen: Wir se­hen, dass vor al­lem im englisch-sprachigem Raum und dort, wo es ins Eng­li­sche über­setzt wird, der Be­griff Wellbeing sehr viel häufiger benutzt wird. Wir se­hen auch in der Um­set­zung von Health in All Policies, wie eingangs ge­nannt in Aus­tra­li­en oder auch aus an­de­ren Bereichen, dass der Wellbeing-Be­griff sehr viel anschlussfähiger ist.
„Health“ klingt ja häufig so: Jetzt kom­men die Ge­sund­heitsleute und wol­len so ei­ne Art Ge­sund­heitsimperialismus ein­füh­ren, wo­bei Ge­sund­heit als Wert über al­les an­de­re gestellt wird. Das Kon­zept der Ge­sund­heits­för­de­rung hat zwar im­mer wie­der be­tont, dass Ge­sund­heit als gesellschaftlicher Wert wich­tig ist, nicht aber der höchste Wert, hinter dem al­les an­de­re zurücksteht. Wellbeing scheint ein Be­griff zu sein, der sehr viel bes­ser auch in die Co-Produktion passt. So ist SDG 3 zum Bei­spiel ja auch Health and Wellbeing."

[...]

Und was können wir konkret in Deutschland tun?

"Die Bun­des­re­gie­rung hat vor Kurzem einen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst verabschiedet, der die Ge­sund­heitsämter in den nächsten Jahren auf vielen Ebe­nen stär­ken soll. Jetzt al­so muss die Ge­sund­heits­för­de­rung be­reit­ste­hen und be­nen­nen kön­nen, was Öffentliche Ge­sund­heit heißt."

Das heißt?

"Eben nicht nur  Ge­sund­heitssicherheit und Epi­de­mi­o­lo­gie. Und wenn Epi­de­mi­o­lo­gie, dann auf jeden Fall Sozialepidemiologie, so wie sie uns Michael Marmot ge­lehrt hat. Politische Öko­no­mie gehört da­zu, denn wir se­hen ja ge­ra­de bei COVID-19, wie po­li­tisch öffentliche Ge­sund­heit ist, wie sie an­ge­grif­fen wird, auf wel­che po­li­tischen Aus­ei­nan­der­set­zung­en sie vorbereitet sein muss. Und auch hier helfen be­son­ders Zahlen und Da­ten an­statt Vermutungen. Aber gleich­zei­tig muss man vermitteln kön­nen, was Zahlen über­haupt be­deu­ten - den Politikern wie auch der Be­völ­ke­rung."

Und was empfehlen Sie für die Umsetzung?

"Ich bin überzeugt, es braucht ei­nen Ausbildungsschub und die Be­ant­wor­tung der Fra­gen wie: Wer soll in den Gesundheitsämtern ar­bei­ten? Welche Art von Kom­pe­tenz benötigt das Personal? Wie beschreibt man die Auf­ga­be ei­nes Ge­sund­heits­amtes? Als ei­ne Auf­ga­be, die Health in All Policies und Wellbeing auf lokaler Ebe­ne beinhaltet? Soll das Ge­sund­heits­amt auch ei­ne Art Gesundheitstreff wer­den, wie wir es bei­spiels­wei­se bei der Ge­sun­de Städte-Bewegung ausprobiert haben? Es gibt sehr viel da drau­ßen, es gibt viele klei­ne In­iti­a­ti­ven, die ger­ne ei­nen „Haken“ hätten, an dem sie sich an­do­cken könnten.
Gerade jetzt, wo man so­zu­sa­gen durch COVID-19 die Be­deu­tung des Public Health in den Gesundheitsämtern neu entdeckt hat, jetzt ist es wich­tig, die Gesundheitsförderungs-Stimme zu er­he­ben und zu sa­gen: Erinnert euch, es gibt ei­ne Ottawa-Charta, es gibt neue Erkenntnisse, es gibt neue Evidenzen, es gibt neue Konzepte. Und jetzt schaffen wir in Deutsch­land das modernste öffentliche Gesund­heits­wesen der Welt, das aufbaut auf ei­nem Health in All Policies-, auf ei­nem Wellbeing-Ansatz und ei­nem Nachhaltigkeitsdenken.“

Auch das „Präventionsforum“ beschäftigte sich in diesem Jahr mit Prävention und Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche und politikfeldübergreifende Herausforderungen - beispielhaft diskutiert an den Schwerpunktthemen „Pflege“ und „Psychische Gesundheit“. Wie erfolgversprechend ist es aus Ihrer Sicht, mit einzelnen Schwerpunktthemen in die Umsetzung von gesundheitsfördernden Gesamtpolitiken einzusteigen?

"Ich halte das Schwer­punkt­the­ma, das ge­setzt wurde, für au­ßer­or­dent­lich be­deut­sam, auch aus der Frauenperspektive. Ein Groß­teil der pflegenden Kräfte ist weib­lich. Sie brau­chen auch zunehmend Ge­sund­heitsförderungskompetenzen, sie sind sehr viel nä­her dran an vielen der sozialen De­ter­mi­nan­ten als manch­mal die Me­di­zin und sie leiden sel­ber au­ßer­or­dent­lich un­ter dem Arbeitsdruck. Viele die­ser Be­las­tung­en so­wohl bei dem Patienten wie bei dem Betreuenden sind im Be­reich des Mental Health, der psychischen und der sozialen Ge­sund­heit. Ich halte das für ei­ne sehr wichtige Dis­kus­si­on.

Ich glaube aber auch, dass das Präventionsforum genutzt wer­den müsste, um bei­spiels­wei­se ei­ne Arbeitsgruppe einzurichten, die sich dem The­ma „New Public Health“ in Deutsch­land annimmt. Wenn jetzt diese historische Si­tu­a­ti­on ge­ge­ben ist, dass et­was, für das wir so lange gekämpft haben - bessere Aus­bil­dung, bessere Ge­sund­heitsämter, interdisziplinäres Ro­bert Koch-Institut, und so wei­ter - wahr wird, muss man ein­grei­fen. Trotz Präventionsgesetz ist ja vieles nicht geschafft worden. Jetzt aber gilt es, auf Bundes- und auf Länderebene Allianzen und Koalitionen für ei­ne neuen Öffentlichen Ge­sund­heitsdienst zu bil­den."

Die Fragen stellte Dr. Beate Grossmann, Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.

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