05.08.2020
Interview mit Thomas Altgeld: Prävention und Gesundheitsförderung - Schwerpunkt COVID-19
Interview: Prävention und Gesundheitsförderung – Schwerpunkt COVID-19
Ulrike Meyer-Funke, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V.
Schlagwörter:Corona, Gesundheitsförderung, integrierte Strategien
Gesellschaftlich Benachteiligte leiden häufiger an chronischen Erkrankungen und haben somit ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf von COVID-19. Doch welchen Einfluss hat die Pandemie auf die gesundheitlichen Ungleichheiten? Was bedeutet das für die Arbeit in den Landesvereinigungen für Gesundheit? Diese Fragen beantwortet Thomas Altgeld, Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V. im Interview mit Ulrike Meyer-Funke.
Welche Herausforderungen ergeben sich durch COVID-19-Pandemie für die Unterstützung vulnerabler Zielgruppen?
"Bevor ich zur eigentlichen Antwort auf die Frage komme, finde ich auch es wichtig zu erwähnen, dass die COVID-19-Pandemie in Deutschland auch die unmittelbare Folge einer globalisierten Wirtschaft ist. Den Virus nach Deutschland getragen haben die Mitarbeitenden von Unternehmen, Urlaubende, die nach Asien gereist sind, auf Kreuzfahrtschiffen oder im Skiurlaub unterwegs waren. Also alles Menschen, die nicht sozial benachteiligt sind. Bei den notwendigen, wahrscheinlich erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen der Pandemie ist dann schon die Verordnung, zuhause zu bleiben für die laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. etwa 650.000 Obdachlosen in diesem Land per se unerfüllbar gewesen.
Das gesamte Maßnahmenbündel inklusive des Homeschoolings ist von besser gestellten Gruppen mit einen höheren Bildungsniveau in größeren, komfortableren Wohnungen einfacher zu bewältigen gewesen. Auch hat die Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit viel mehr Berufstätige aus dem Billiglohnsektor etwa in der Gastronomie, Reinigung oder Taxigewerbe häufiger getroffen. Die Hotspots des Virus werfen aktuell auch einen erschütternden Eindruck auf die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, in der modernes Sklaventum mit Werkverträgen und Massenunterkünften gepflegt wird. Die Politik hat mit dem Verbot von Werkverträgen eine erste Schlussfolgerung aus den Missständen gezogen. Auch die anderen deutlich gewordenen Herausforderungen liegen eher auf der Ebene der Sozialpolitik als der Gesundheitsförderung. Mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen, gerechtere Entlohnung und effektive, unbürokratische Hilfen für Menschen in Notlagen haben auch unmittelbare Gesundheitseffekte. Das ist auch eine Lehre aus der Pandemie."
Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhang die Arbeit der Landesvereinigungen für Gesundheit(sförderung)?
"Die Herstellung gesundheitlicher Chancengleichheit spielte schon bei der Vereinsgründung der ältesten Landesvereinigung, nämlich der in Niedersachsen, eine zentrale Rolle. 1905 ging es da um Tuberkuloseprophylaxe in den unzumutbaren Arbeitersiedlungen in Hannover. Auch heute ist gesundheitliche Chancengleichheit das Thema, das alle Landesvereinigungen vorantreiben, deshalb sind auch dort die Koordinierungsstellen Gesundheitliche Chancengleichheit angesiedelt. Diese haben aktuell vor allem die Unterversorgungslagen von vulnerablen Bevölkerungsgruppen, etwa Obdachlosen oder Menschen mit Migrationshintergrund deutlich gemacht, Transparenz über Hilfsangebote in der Coronakrise hergestellt und Lobbyarbeit im Bereich der Landespolitik betrieben. Außerdem wurden Angebote auf die veränderten Shutdown-Rahmenbedingungen hin angepasst."
Inwiefern ändern sich, bedingt durch COVID-19, die bisherigen Ansätze zur Unterstützung vulnerabler Zielgruppen?
"Die müssen sich nicht grundsätzlich ändern. Schon jetzt entwickeln die Landesvereinigungen Angebote für vulnerable Gruppen nicht von oben herab als quasi Volksbeglückung, sondern im Dialog mit ihnen. Wir in Niedersachsen lehnen auch den Begriff der „Zielgruppe“ deshalb ab, weil immer besser gebildete und besser gestellte Bevölkerungsgruppen dann auf benachteiligte Gruppen „zielen“. Wer will schon gerne selbst eine „Zielgruppe“ von irgendwas oder irgendwem sein. Da diese Top-down-Konzepte so gut wie nie erfolgreich sind, weil sie nicht angenommen werden, wird dann zu allem Überfluss die Schuld dafür bei den Menschen selber abgeladen und sie auch noch als „schwer erreichbare Zielgruppen“ diffamiert.
Eine dialogisch orientierte Gesundheitsförderung in Lebenswelten, muss sich auch nach der Krise nicht verändern, da ist eher die Frage, über welche Kanäle der Dialog organisiert wird. Was die Pandemie aber deutlich gemacht hat, ist, wie Health-in-all-Policies möglich ist, wie ernst die Politik gesundheitliche Herausforderungen nimmt. Das weiter zu fordern, auch in Richtung mehr Verhältnisprävention bei den großen Suchtthemen wie Alkohol, Tabak, Glücksspiel und Ernährung, ist eher die Aufgabe der Landesvereinigungen als Lehre aus dem aktuellen Geschehen!"
In welchen Bereichen zeigt sich, dass mit den bisherigen Strategien zur Stärkung der Gesundheitlichen Chancengleichheit erfolgreich gearbeitet wurde und man nun, in der Pandemie, die bisherige Arbeit gezielt und effektiv fortführen kann?
"In den Lebenswelten, also in der gesundheitsfördernden Arbeit im Quartier und in der Kommune. Die Entwicklung integrierter Handlungskonzepte auf dieser Ebene in Form von Präventionsketten für nachwachsende Generationen ist zu einem zentralen Arbeitsfeld der Landesvereinigungen geworden im letzten Jahrzehnt. Diese Netzwerke vor Ort haben auch in Zeiten der Krise funktioniert. Wenn vor Ort weniger Parallelaktivitäten heterogener Akteurinnen und Akteure stattfinden und eine gemeinsame Zielstellung wie die der Stärkung des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen verfolgt werden, sind die Strukturen auch in Krisenzeiten handlungsfähig und können schnell auf veränderte Herausforderungen reagieren."
Können Sie uns dazu Beispiele nennen?
"Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist auch das vom GKV Bündnis für Gesundheit geförderte Projekt der Verzahnung von Gesundheits- und Arbeitsmarktförderung. Hier wird die gesundheitsfördernde Angebotsentwicklung für Langzeitarbeitslose in Jobcentern vorangetrieben. Die Arbeit der Jobcenter hat sich völlig verändert durch die Krise und so bitter das auch ist, sie ist jetzt kundenfreundlicher geworden, weil die ganzen Einbestellungen und das Sanktionsregime erst mal wegfallen. Anträge per Telefon zu stellen, war vorher undenkbar in diesem Kontext. Es wurden durch die Landesvereinigungen Gesundheitsförderungsangebote für Langzeitarbeitslose, die mit diesen entwickelt worden waren, digitalisiert. Die Resonanz auf die Angebote in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen beispielsweise ist gut. Wahrscheinlich ist eine Folge der Pandemie sowieso ein Digitalisierungsschub in den Behörden, aber auch in der Gesundheitsförderung. Das macht ganze neue Angebotsstrukturen möglich."
Anmerkung:
Dieses Interview durfte mit freundlicher Genehmigung der Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung e.V. veröffentlicht werden.
Den Originalbeitrag finden Sie hier.