21.03.2019
"Jeder Mensch ist wertvoll, auch ohne Job"
Wie Empowerment bei Erwerbslosen gelingt
Svenja Rostosky, Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V.
Schlagwörter:Arbeitslosigkeit, Empowerment, Erwerbslosigkeit
Empowerment bei erwerbslosen Menschen - nur für die Theorie gemacht?
Der Empowerment-Ansatz stellt ein zentrales Konzept der World Health Organization (WHO)-Vision von Gesundheitsförderung dar. Er orientiert sich an den Ressourcen eines Menschen und setzt seine Stärken und Fähigkeiten in den Fokus.
Personen sollen dazu befähigt werden, ihr Leben und ihre Gesundheit eigenverantwortlich zu gestalten und ihre Potenziale zu entfalten.
Besonders in der gesundheitsfördernden Praxis bei erwerbslosen Menschen kommt dem Empowerment deshalb eine hohe Bedeutung zu. Das Konzept ist bereits vielfach in Angebote der Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen integriert.
Dennoch kritisieren einige Praktikerinnen und Praktiker, dass das komplexe Konstrukt nicht ganz verständlich bzw. greifbar für sie ist. Vielmehr wird es häufig nur als eine allgemeine Charakterisierung von Interventionen oder als theoretischer Bezugsrahmen angesehen. Es stellt sich also die Frage, wie es konkret in der Praxis umgesetzt werden kann.
Dieser Frage wurde im Rahmen der Masterarbeit „Empowerment bei erwerbslosen Menschen - Praktische Umsetzung im Rahmen von Gesundheitsförderungsangeboten“ nachgegangen.
Vier Kursleitende aus unterschiedlichen Gesundheitsförderungsangeboten, die sich alle an erwerbslose Menschen richten, wurden hierzu anhand von qualitativen Interviews befragt.
Im Fokus der Befragung standen die Besonderheiten der Zielgruppe, notwendige Rahmenbedingungen sowie Strategien und Methoden für Empowerment. Somit ergab sich eine große Bandbreite an spannenden Informationen, aus der die zentralen Ergebnisse herausgearbeitet worden sind.
Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich fünf Empfehlungen, wie Empowerment bei Erwerbslosen in der Praxis gelingen kann. Ergänzt wurden die Ergebnisse um Erfahrungen aus dem Projekt „Gesundheit leben - Gesundheitsförderung bei Langzeitarbeitslosen in Marzahn-Hellersdorf“, in dem unter anderem näher untersucht worden ist, über welche Zugangswege erwerbslose Menschen erreicht werden können.
Wie Empowerment gelingt
1. Die Angebote müssen so vielfältig wie die Zielgruppe selbst sein
Ein Ergebnis der Untersuchungen ist, dass es die Zielgruppe erwerbsloser Menschen überhaupt nicht gibt.
Vielmehr zeigt sich in den meisten Gesundheitsförderungsangeboten für Erwerbslose eine sehr heterogene Gruppenzusammensetzung. Aus diesem Grund sollte bereits vorab überdacht werden, an wen sich die entsprechenden Angebote im Speziellen richten sollen.
- Sollen sie auf Langzeitarbeitslose, auf arbeitslose Frauen oder auf gesundheitlich eingeschränkte Erwerbslose zugeschnitten sein?
- Oder sollen sie offengehalten werden und sich an alle Menschen gleichermaßen richten, um eine Stigmatisierung zu vermeiden?
Je nach Ausrichtung können die Konzepte bereits vorab zielgruppenspezifisch angepasst werden. Von Bedeutung ist allerdings, dass die Inhalte flexibel genug bleiben, um auch in der Umsetzungsphase noch an die Vielfalt der Teilnehmenden angepasst werden zu können. Auch bei der Zielgruppenansprache muss deren Heterogenität beachtet werden. Es sollten möglichst viele verschiedene Wege unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure erfolgen und vielfältige Materialien Verwendung finden. Außerdem sollte der Zugang zu den Angeboten so niedrigschwellig wie möglich sein.
2. Versteckte Kompetenzen fördern
„Die sind verschüttet, völlig verschüttet. Und das ist die Arbeit. Bei dem einen reicht es den Staub mit dem Tuch wegzuwischen. Bei anderen reicht die Schaufel und manchmal, manchmal brauchen wir auch den Presslufthammer.“
Trotz der vorhandenen Vielfalt zeigen sich auch einige Gemeinsamkeiten.
- Erwerbslose Menschen berichten häufig von negativen Erfahrungen aus ihrem Privatleben, ihrem früheren Berufsleben oder im Zusammenhang mit ihrer Erwerbslosigkeit.
- Sie sind häufig von selbstabwertenden Gedanken geplagt, sind gesundheitlich eingeschränkt und leben zudem oft in sozialer Isolation.
Aufgrund dieser Erfahrungen werden vorhandene Kompetenzen häufig (selbst) nicht mehr erkannt. Dabei entwickelt sich meist genau aus dieser kritischen Lebenssituation heraus eine sogenannte Krisenkompetenz.
Erwerbslose Menschen werden nicht selten zur Improvisation und Anpassung gezwungen. Es entstehen eine starke Energie und ein damit verbundener Enthusiasmus, der genutzt werden kann, um sich wieder auf die oftmals versteckten Ressourcen und Stärken zu konzentrieren. Dieses Erkennen, (wieder) Bewusstmachen und Stärken verschütteter Kompetenzen stellt einen Kernpunkt des Empowerments dar.
3. Ressourcenorientierung geht nur über das Erfahren von Wertschätzung
Es ist essentiell, dass die Angebote von einem wertschätzenden Umgang sowie einer vertrauensvollen Atmosphäre geprägt sind. Erwerbslosen Menschen wurde häufig lange keine Wertschätzung mehr entgegengebracht, weshalb es umso bedeutsamer ist, ihnen in den Kursen mit Akzeptanz und Anerkennung zu begegnen. Jeder muss seinen Platz bekommen und ernst genommen werden.
„Hier ist Wertschätzung, hier ist Respekt und hier fühl ich mich angenommen.“
Durch die entgegengebrachte Wertschätzung lernen die Teilnehmenden auch sich selbst (wieder) wertzuschätzen. Nur so kann auch die Motivation, etwas verändern zu wollen, aufgebaut werden.
Zudem ist es wichtig, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und auf einen gleichberechtigten Umgang mit allen Teilnehmenden zu achten. Der Ort, an dem die Angebote stattfinden, muss als offener Ort wahrgenommen werden, an dem man seine Probleme und Gefühle besprechen und zulassen kann. Dabei müssen die Teilnehmenden jedoch selbst entscheiden dürfen, wie viel sie von sich preisgeben wollen und wo ihre Grenzen liegen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Angebote auf freiwilliger Basis stattfinden. Um zudem auf die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse einzugehen und eine Routine für die Teilnehmenden zu schaffen, sollten die Angebote möglichst flexibel gestaltbar und zudem kontinuierlich aufgebaut sein.
4. Die Teilnehmenden müssen (wieder) Teil einer Gruppe werden
„Davon bin ich eigentlich überzeugt, dass dieses miteinander Erleben und das Teilen der zentrale Punkt ist im Empowerment.“
Da die Menschen häufig aus der sozialen Isolation kommen, ist es von großer Bedeutung, sie wieder in eine Gemeinschaft einzubinden. Durch gemeinsame Aktivitäten, Gruppenarbeiten oder -gespräche oder die Gelegenheit zum Austausch kann ein Gemeinschaftsgefühl aufgebaut werden.
In den in der Masterarbeit untersuchten Kursen wurden ganz unterschiedliche Unternehmungen vorgenommen. Es wurde gemeinsam gekocht, es wurden Wanderausflüge unternommen oder gemeinschaftlich ein Garten bepflanzt. Jede dieser Aktivitäten führte zu einem stärkeren Gruppenzusammenhalt, zur Stärkung der individuellen sozialen Kompetenzen und teilweise sogar zu längerfristigen Freundschaften, die auch über die Kurse hinaus bestehen. Gemeinsam Spaß zu haben, stellt einen besonders wichtigen Punkt dar: In einem ersten Schritt muss es um Lebensfreude und das Erkennen der positiven Seiten des Lebens gehen, bevor der Blick auf Gesundheit oder Arbeit gerichtet werden kann. Es muss Motivation aufgebaut werden:
„Und das Wichtigste ist die Erkenntnis, dass es sich LOHNT, an sich zu arbeiten.“
Um die Teilnehmenden auch außerhalb der Kurse zu vernetzen, sollten auch andere Möglichkeiten zum sozialen Austausch geschaffen werden. So können die Teilnehmenden beispielsweise in verschiedene Kurse vermittelt oder andere Anlaufstellen in Kommunen aufgezeigt werden.
5. Jeden Teilnehmenden in sich selbst stärken - personale Ressourcen im Fokus
Neben den sozialen Ressourcen stehen die personalen Ressourcen im Mittelpunkt. Aus diesem Grund muss neben der Gemeinschaft auch jede einzelne Person in den Fokus genommen werden.
Die individuellen Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden müssen ernst genommen werden. Hierfür ist es essenziell, die Teilnehmenden auch in die Kurse miteinzubeziehen. Jeder sollte Fragen stellen und einbringen dürfen, was er möchte und was er sich wünscht. Es muss ein Entscheidungs- und Mitbestimmungsspielraum geschaffen werden.
„Zeigt euch, verschweigt euch nicht. Und seid auch stolz, was ihr bisher wirklich auch gestemmt habt.“
Bei der Förderung der persönlichen Ressourcen geht es um die Stärkung des Selbstbewusstseins, des Selbstwerts, die Förderung der Selbstwahrnehmung, der Selbstwirksamkeit sowie die Entwicklung eines Kompetenzbewusstseins.
Hierfür steht eine Vielfalt an Methoden zur Verfügung:
- Beobachtungsaufgaben,
- Wahrnehmungs- und Körperübungen,
- Rollenspiele, Meditationen oder "Genussinterviews".
Außerdem können diese Ressourcen durch das Stellen von Aufgaben und die Anregung zur eigenständigen Beschäftigung oder Gruppenarbeit gestärkt werden, was das Verantwortungsgefühl sich selbst sowie der Gruppe gegenüber fördert.
Ein frauenspezifischer Ansatz ist es beispielsweise, Themen wie:
- Selbstbehauptung,
- Selbstmitgefühl und
- Selbstakzeptanz
als konkrete Inhalte von Kursangeboten zu benennen und zu behandeln.
Bei allen genannten Strategien und Methoden ist es wichtig, auf eine nachhaltige Kompetenzerweiterung abzuzielen. Die Teilnehmenden sollen langfristig in ihren personalen und sozialen Ressourcen gestärkt werden, um so selbstbestimmt leben zu können. Zudem sollte, soweit möglich, das gesamte Setting, in dem die Angebote stattfinden, betrachtet werden. Finden dort zeitstabile Angebote statt, durch die die Teilnehmenden empowert werden, und sie zudem die Möglichkeit erhalten, sich an der Gestaltung der vorhandenen Bedingungen zu beteiligen, können langfristig gesundheitsfördernde Strukturen geschaffen und so wiederum die dauerhafte Kompetenzerweiterung gesichert werden.
Weiterführende Informationen
Mehr zum Thema Gesundheitsförderung bei Erwerbslosen finden Sie hier.
Mehr zum Thema Empowerment bei Erwerbslosen finden Sie hier.
Grundlage dieses Artikels waren Interviews mit verantwortlichen Kolleginnen der Angebote:
- Gruppenangebot „Von uns - für uns“ des Bürgerhauses Südspitze in Berlin-Marzahn: https://ball-ev-berlin.de/buergerhaus.php
- Gesundheitskurs für Frauen „Impulse für mehr Wohlbefinden - erwerbslos, geringverdienend, prekär beschäftigt?“ des Feministischen Frauengesundheitszentrums Berlin: www.ffgz.de/angebote/kurse
- "Selbstvermittlungscoaching": www.selbstvermittlung.org/content/e1742
- Kurs „Basis für Gesundheit“ des Vereins Zug um Zug e.V. in Köln: www.zugumzug.org/basis-fuer-gesundheit
Veranstaltungshinweis zum Thema:
ERWERBSLOS, KRANKGESCHRIEBEN, FRÜHBERENTET - WO STEHE ICH UND WAS TUT MIR GUT?
Ein Workshop für Frauen in Kooperation mit KOBRA, dem Feministischen FrauenGesundheitsZentrum e.V. und dem Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V.
Weitere Informationen finden Sie hier.