17.10.2012
Kinder- und Familienarmut in Deutschland
Raimund Geene, Berlin School of Public Health
Schlagwörter:Armut, Diskriminierung, Eltern, Empowerment, Familie, Gesundheitsbildung, Kindesentwicklung, Prävention
Der folgende Text ist ein Ausschnitt aus dem Aufsatz "Kinder- und Familienarmut in Deutschland". Den vollständigen Aufsatz können Sie hier als PDF-Dokument (389 KB) herunterladen.
Schon 1989 hat Richard Hauser den Begriff der „Infantilisierung der Armut“ geprägt (Hauser 1989), und seit Beginn der Kongressreihe zu Armut und Gesundheit 1995 sind die wachsenden sozialen und gesundheitlichen Probleme von Kindern breit thematisiert (Geene 2004). Erst in den letzten Jahren hat die Kinderarmut - bei der es ja genauer gesagt um die Armut von Familien mit Kindern, also eigentlich ‚Familiarisierung der Armut’ geht - endlich den Weg in das öffentliche Bewusstsein und auf die parteipolitische Agenda gefunden, wobei sich vor allem eine dramatische Kinderarmut im Osten Deutschlands zeigt. Doch die erfolgte Thematisierung ist durchaus ambivalent zu sehen. PISA-Schock, die schlechten Gesundheitschancen armer Kinder und die Fälle von Kindesverwahrlosung werden oft nicht als Alarmsignale einer sozial auseinander brechenden Gesellschaft diskutiert, sondern mit weiterer Verantwortungsverschiebung hin zu den Eltern beantwortet, wie schon Butterwegge et al. (2004) kritisieren und sich in den gesundheitspolitischen Strategien immer wieder ausdrückt (als Zusammenstellung: RKI/ BZgA 2008). Im folgenden Beitrag möchte ich skizzieren, in welchem kulturellen Spannungsverhältnis die Debatte steht, und Ansätze empathisch geprägter Familienförderung aufzeigen.
Gesundheitsgefahr Armut
Wenn wir uns der Frage der Kindergesundheit in Deutschland unbefangen nähern, erscheinen zunächst die Fakten: Kinder sind in Deutschland die gesündeste Bevölkerungsgruppe, und ihre Aussicht auf ein langes, gesundes Leben ist so gut wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Junge Eltern und insbesondere (werdende) Mütter können heute voller Zuversicht ihrer Familiengründung entgegen sehen. Nie zuvor war die Kinder- und Müttersterblichkeit so gering wie heute. Und nie zuvor hatten Kinder und ihre Eltern derart gewaltfreie, man könnte fast sagen: friedliche Zukunftsperspektiven.
Doch gleichzeitig sind noch nie so viele Kinder in Deutschland in Armut geboren. Wie passt die Ausgangssituation mit den gesellschaftlichen Problemen zusammen? Und was bedeutet es, wenn die soziale Lage gerade mit Begriffen wie „Unterschicht“ oder „Prekariat“ als neue Sau durchs Medien-Dorf getrieben wird?
Dahinter stehen erste Anzeichen einer gesellschaftlichen Einsicht über die Benachteiligung der Kinder, die zu Sorgen Anlass gibt. Kinder statt Job und daher Armutsrisiko oder Karrierehindernis, Übergewicht von Kindern wegen Bewegungsmangel in der autogerechten Stadt, Probleme von Gewalt und Vernachlässigung und zu guter Letzt die Bildungsmisere werden schlaglichtartig beleuchtet. Geführt wird die Debatte nicht nur in den kleiner werdenden Kreisen der Eltern und Familien, sondern auch darüber hinaus - ist sie doch auch im Interesse der kinderlosen Generation einer mutmaßlich „kinderentwöhnten Gesellschaft“ (Schirrmacher 2006), fürchtet diese doch um die eigene Rente.
Mit Maßnahmen wie dem neuen Elterngeld, besserer Kleinkindbetreuung und Bildungsförderung schon im Vorschulalter soll die Lage von Kindern und Eltern verbessert werden. Ob dies jedoch Wirkung zeigt, kann bislang nur bedingt beantwortet werden, etwa aus der Perspektive einzelner Fachdisziplinen wie der Pädagogik (die für ein Mehr an Pädagogik eintritt), der Pädiatrie (hier werden Vorsorgeuntersuchungen als Schlüssel gesehen) oder der Psychologie (die aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie argumentiert). In der Binnenlogik der Fachdisziplinen herrschen jeweils die eigenen Wertesysteme, und diese sind anbieter- und nicht nutzerzentriert. Nutzerzentriert wäre die Frage: Wie steht es um die Selbstwahrnehmung der Eltern und insbesondere auch der Kinder? Welche Interessen verfolgen sie, welche Schwerpunkte setzen sie?
Schon im Ansatz zeigt sich hier die Problematik, dass eine gebündelte Perspektive nicht nur fehlt, ihr wird sogar implizit die Berechtigung abgesprochen. Denn wie alle Fachdisziplinen ihren eigenen Gesetzen folgen, so sehen auch die kindheitsbezogenen sich selbst als Maßstab. Pädagogische, psychologische oder medizinische Anforderungen werden als Parameter der Beschreibung des Zustandes der Kinder und Jugendlichen genommen. Kinder werden noch immer kaum als selbstständige Personen wahrgenommen, sondern als zu betreuende. Solch wohlmeinender Paternalismus übersieht aber die Vielfalt kindlicher Sozialisationsprozesse und die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich dieser zu stellen. Sie geht aus von einem eher mittelständischen Blick, der die subjektiven Rationalismen von Kindern oder auch Eltern, die gerade in sozial benachteiligten Lebenslagen als unselbstständig und erziehungsunfähig diskreditiert werden, nicht zu verstehen mag.
Soziale Belastung statt sozialer Unterstützung
Das in (West-)Deutschland dominierende Bild der bürgerlichen Familie sieht die Mutter weiterhin als Betreuerin ihrer Kinder, als Nachhilfelehrerin, Chauffeurin durch die Stationen einer verinselten Kindheit und Spielanimateurin im eigenen Garten hinterm Reihenhaus. Allen Emanzipationsbestrebungen zum Trotz und ungeachtet der angedachten Frauenerwerbsförderung stagniert die Pädagogik ebenso wie Pädiatrie, Prävention oder die Kinder- und Jugendsozialarbeit bei dem antiquierten Bild. So wird die Unterstützung der Eltern für die Konzepte der Fachleute unhinterfragt vorausgesetzt. Die völlig anderen Realitäten der sozial Benachteiligten, die Mentalitäten und kulturellen Ziele sozial Benachteiligter spielen in dieser Konzeption keine Rolle. Wie junge Frauen ohne Hauptschulabschluss die Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder übernehmen, wie Mehrfachmütter in vom Sozialamt finanzierten kleinen Mietwohnungen die Botschaften zur Unfallprävention umsetzen, wie Migrant/innen ihre Ernährung auf die Optimierte Mischkost umstellen, wie die arbeitslosen Eltern die vermeintlichen Diagnosen des Kinderarztes ob der befürchteten Entwicklungsrückstände nicht als weitere Demütigung der Gesellschaft empfinden, wie junge Mütter den Spagat ihrer Identitäten zwischen jugendlichen Subkulturen und Mütterlichkeitsanspruch hinbekommen - all diese existenziellen Fragen sind noch nicht angekommen in den Programmen zur Prävention von Verwahrlosung und zur Förderung des Humankapitals.
Die bürgerliche Illusion der schönen Kindheit stößt auf ein besonderes Paradox: Gerade die Mittel- und Oberschichten, die die (ver)öffentlich(t)e Meinung repräsentieren, leiden unter dieser von Frank Schirrmacher (2006) beschriebenen „Kinderentwöhnung“. Doch gleichzeitig prägen sie die Bilder und Anforderungen einer Kindheit, der sie sich in ihren eigenen Lebenswelten bereits weitgehend entledigt haben. Den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die - wie beispielsweise türkische Familien oder auch die aus Russland ausgesiedelten - weiterhin Kinder bekommen und dies in fast unveränderter Anzahl, wird das bildungsbürgerliche Kindheitsbild hingegen übergestülpt. Diese Diskrepanz zwischen erlebter Realität und bürgerlichem Anspruch setzt nicht nur die sozial benachteiligten Eltern, sondern auch die Kinder unter enorme Spannung und ist letztendlich kaum auflösbar.
Gleichzeitig scheint Handlungsbedarf angezeigt durch die jüngsten Fälle von Kinderverwahrlosung. So sehr das gewachsene öffentliche Bewusstsein darüber zu begrüßen ist, muss gleichzeitig festgestellt werden, dass Verwahrlosung - früher sprach man von „Devianz“ - schon immer existiert hat: die Kindern und Jugendlichen zugeschriebene Abweichung des Idealbildes ist ein jahrhundertealtes Bild, ursprünglich gar davon ausgehend, dass Kinder und Jugendliche per se schlecht und verwahrlost seien, bis sie in engmaschigen Kontrollen von Heimen und Militär diszipliniert werden (Schilling 2005). Tatsächlich stellt der Kriminologe Christian Pfeiffer (2005) in seinen Studien heraus, dass Verwahrlosung nicht zunimmt, sondern sogar rückläufig ist. Grund dafür ist vor allem, dass die noch vor 30 Jahren weit verbreitete Gewalt in den Familien stark abnimmt, ausgelöst nicht durch Repression, sondern durch gesellschaftliche Lernprozesse. Doch gerade hier stellt sich dem (bürgerlichen) Westen der (proletarische) Osten als ideale Projektionsfläche - ein Klischee, das selbst ostdeutsche Politiker wie der ehemalige Brandenburgische Innenminister Schönbohm oder jüngst in der Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Böhmer all zu leichtfertig bedienen.
Bürgerlich geprägtes Versorgungssystem
Welche Unterstützung liefert das Versorgungssystem in der Phase der frühen Kindheit? Die Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt werden zunächst von den Eltern aller sozialen Schichten wahrgenommen. Während Mittel- und Oberschichten die Ratschläge des Kinderarztes zumeist gut aufnehmen und umsetzen können, fühlen sich sozial Benachteiligte vielfach nicht verstanden und akzeptiert, die Tipps und Anweisungen sind mit ihrer Lebensrealität oft nicht vereinbar (Meurer/Siegrist 2005 sowie Wolf-Kühn/Geene 2009).
Vorsorgeuntersuchungen als Pflichtmaßnahme?
Auf diesem Hintergrund befremdet es besonders, wenn sich auch Gesundheits- und Sozialforscher wie Klaus Hurrelmann für Zwangsmaßnahmen bei jungen, sozial benachteiligten Müttern aussprechen. In Anbetracht der eklatanten Qualitätsmängel der fachlichen Unterstützung - und anders ist diese Diskrepanz zwischen psychosozialem Unterstützungsbedarf und medizinischer Leistungserbringung nicht zu bewerten - reagieren Eltern wie alle kritischen Konsumenten: Sie verzichten auf die weitere Inanspruchnahme. Diese mangelnde Bereitschaft ist ihr gutes Recht und im Übrigen auch eine legitime Antwort auf ein diffuses Sammelsurium moralischer Verhaltensbotschaften und Warnungen zu Ernährung und plötzlichem Kindstod, Vitaminen und Impfungen, Prophylaxen und Therapien.
Für die Sozial- und Gesundheitsversorgung sollte es Anlass sein, die eigene Leistungserbringung rund um die zentrale, aber auch äußerst kritische Lebensphase der Geburt und des Kleinkindalters grundsätzlich in Frage zu stellen. Es bedarf noch eines langen Weges, die Leistungen den Anforderungen anzupassen - selbst die ersten Schritte auf diesem Weg sind kaum zu erkennen, denn immer wieder dominiert die ordnungspolitische Orientierung: Wird ein Verwahrlosungsfall skandalisiert, müssen politisch und administrativ Verantwortliche mitunter persönliche Konsequenzen ziehen, weil die Kontrolle versagt habe. Die systematische Unterversorgung mit präventiven Angeboten hingegen wird in Sonntagsreden beklagt, der ursächliche Zusammenhang hingegen ignoriert, die Verantwortung nicht realisiert.
Dass dies nicht allein ein bundesdeutsches Problem ist, zeigt die von Meurer und Siegrist (2005) für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erstellte internationale Überblicksstudie zu Determinanten der Inanspruchnahme. In Skandinavien und anderen Ländern ist die Versorgung inzwischen stärker auf die Problemlagen der jungen Mütter und Väter und ihrer schwierigen sozialen Situation abgestimmt, mit höherer Betreuungsdichte und lebensnäheren Unterstützungssystemen.
Projekte der frühkindlichen und familiären Stärkung
Dass es solche Unterstützungsstrukturen gibt, zeigt die Vielfalt der Projekte, die sich in der Praxisdatenbank „Gesundheitsförderung bei sozial Benachteiligten“ abbilden. Von den dort eingestellten 1.000 Projekten in ganz Deutschland sind bereits einige als so genannte „Good Practice“ identifiziert, die beispielhaft Wege der Unterstützung aufzeigen. Bereits angesprochen wurden hier die Magdeburger „Eltern-AGs“ (Armbruster/Schlabs 2009), in denen Mütter und Väter mit fachlicher Anleitung zu Selbsthilfegruppen zusammengeführt werden. Ziel ist nicht die Belehrung der Eltern, sondern vielmehr die Stärkung ihrer elterlichen Intuition. Es geht von einem positiven Elternbild aus, wissend, dass alle Eltern sich ein glückliches familiäres Zusammenleben wünschen und dabei Handlungsmuster entwickeln, die ihren sozialen Bedingungen entsprechen. Mit der Eröffnung weiterer Handlungsperspektiven durch die fachlichen Mentoren und der Knüpfung eines Netzwerkes mit anderen jungen Eltern wird diese Grundbedingung konstruktiv aufgegriffen und geformt.
Allen Projekten ist gemeinsam, dass sie unkonventionelle Wege suchen, Eltern anzusprechen und ihre Interessen aufzugreifen. Zentral dafür ist der Ansatz des Communitybuildings, mit dem überhaupt erst Möglichkeiten zur Kommunikation junger Eltern und damit erste Grundlagen für Entwicklungsprozesse geschaffen werden. Statt weiterer paternalistischer Betreuung, der sich viele junge Eltern nach Schulende und Trennung aus dem eigenen Elternhaus gerade erst entzogen haben, setzen diese Projekte auf eine Stärkung elterlichen Selbstbewusstseins und elterlicher Intuition.
Die unterschiedlichen sozialen und kulturellen Realitäten als positiven Ausgangspunkt zu setzen ist das zukunftsweisende Konzept des Diversity-Managements, das in Deutschland insgesamt noch wenig angekommen ist. Zahlreiche Beispiele aus England, Holland, Frankreich oder Belgien zeigen das Potenzial dieser Strategie, gerade auch in der sozialen und gesundheitlichen Begleitung junger Eltern. Hier versteht sich die Unterstützungsarbeit als Inklusion, also als aktives Kennenlernen der elterlichen Wünsche und Ziele.
Auch wenn eine solche Herangehensweise in Deutschland noch utopisch erscheint, sollte sie doch dazu dienen, der weiteren Entwicklung gesundheitlicher und sozialer Unterstützung junger Familien als Orientierung zu dienen - gerade auch in der schwierigen Situation des tief greifenden sozialen Wandels in Ostdeutschland.
Literaturverzeichnis
- Butterwegge, C./ Klundt, M./ Zeng, M., (2004): Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden.
- Geene, R., (2004): Armut und Gesundheit. In: Luber, E./Geene, R., (Hrsg.): Qualitätssicherung und Evidenzbasierung in der Gesundheitsförderung. Frankfurt.
- Hauser, R., (1989): Entwicklungstendenzen der Armut in der Bundesrepublik Deutschland. In: Döring, D./Hauser, R., (Hrsg.), Politische Kultur und Sozialpolitik. Frankfurt/M./New York.
- Meurer, A./Siegrist, J., (2005): Determinanten des Inanspruchnahmeverhaltens präventiver und kurativer Leistungen im Gesundheitsbereich durch Kinder und Jugendliche. Reihe Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 25. Köln.
- Pfeiffer, C., (2005): Weniger Verbrecher, mehr Panikmache. In: Die Zeit (60) 23 vom 10.11.2005, S. 9.
- RKI Robert Koch Institut/ BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.) (2008): Erkennen - Bewerten - Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Berlin.
- Schilling, J., (2005): Soziale Arbeit. Geschichte, Theorie, Profession. München.
- Schirrmacher, F., (2006): Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gesellschaft. München.
- Wolf-Kühn, N./Geene, R., (2009): Früherkennung und Frühe Hilfen. In: Geene, R./Gold, C. (Hg.): Kinderarmut und Kindergesundheit. Bern.