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17.01.2018

Kinderarmut bekämpfen

Veraltete Familienbilder überwinden

Michael David, Diakonie Deutschland; Nationale Armutskonferenz

Schlagwörter:Armut, Kinder

In Deutsch­land le­ben rund drei Millionen Kinder in Ar­mut. Zwei Millionen beziehen Hartz-IV-Leis­tung­en.

Lässt sich da­raus fol­gern, dass das Ar­mutsrisiko von Kin­dern und Fa­mi­lien all­ge­mein be­son­ders hoch ist? Tatsächlich ist die Be­dro­hung durch Ar­mut sehr un­gleich­mä­ßig verteilt. Hauptbetroffene sind Allei­nerziehende und ih­re Kinder.

Ungleiches Ar­mutsrisiko

Relative Einkom­mensarmut wird vom Statistischen Bun­des­amt mit 60 Pro­zent des mittleren Einkom­mens ei­ner Stich­pro­be ge­mes­sen. Während das durchschnittliche Ar­mutsrisiko al­ler in Deutsch­land le­benden Menschen bei 16,5 Pro­zent liegt, ist es für Allei­nerziehende und ih­re Kinder dop­pelt so hoch. 40 Pro­zent le­ben mit Hartz-IV-Leis­tung­en.

Fa­mi­lien mit zwei verheirateten Elternteilen und nicht mehr als zwei Kin­dern haben da­ge­gen ein halb so hohes Ar­mutsrisiko wie der gesellschaftliche Durch­schnitt. Leben in ei­nem Haushalt drei oder mehr Kinder, liegt das Ar­mutsrisiko über dem Durch­schnitt und steigt mit jedem weiteren Kind deut­lich an.

Fa­mi­lienförderung: Veraltete Normen

Das zeigt: of­fen­bar gilt in der Fa­mi­lienpolitik noch im­mer die gesellschaftliche Norm: wer heiratet und bis zu zwei Kinder bekommt, macht wohl al­les rich­tig. Dagegen ist Hartz IV das Auf­fang­be­cken für ei­ne verfehlte Fa­mi­lienpolitik. Wer in an­de­ren Fa­mi­liensituationen lebt, wird di­rekt und täg­lich von Ar­mut bedroht.

So ist ei­ne geschlechtsspezifische Be­nach­tei­li­gung Richt­schnur der familienpolitischen Leis­tung­en. Im Wesentlichen erfolgt die Fa­mi­lienförderung über Steuernachlässe. Und die wir­ken in der bürgerlichen Klein­fa­mi­lie am besten. Allei­nerziehende - zu 90 Pro­zent Frauen - sind da­ge­gen schlechter dran als Verheiratete oh­ne Kinder.

Und die­ses Problem setzt sich auch im Al­ter fort. Das Ar­mutsrisiko von Se­ni­o­rin­nen ist über­durch­schnitt­lich, das von Senioren un­ter­durch­schnitt­lich. Das ist Fol­ge von Tren­nung­en, Todesfällen und ei­nem Fa­mi­lienmodell, das noch im­mer ei­nen Er­näh­rer ins Zen­trum stellt.

Die Fa­mi­lienförderung wirkt dann am stärksten, wenn Frauen we­nig er­werbs­tä­tig sind. Die Spätfolgen hat nie­mand im Blick, solan­ge die Klein­fa­mi­lie noch intakt mit Er­näh­rermodell funktioniert.

Konsequenzen im All­tag

Für den All­tag von Kin­dern folgt hieraus ei­ne bittere Er­fah­rung. Fa­mi­lienmodelle, die sich veralteten Normen nicht beu­gen, füh­ren oft zu bitteren Konsequenzen für die Kinder und ih­re Fa­mi­lien.

Da sind im Bildungs- und Teilhabepaket 70 Eu­ro zu Schuljahresbeginn und 30 zum Halbjahr für Schulmaterial vorgese­hen. Mit ei­ner Stu­die hat die Di­a­ko­nie Nie­der­sach­sen nachgewiesen, dass tat­säch­lich zum Schuljahresbeginn bis zu 200 Eu­ro fäl­lig wer­den.

Für Kan­ti­nen­es­sen bei Kin­dern errechnet der Hartz-IV-Re­gel­satz Kosten von we­niger als ei­nem Eu­ro im Monat. Mel­den Eltern ih­re Kinder für die schulische Verpflegung an, müs­sen sie ei­nen Eu­ro Eigenanteil zah­len - am Tag.

Hausaufgaben sind oh­ne In­ter­net kaum zu ma­chen. Die günstigste Va­ri­an­te für ei­nen In­ter­netanschluss - ei­nen Kombianschluss mit Datenflatrate und W-Lan - se­hen die Be­rech­nung­en in der Grundsicherung aber nicht vor.

Ge­sun­de Er­näh­rung ist nicht der Maß­stab für den Re­gel­satz, Klei­dung, für die man nicht auf dem Schul­hof gehänselt wird, noch we­niger. Und: nicht einmal Fes­te sind vorgese­hen. Kon­fir­ma­ti­on, Kom­mu­ni­on oder an­de­re religiöse Feiern kom­men in den Be­rech­nung­en ge­nau­so we­nig vor wie Weih­nachts­baum und Ad­vents­kranz. Es gibt auch kei­ne einmaligen Zah­lung­en da­für.

Dafür besteht für Kinder ab dem 15. Ge­burts­tag ei­ne Re­chen­schafts­pflicht ge­gen­über dem Job-Center. Ist es schließ­lich nicht viel günstiger, die Schule abzubrechen, kein Ab­itur zu ma­chen und in ei­nen prekären Job zu ge­hen?

Was ist zu tun?

Heute hat die Fa­mi­lienförderung ei­nen um­so höheren Ef­fekt, je höher das Fa­mi­lieneinkom­men ist. Der Net­to­er­trag liegt bei mehr als 280 Eu­ro, wäh­rend al­le, die knapp über den Berechnungsgrenzen für So­zi­al­leis­tun­gen lie­gen, we­niger als 200 Eu­ro Kin­der­geld be­kom­men. Für Ehepaare kom­men zu den Kinderfreibeträgen noch Splittingvorteile da­zu.

Die So­zi­al­leis­tun­gen - Re­gel­satz, Kinderzuschlag oder Wohn­geld - glei­chen diese Ungleichgewichte nicht aus. Das Kin­der­geld wird voll angerechnet, die Sätze für Kinder un­ter 15 Jahren lie­gen un­ter­halb der Steuer-Förderbeträge.

Hinzu kommt: 40 Pro­zent der Leistungsberechtigten be­an­tra­gen gar kei­ne So­zi­al­leis­tun­gen - aus Scham, Un­wis­sen­heit oder Angst vor Kon­trol­le. Da geht es oft um ergänzende Leis­tung­en zu geringem Einkom­men und um zusätzliche Lü­cken von um die 100 Eu­ro im monatlichen Fa­mi­lieneinkom­men, die dann lie­ber in Kauf genommen wer­den. Bei den Leis­tung­en nach dem Bildungs- und Teilhabepaket ist die Nicht-Inanspruchnahme noch viel höher aus­ge­prägt. Das liegt an den kom­pli­zierten Re­ge­lung­en.

Besondern schlecht dran sind junge Mütter, die sich für ein Kind ent­schei­den, ob­wohl sie von An­fang an oh­ne Part­ner le­ben. Für sie ist die gegenseitige Verrechnung von Sozial- und Fa­mi­lienleistungen ei­ne existenzbedrohliche Fal­le.

Da muss die Ge­burt gemeldet, die Aus­stel­lung der Ge­burts­ur­kun­de abgewartet, dann Kin­der­geld und Mindestelterngeld beantragt wer­den. Das Ganze wird dann kom­pli­ziert mit dem Hartz-IV-Re­gel­satz verrechnet. Dabei kommt es oft zu Fehlern - und da wird oft et­was angerechnet, was von ei­ner an­de­ren Stel­le noch gar nicht ausgezahlt wurde. Für die Mütter mit Babys bedeutet das: Tafelbesuch vom ersten Tag an.

Soziale Mindestsicherung: drei Aspekte

Darum wol­len wir ei­ne einheitliche Mindestsicherung er­rei­chen. Das bedeutet dreierlei:

  • Zum Ersten sollte ein An­trag bei ei­ner Stel­le gestellt und ein Be­scheid erteilt wer­den. Wie Ämter un­ter­ei­nan­der So­zi­al­leis­tun­gen verrechnen, sollte die Leistungsbeziehenden nicht beinträchtigen. Sie sollen ei­ne Sum­me zu ei­nem Zeit­punkt be­kom­men.
  • Zum Zweiten muss das Exis­tenz­mi­ni­mum einheitlich ermittelt und ausgezahlt wer­den. Jedes Kind ist gleich viel wert. Darum sollte ein gleich hoher Grundbetrag jedes Kind er­rei­chen.
  • Zum Dritten muss Be­dürf­tig­keit und nicht Steuerentlastung das handlungsleitende Prinzip der Fa­mi­lienförderung wer­den. Wer ne­ben dem Grundbetrag noch Wohn­geld oder weitere ergänzende Hilfen wie für Schulmaterial, Mobilität oder Frei­zeit und Kul­tur braucht, soll diese be­kom­men - ein­fach, un­bü­ro­kra­tisch und in Höhe der tat­säch­lichen Kosten.

Rat­schlag Kinderarmut

In diesem Sinne setzt sich die Di­a­ko­nie Deutsch­land mit vielen an­de­ren Wohlfahrtsverbänden, Sozialverbänden, dem Kinderschutzbund, dem Kinderhilfswerk und weiteren Part­ner*innen mit dem „Rat­schlag Kinderarmut“ für ei­ne Neuausrichtung der Fa­mi­lienpolitik ein. Mehr als 37.000 Personen haben ei­ne Pe­ti­ti­on un­terschrieben, die wir im Wahl­kampf an die großen demokratischen Parteien über­ge­ben haben. In den Jamaika-Verhandlungen hatte sich we­nigs­tens die Einsicht durchgesetzt, dass et­was beim Schulbedarfspaket und beim schulischen Mittagessen getan wer­den muss.

Jede zukünftige Bun­des­re­gie­rung wird sich da­ran mes­sen las­sen müs­sen, ob sie in der Fa­mi­lienpolitik mit veralteten Normen und Fa­mi­lienvorstellungen weiterwurschtelt - oder die Hilfen ge­zielt da­hin bringt, wo sie am nötigsten sind.

Der Au­tor Michael Da­vid ist bei der Di­a­ko­nie Deutsch­land für das Ar­beits­feld So­zi­al­po­li­tik ge­gen Ar­mut und soziale Aus­gren­zung zu­stän­dig und Spre­cher der AG Grundsicherung der Nationalen Ar­mutskonferenz.

Sowohl die Nationale Ar­mutskonferenz als auch die Di­a­ko­nie Deutsch­land sind Mit­glied im Ko­o­pe­ra­ti­ons­ver­bund Ge­sund­heit­liche Chan­cen­gleich­heit.

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